Zweihundert noch, sagte ich mir innerlich, als ich auf dem Arc-Trainer schnaufte und keuchte und mir der salzige Schweiß dabei das Gesicht herunterlief. Noch zweihundert Kalorien. Mein zweites Training an diesem Tag dauerte bereits über eine Stunde und alles, was ich dabei tun konnte, war, meine Arme und Beine nach vorn zu drücken und nach hinten zu ziehen, wieder und immer wieder, ohne dabei von der Stelle zu kommen. Meine Augen huschten immer wieder zum Kalorienzähler auf dem Display. Zweihundert noch, dann bin ich bei 1.000 – 1.000 Kalorien, um die beiden Cheeseburger und das McSunday-Eis auszugleichen, die ich zum Mittag hatte.
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Kalorien rein, Kalorien raus – so läuft das mit dem Gewicht, oder? Das ist das, was uns die Experten immer wieder predigen. Es ist keine wirkliche Überraschung, dass viele Menschen ein gestörtes Verhältnis zum Sport entwickeln – warum sollte es falsch sein, eine ganze Pizza zu essen, solange wir alle Kalorien danach wieder verbrennen? Nun, immer mehr Untersuchungen zeigen, dass diese Einstellung ganz schnell heikel werden kann und Training zu etwas wesentlich Gefährlicherem macht. Experten haben hierfür die Begriffe „Exercise-Bulimie“ oder auch „zwanghaftes Trainieren“ geprägt und beschreiben damit das Phänomen, wenn Menschen zwanghaft versuchen, die Kalorien, die sie essen, zu verbrennen.
Was macht einen Menschen zu einem „Exercise-Bulimiker“? Kristina Saffran, Mitbegründerin des gemeinnützigen Projektes HEAL, das jungen Mädchen, die unter Essstörungen leiden, dabei hilft, eine Therapie zu finden, sagt: „Die Betroffenen tun alles, um trainieren zu können. Sie lassen dafür oft gesellschaftliche Ereignisse oder außerplanmäßige Aktivitäten ausfallen, wenn sie anders nicht ihren täglichen Lauf unterkriegen. Sie bekommen Angst oder Schuldgefühle, wenn sie nicht trainieren können oder wenn eine Trainingseinheit unerwartet zu kurz ausfällt." Der Knackpunkt ist hier die Motivation hinter all dem. Wie Saffran sagt: „Die Betroffenen trainieren in erster Linie, um ihr Gewicht zu kontrollieren oder Kalorien „auszugleichen“, die sie entweder bereits gegessen haben oder noch essen werden.“
Schon als Kind hatte ich ein gestörtes Verhältnis zum Essen. Das Verhältnis lässt sich wohl am besten als zwanghaft beschreiben. Ich wusste nicht wirklich, wie es sich anfühlt, wenn man hungrig oder satt ist. Ich habe so viel gegessen, wie ich wollte und wann ich wollte, bis ich nichts mehr runterbekam. Rückblickend habe ich das wohl getan, weil Essen zu den wenigen Dingen in meinem Leben gehörte, die mir ein gutes Gefühl verschafft haben. Ich wurde süchtig nach dem Gefühl, wie Pizza oder Brot oder Kekse mein Gehirn anfeuerten und mich vergessen ließen, wenigstens einen Moment lang, wie unglücklich ich als dickstes Kind in meiner Klasse war.
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Als ich mit 17 den Sport entdeckte, dachte ich, ich hätte Gott gefunden. Ich hatte mich gerade als schwul geoutet. Ich musste mich der Aufgabe stellen, mich mit den Augen eines potenziellen Freundes oder Sexpartners zu sehen, und war entsetzt als ich mich näher mit meinem Körperzustand auseinandersetzte.
Photographed by Danny Kim.
Entschlossen, mich zu verwandeln, entschied ich, dass es an der Zeit sei, abzunehmen. Für mich war dieser tägliche Gang ins Fitnessstudio eine angemessene Alternative zu der Beschäftigung mit meinem wahren Problem, denn ich erkannte langsam, dass ich ein beängstigendes und überwältigendes Riesenproblem mit Essen hatte. Also fing ich an, Sport zu treiben. Und zwar eine Menge.
Nachdem ich erst einmal über die anfängliche Hürde hinweg war, dass ich so beschämend außer Form war, fing ich wundersamerweise an, das Training wirklich zu lieben. Ich fand, dass ich mich durch das Einhalten einer bestimmten Routine und durch die tägliche Herausforderung, die ich mir selbst stellte, mit mir selbst wohler fühlte. Wenn ich auf dem Ellipsentrainer dahintuckerte und die Pfunde nur so schmolzen, sonnte ich mich in dem glorreichen Gefühl, etwas geschafft zu haben, das ich mir nie zugetraut hatte. Ich genoss das Gefühl, dass ich endlich etwas in meinem Leben gefunden hatte, auf das ich stolz sein konnte. Durch das Training habe ich mich immer stark gefühlt und es hat mich nicht einmal im Stich gelassen. Immer, wenn ich deprimiert oder gestresst war, ging ich auf der verzweifelten Suche nach einem Endorphinstoß und einer frischen Portion Selbstrespekt ins Fitnessstudio. Und ich fühlte mich dadurch besser. Jedes Mal. Das war wie Zauberei. In weniger als einem Jahr verlor ich 27 Kilo.
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Rückblickend erkenne ich natürlich, dass der zwanghafte Teil von mir, hierin das perfekte Ventil gefunden hat. Meine geliebten Cardiogeräte mit ihren großen Displays, die mir anzeigten, wie viele Pizzastücke mein Workout wert war, wurden zu einem Spiel, in dem ich die Chance hatte, mich jedes Mal selbst von Neuem weiter voranzutreiben. Und als mein Gewicht dann kein Thema mehr war, gerieten meine Essgewohnheiten noch mehr außer Kontrolle. Irgendwann ging es beim Training gar nicht mehr darum, dass ich mich gut fühlte – stattdessen ging ich ins Fitnessstudio, damit ich essen konnte, was ich wollte. Nicht weiter überraschend, dass ich schließlich eine Neigung zu Fressanfällen entwickelte. Irgendwie wurde das Training zu einer sehr realen Möglichkeit, mich von den Sünden, die ich am Abend zuvor begangen hatte, zu erleichtern. Zweihundert Kalorien noch auf dem Arc-Trainer, sagte ich mir, dann hast du die 2.000 Kalorien für heute erreicht. Keuch, schnauf. Schwitz. Noch mal von vorn.
Photographed by Danny Kim.
Das Bewusstsein für Essstörungen ist in den letzten Jahren enorm gewachsen, aber Exercise-Bulimie wird bisher nur mäßig Aufmerksamkeit geschenkt. Es ist zwar noch nicht als eigenständige Kategorie im DSM-5 (5. Auflage des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) aufgenommen, aber Dana Schmitt, eine Sozialarbeiterin, die auf Essstörungen spezialisiert ist, stellt fest: "Ich habe diese Form der Essstörung bei Patienten, die unter Bulimie, Anorexie und Binge-Essstörungen leiden, gesehen.“ „Es ist sogar so“, sagt sie, „dass viele meiner Klienten mit Anorexie angeben, dass sie eher trainieren als sich zu übergeben, weil sie sich so extrem vor dem Übergeben selbst ekeln.“ Saffran betont: “Zahlreiche Studien belegen, dass eine signifikante Verbindung zwischen zwanghaftem Trainieren und Essstörungen vorliegt. Einige Studien gehen davon aus, dass bis zu 38 % der Patienten zwanghaft trainieren.”
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Wenn man auch nur ein paar Minuten in irgendeinem Pro-Ana-Forum verbringt, wird einem diese Verbindung ganz klar. Eine Userin auf myproana.com erzählt von ihrer Erfahrung: „Ich war bulimisch und ich habe gekotzt und Sport gemacht und Abführmittel genommen und igitt … Ich habe es gehasst. Also habe ich mit dem Essen aufgehört, habe aufgehört zu kotzen, habe mit den Abführmitteln aufgehört … aber mit dem Trainieren kann ich nicht aufhören. Ich muss einfach jeden Tag trainieren. Ich musste etwas kürzer treten, weil ich jeden Tag acht Stunden trainierte und ich oft in Ohnmacht fiel … Seitdem war ich nur noch sechs Stunden im Fitnessstudio, aber es ist für mich immer noch kein normaler Tag, wenn ich nicht mindestens 2 Stunden da bin. Ich habe es nur nie als Bulimie angesehen. Ich meine, ich mache doch nur Sport."
Das Problem, so Saffran, ist, dass wir darauf programmiert sind, Sport als etwas rein Positives zu sehen. „Von Standpunkt der Volksgesundheit aus gesehen, ist Sport etwas Tolles und etwas, das die Mehrheit der Bevölkerung aktiver und ausgiebiger ausüben sollte. Zwanghafte Sportler hören natürlich dieselben Botschaften darüber, dass Sport das tolle Allheilmittel gegen alle Übel ist, was es schwieriger macht, diesen Sport in Frage zu stellen, wenn das Training der Betroffenen zum Zwang wird und aus dem Ruder gerät." Und Sendungen wie „The Biggest Loser“ vermitteln den Eindruck, dass man mit Sport nicht nur Gewicht verliert, sondern auch seine geistige Gesundheit und seine Beziehungen vollkommen transformieren kann. Man muss sich ja nur mal die letzte TBL-Gewinnerin, Rachel Frederickson, ansehen, die das perfekte Beispiel dafür ist, was passiert, wenn die vorherrschende Meinung so in die falsche Richtung geht.
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Photographed by Danny Kim.
Aber es ist auch so, dass wir alle dafür verantwortlich sind, dass diese Idee am Leben erhalten bleibt, Sport sei die Zauberpille zum Abnehmen – und wir müssen Sport quasi zur Buße betreiben, wenn wir etwas essen. Wir scherzen darüber: „Ich muss diesen Cheeseburger verbrennen“ oder „ich muss noch ins Fitnessstudio, ich will heute Abend Nachtisch“. Auch unsere Trainer machen Witze: „Spint schneller mit euren Beinen, ihr müsst eure Margaritas verbrennen, meine Damen.“ Irgendwann haben wir die Idee verinnerlicht, dass wir trainieren müssen, um von unseren Sünden freigesprochen zu werden. Wie könnten wir da nicht?
In den letzten Jahren allerdings hat sich bei mir irgendwie ein unbequemes Gleichgewicht eingependelt. Irgendwann ist mir klargeworden, dass meine Besessenheit mit Kalorien meinem eigenen Erfolg, meiner geistigen Gesundheit im Weg steht. Ich habe immer noch manchmal Fressanfälle und am nächsten Tag trainiere ich dann. Aber ich rechne nicht mehr alles mit mir selbst auf. Ich esse, wenn ich hungrig bin, ich höre auf damit, wenn ich voll bin.“ Kurzgesagt: Ich lebe mein Leben.
Vor ein paar Wochen bin ich durch Brooklyn gelaufen und habe mir dabei den linken Fuß gebrochen. Als ich erfuhr, dass ich sechs Wochen lang nicht auf den Beinen stehen kann, um meine täglichen Workouts zu machen, hat mich das mehr aufgeregt, als ich zugeben möchte. Ja, ich war traurig, dass mir eine der wenigen Möglichkeiten, mit denen ich Stress in meinem Leben reduzieren kann, genommen war. Aber vielmehr noch machte mich die Frage nervös, wie ich ohne mein Sicherheitsnetz auskommen würde. Würde ich fressen? Würde ich aufgehen wie ein Hefekloß? Würde ich total die Kontrolle verlieren? Tatsache ist, dass ich durch die Auszeit gezwungen war, mir mehr Gedanken darüber zu machen, wie ich meinen Körper sehe und wie ich mit Essen interagiere. Wie so viele andere bin ich ein nicht perfektes, dysfunktionales Produkt einer Kultur, die gleichermaßen unglaublich besessen vom Essen sowie vom Dünnsein ist. Und auf merkwürdige Art und Weise hat allein die Anerkennung dieser Tatsache es mir leichter gemacht, mich in diesem Spannungsfeld besser zurechtzufinden.
Während dieser Zeit ohne mein geliebtes Cardiotraining ist die Welt nicht untergegangen – und, was mich noch mehr freut, ich kann mich immer noch im Spiegel ansehen. Ich sehne mich nach wie vor danach, wieder auf den Beinen zu sein, aber jetzt geht es weniger um den Drang, Kalorien zu verbrennen, sondern mehr darum, aktiv zu sein, so gut zu sein, wie ich kann. Mir ist aufgefallen, dass ich die ganze Zeit über vergessen hatte, wie sehr ich es eigentlich geliebt habe, körperlich fit, gesund und stark zu sein – und wie stolz mich das gemacht hat. Ich freue mich schon auf den Tag, an dem ich mich wieder so fühlen kann.
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