Während meine Freund:innen freudestrahlend Lebkuchen und Weihnachtsplätzchen naschen, merken sie zufrieden an, dass das Essen das Beste an Weihnachten sei. „Nach den Feiertagen werde ich wie ein Walross aussehen“, sagt eine:r von ihnen in die Gruppe hinein. Als einzige Person in der Runde, die fülliger ist, fühle ich mich direkt angesprochen. Diese Art von Kommentar muss ich mir aber über die gesamte Weihnachtszeit hinweg anhören – zuerst wird übermäßig viel verzehrt und dann folgen Schuldgefühle und damit verbundene, nie enden wollende Gespräche über Diäten. Meine Freund:innen, Familienmitglieder und Arbeitskolleg:innen stopfen sich wie kleine Schweinchen voll und legen im Anschluss, geplagt von einem schlechtem Gewissen, den Vorsatz fest, alle Weihnachtspfunde im neuen Jahr wieder loszuwerden. Ich dagegen sitze bloß da und fürchte mich davor, mit einem echten Schwein verglichen zu werden.
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Meine Freund:innen, Familienmitglieder und Arbeitskolleg:innen stopfen sich wie kleine Schweinchen voll, während ich mich davor fürchte, mit einem echten Schwein verglichen zu werden.
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Studien zeigen, dass viele von uns an Weihnachten einen besonderen Druck verspüren, der zu Schlafstörungen führt und deine psychische Gesundheit beeinträchtigt. Das ist vor allem bei Personen mit Essstörungen der Fall. Ständig unter Leuten zu sein und dabei nonstop Speisen und Getränke angeboten zu bekommen, die man nicht wirklich ablehnen kann, ist für uns alle schon belastend genug. Wenn du aber eine korpulente Person bist, dich beim Buffet zwischen Kuchen oder Obst entscheiden musst und deine Auswahl von allen Seiten kritisch beäugt wird, bist du damit während der Festtage sogar noch stärkerem Druck ausgesetzt als die anderen.
Marie Southard-Ospina, Schriftstellerin und Redakteurin, berichtet von einem fürchterlichen Erlebnis bei einem Familientreffen, als sie gerade dabei war, sich von ihrer Magersucht zu erholen: „Ein Cousin sah, wie ich Käsekuchen und Brownies auf meinen Teller legte und nahm mir den Teller weg. ‚Dein Körper wird nie so gut aussehen wie dein Gesicht, wenn du so weiterisst‘, sagte er. Natürlich waren mir solche Kommentare nicht neu. Was mich aber an diesem Erlebnis erschütterte, war, dass meine Familie ihre Angst vor dem Dicksein (auch Fatphobia genannt) nicht zurückhalten konnte, und das, obwohl alle wussten, dass ich zu diesem Zeitpunkt mit Essstörungen kämpfte und auf dem Weg der Genesung war.“
Da dicke Frauen in meiner Familie alles andere als unüblich sind, ist es an Weihnachten bei uns zu Hause völlig normal, viel zu mampfen. Kaum erklingt am Silvesterabend aber die Glocke um Mitternacht, nehmen wir uns kollektiv vor, in den nächsten elf Monaten abzunehmen. Diese plötzliche Veränderung in unserer Einstellung zum Essen von einem Moment auf den nächsten zeigt eine Tradition auf, die tief in unserer gesellschaftlichen Diätkultur verwurzelt ist. Unseren Vorsatz, im neuen Jahr „dünn zu werden“, konnten die Frauen in meiner Familie und ich aber noch nie umsetzen. Die allgemein geltende Denkweise, dass wir ja schließlich montags immer noch auf Diät gehen können, veranschaulicht, dass Genuss zwar akzeptabel ist, aber nur, wenn du danach dafür büßt, indem du später auch ja hungerst.
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An den Feiertagen nach Hause zu fahren, wirkt sich eindeutig negativ auf meine psychische Gesundheit aus und löst extremen Selbsthass aus.
Anonym
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Eine Freundin von mir, die ebenfalls kräftiger ist und anonym bleiben möchte, sagt, sie leide sogar an Weihnachten unter dem Diätenwahn, der in unserer Gesellschaft vorherrscht. „An den Feiertagen nach Hause zu fahren, wirkt sich eindeutig negativ auf meine psychische Gesundheit aus und löst extremen Selbsthass bei mir aus“, klagt sie. „Beim Weihnachtsessen konnte ich in den vergangenen Jahren nicht so viel essen, wie ich vielleicht gewollt hätte, da mir nur eine beschränkte Portion angeboten wurde. Im Allgemeinen reichen unerbetene Kommentare der Familienmitglieder, die du vielleicht seit dem letzten Weihnachtsfest nicht mehr gesehen hast – oder das unangenehme Gefühl, mit Menschen zusammen zu sein, die dich aufgrund deines Aussehen verurteilen – aus, um die Festlichkeiten ganz ins Wasser fallen lassen zu wollen.“
All diese Probleme rund ums Essen, die Familie und Freund:innen treten natürlich nicht nur an Weihnachten auf. Ständig wird über Diäten gesprochen. Ob wir nun auf eine „Bikinifigur“ hinarbeiten sollen oder uns darüber beschweren, dass uns die kalte Jahreszeit zu einer deftigeren Ernährung verleitet – es gibt immer ein Problem damit, was wir essen und wie sich dieses Essen auf unseren Körper auswirkt. Meine Mutter beklagt sich darüber, dass sie seit einer Ewigkeit keinen Badeanzug mehr in der Öffentlichkeit an hatte. Da sie beim letzten Mal jünger war, als ich es im Moment bin, frage ich mich jetzt natürlich, ob ich in meinem nächsten Urlaub einen tragen sollte oder nicht. Währenddessen erörtert jede einzelne meiner schlanken Freundinnen, welcher Bikini denn schmeichelhafter für mich sei, mich also „dünner aussehen lässt“. Ich weiß aber, dass keine Bekleidung der Welt kaschieren kann, dass ich nun mal dick bin.
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Das Problem mit unserer Diätkultur und der gesellschaftlich weit verbreiteten Angst vor dem Dicksein verschwindet nicht einfach so mit dem Beginn einer neuen Jahreszeit, sondern nimmt bloß einen neue Form an, um Selbsthass auf andere Weise zu vermarkten. Die Weihnachtszeit ist für mich und viele dicke Menschen in dieser Hinsicht am schmerzhaftesten. „Weihnachten scheint eine Menge Widersprüche mit sich zu bringen“, sagt Southard-Ospina nachdenklich. „Einerseits dreht sich während der Feiertage alles ums Essen. Zu keinem anderen Zeitpunkt spielen Nahrungsaufnahme und Genuss eine so zentrale Rolle. Auf der anderen Seite gewinnt aber auch das Kalorienzählen und der Wunsch nach Gewichtsverlust zu Weihnachten wesentlich an Bedeutung. Auf dem Cover jeder Zeitschrift findet man eine Schlagzeile à la ‚Wie du Weihnachtsspeck verhindern kannst‘. Die Einstellung, dass vor allem dicke Menschen besonders darauf achten sollten, nicht ‚zu viel‘ zu essen, erreicht im Dezember normalerweise auch ein Allzeithoch.“
Während der Festtage kann es schnell einmal passieren, dass man sich nicht dazugehörig fühlt. Schlanken Menschen scheint es gesellschaftlich nämlich erlaubt zu sein, sich Leckereien zu gönnen, während wir dicken Frauen besonders darauf achten müssen, wie viel wir bei unserer Oma essen. Es fühlt sich so an, als sei der ganze weihnachtliche Spaß nur für schlanke Menschen gedacht. Die Bloggerin Stephanie Yeboah erzählt mir, dass „diese Zeit immer mit Schuldgefühlen verbunden zu sein scheint“.
Das Gefühl, sich aufgrund von Essen entfremdet zu fühlen, ist unter dicken Menschen keine Seltenheit. Weil während der Weihnachtszeit Essen so eine große Rolle spielt, verstärkt sich ihr Gefühl, nicht richtig dazuzugehören, nur noch mehr. Für eine dicke Person kann das Essen in der Öffentlichkeit ein fürchterliches Erlebnis sein. „Um ehrlich zu sein, ist es mir als dicke Frau immer äußerst peinlich, vor anderen zu essen“, verrät Ione Gamble, Chefredakteurin von Polyester. „Wenn ich mit meinen schlanken Freund:innen in einem Restaurant bin, überlege ich mir immer zweimal, was ich bestellen soll. Wenn ich sie die Kalorien auf der Speisekarte zählen höre, werde ich plötzlich extrem paranoid und fange an, darüber nachzudenken, wie meine Freund:innen meinen Körper wohl wahrnehmen. Diese Form von Verfolgungswahn kann so schlimm werden, dass ich letztendlich keine andere Wahl habe, als mir mein Unbehagen von der Seele zu reden.“
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„Ich wünschte, die anderen würden erkennen, dass es oft unangebracht ist, über Diäten oder Sport zu sprechen – egal in welcher Situation oder um welche Begleitung es sich handelt. Wie schön wäre es, wenn wir über Dinge sprechen könnten, die ein bisschen interessanter sind als das, was auf unsere Teller kommt.“ Gamble spricht einen ernsten Punkt an – die Diskussion über Nahrungsaufnahme oder verinnerlichte Angst vor dem Dicksein am Esstisch sollte zumindest als geschmacklos angesehen werden. Wenn wir über Essen oder unsere Körper reden – auch im Hinblick auf unsere eigenen Unsicherheiten –, ist es wichtig, Rücksicht darauf zu nehmen, wer um dich herum sitzt. Wenn sich eine schlankere Freundin über ihre dicken Oberschenkel beklagt, fange ich an, mich so sehr für meine zu schämen, dass ich am liebsten meinen Rock herunterzuziehen und so tun würde, als hätte ich gar keine.
Da Momente wie diese das ganze Jahr über auftreten und sich um Weihnachten herum verschlimmern, müssen wir dicken Frauen uns darauf vorbereiten. Wir dürfen nicht locker lassen und aufgeben. Und obwohl ein ordentlicher Schuss Bailey's im Kaffee schon ein bisschen Trost spendet, ist es auch wichtig, während der Feiertage eine (vielleicht ebenfalls korpulente) Freundin zu haben, der du schreiben, die du anrufen oder mit der du dich treffen kannst. Das wird dir dabei helfen, diese schwierige Zeit durchzustehen.
Seid solidarisch und mitfühlend. Diese freundschaftliche Unterstützung braucht ihr während der Weihnachtszeit nämlich ganz besonders. Auch wenn ihr am Ende nur zusammen jammert und weint, wisst ihr so, dass ihr euch nicht alleine mit diesem Gefühl durchschlagen müsst. Und statt einfach vor uns hin zu leiden, können wir vielleicht hoffentlich alle mal den Mut aufbringen, unsere Familie, Freund:innen und Lieben zu Diäten, ihrem Schamgefühl rund ums Essen und ihrer Angst vor dem Dicksein zur Rede stellen.
Oft erkennen diejenigen, die uns am meisten lieben, nicht, wie viel Schaden manche ihrer spontanen Bemerkungen anrichten können. Wenn sie also das nächste Mal fragen, wie viele Würstchen du denn gerade verschlungen hast, kannst du sie darauf aufmerksam machen, wie sehr dich solche Kommentare kränken. So verhinderst du auch, dass sich andere diese Art von Gerede anhören müssen. Wenn wir jedes Jahr an Weihnachten unsere persönlichen Geschichten teilen und Gesprächen, die sich um Diäten drehen, Schamgefühlen rund ums Essen und der weit verbreiteten Angst vor dem Dicksein keine Chance geben, werden wir in den kommenden Jahren die Weihnachtstage hoffentlich genießen können.