Unsere unterschiedlichen persönlichen Geschichten schaffen im Laufe der Zeit ein System von Überzeugungen, Wünschen und Ängsten. Auch wenn unsere Storys mit positiven Momenten gespickt sind, kann das Leben auch Traumata mit sich bringen.
Der Begriff „Trauma“ wird in der Regel in Bezug auf ganz bestimmte Umstände – oft die drastischsten und schmerzhaftesten, die wir uns vorstellen können – verwendet. In dem gleichen Maße, in dem unsere Ausdrucksweise – und die Einstellung zu psychischer Gesundheit und Herausforderungen im Leben, die es zu bewältigen gilt – offener und zunehmend akzeptiert wird, wird bestimmten Arten von Trauma nun auch mehr Beachtung geschenkt. Begriffe wie „Kindheitstrauma“ oder „Beziehungstrauma“ werden heute viel häufiger benutzt als früher. Was ist aber mit weniger bekannten Traumata? Diejenigen, die weniger Aufmerksamkeit erhalten oder etwas weniger beschrieben sind, aber unser Leben genauso stark beeinflussen können?
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Es ist schwer, ein Trauma zu verarbeiten, wenn wir es nicht identifizieren können, und je mehr wir versuchen, unsere Erfahrungen zu definieren, desto mehr fühlen wir uns allein. Finanzielle Traumata (FTs) zum Beispiel sind vielen von uns nicht unbedingt ein Begriff.
Zunächst ist es wichtig, zwischen finanziellen Traumata und finanziellem Stress zu unterscheiden. Für viele von uns gehören Sorgen rund ums Thema Geld einfach zum Leben dazu. Unsere Gehälter entsprechen nicht immer unserem gewünschten Lebensstil, was zu finanziellen Ängsten führen kann. Für viele Menschen kann das sehr reale emotionale und körperliche Symptome verursachen. FTs haben aber tiefere Wurzeln.
FTs sind eine dysfunktionale Reaktion auf chronischen finanziellen Stress. Die Indikatoren für FTs ähneln oft posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS). Sie manifestieren sich in mehreren Bereichen des Lebens und verhindern oft, dass sich Betroffene jemals erfolgreich, sicher oder wohl fühlen, wenn es ums Thema Geld geht. Wie lange dieser Stress anhält, hat keinen Einfluss darauf, ob es zu einem finanziellen Trauma kommt oder nicht. Außerdem werden FTs häufig von Generation zu Generation als unbewusstes Glaubenssystem weitergegeben.
„Aus der Epigenetik (der Lehre, die sich mit genetischen Veränderungen beschäftigt, die durch unser Verhalten und unsere Umwelt hervorgerufen werden können) wissen wir, dass Traumata von Generation zu Generation weitergegeben werden können, ebenso wie bestimmte Gewohnheiten und Überzeugungen in Bezug auf Finanzielles. Wenn du Großeltern hattest, die extreme finanzielle Knappheit erlebten, ist es wahrscheinlich, dass deine Eltern im Laufe der Zeit einige Bewältigungsmechanismen entwickelt haben, die sich auf deine Weltanschauung in Bezug auf Geld ausgewirkt haben könnten“, erklärt Chantel Chapman, eine Forscherin für finanzielle Traumata, Pädagogin und Mitbegründerin von The Trauma of Money Method.
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Für Chantel besteht der entscheidende Unterschied zwischen Trauma und Stress darin, dass „Stress motivierend wirken kann, wenn wir über Bewältigungsstrategien verfügen, während ein Trauma uns unsere Fähigkeit, hilfreiche Maßnahmen zu ergreifen, nehmen kann“.
Auf mein eigenes FT aufmerksam wurde ich, als ich mich während einer Therapiesitzung mit meinem eigenen Wertgefühl – oder dem Mangel daran – auseinandersetzte. Mein:e Therapeut:in forderte mich dazu auf, über Grenzen nachzudenken und darüber, welche meiner Unsicherheiten von mir selbst kamen und welche ich von meinem Umfeld – insbesondere meinen Eltern – übernommen hatte. Die Erkenntnis, dass ich das Trauma meiner Vorfahren auslebte, löste ein atemberaubendes Gemisch aus Erleichterung, Groll und Unbehagen in mir aus.
Geld kann wie eine frivole Sache erscheinen, und wie wir uns damit fühlen, lässt sich nur allzu leicht darauf zurückführen, wie viel wir davon haben, und auf die Gesellschaft, in der wir leben. Es hat eine Weile gedauert, bis ich meine Emotionen und Auslöser rund um dieses Thema wirklich im Griff hatte. Ich begann zu begreifen, dass so viele meiner Interaktionen, so viele meiner Urteile über Menschen und darüber, in wessen Nähe ich mich würdig fühlte oder nicht, mit meinem FT zusammenhingen. Bei meinem Drang, für andere einzuspringen und zu zahlen, auch wenn es nicht von mir erwartet wurde, handelte es sich nicht einfach nur um Großzügigkeit, sondern um ein Trauma.
Wenn ich mit jemandem zusammen war, von dem:der ich annahm, dass er:sie mehr Geld hatte als ich, fühlte ich mich unwohl und unwürdig. Wenn ich in der Nähe von jemandem war, von dem:der ich annahm, dass er:sie weniger hatte, spürte ich, wie mein Ego versuchte, schnell ein paar Bonuspunkte zu sammeln, um sie für eine künftige Interaktion zu bunkern, bei der ich mich weniger wert als mein Gegenüber fühlen würde.
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Es liegt auf der Hand, dass unsere Geschichte in Hinblick auf Finanzen oft ein Trauma in uns auslösen kann: Geld kann mit Sicherheit, Schutz, Status und Macht gleichgesetzt werden. Geld kann als Wertschätzung interpretiert werden und ein Mangel daran wiederum als Wertlosigkeit. In unserer Beziehung zu Geld sind so viele unbewusste Vorstellungen verankert – da ist es eigentlich keine Überraschung, dass finanzielle Traumata zwar weit verbreitet sind, aber weitgehend unbehandelt bleiben.
Wenn sich dir jetzt der Magen verdreht und das ein vertrautes Gefühl für dich in Zusammenhang mit dem Thema Geld ist, stellst du damit alles andere als eine Ausnahme dar. Eine von Payoff im Jahr 2019 durchgeführte Umfrage ergab, dass jede:r dritte Millennial unter akutem Finanzstress leidet. Aber die Auseinandersetzung mit dem eigenen – oder geerbten – Umgang mit Geld und die Aufarbeitung eines finanziellen Traumas können helfen, tägliche Ängste zu lindern.
Dadurch, dass sich die Unternehmensstrategin Lisa Johnson darum bemühte, ihr FT in den Griff zu kriegen, konnte sie ihrer Familie ein Leben in finanzieller Stabilität bieten – etwas, das sie nie für möglich gehalten hätte. Heute führt sie ein sehr erfolgreiches Unternehmen und hilft anderen Unternehmer:innen dabei, ebenfalls Erfolg zu haben.
„Als ich anfing, über meine finanzielle Vergangenheit nachzudenken, wurde mir klar, dass ich nicht glaubte, Menschen aus meiner Heimat könnten viel Geld verdienen“, erzählt Lisa. „Ich war auch überzeugt davon, dass ich so hart arbeiten müsste, um überhaupt auch nur ein wenig einzunehmen, dass ich meine Zwillingssöhne nie sehen würde. Und selbst wenn ich etwas verdienen würde, fragte ich mich, warum ich etwas so Negatives, etwas, das mich zu einem schlechten Menschen machen könnte, wollen sollte?“
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Lisas Erleuchtung ermutigte sie dazu, sich mit diesen Überzeugungen zu befassen. Sie begann, über FTs zu lesen und sich Hilfe von Finanztrainer:innen zu holen, um sich von ihren mentalen Beschränkungen in Bezug auf Geld zu befreien.
„Ich begann, positive Affirmationen zu verwenden, um meine Denkweise in Hinblick aufs Thema Finanzen zu ändern, und suchte nach Beweisen dafür, dass ich falsch lag“, fährt sie fort. „Ich versuchte zum Beispiel, Menschen aus armen Verhältnissen ausfindig zu machen, die ihre Umstände ändern konnten, und stellte Recherchen über diejenigen an, die Geld hatten und damit Erstaunliches geleistet hatten. Ich verdiene jetzt sehr viel. Das hat mein Leben verändert, aber es hat nicht verändert, wer ich wirklich bin.“
Du musst nicht unbedingt in Armut aufgewachsen sein, um ein finanzielles Trauma zu erben oder verursachen zu können. Ich bin auf jeden Fall privilegiert aufgewachsen. Armut war also nicht das Thema, sondern Beziehungsprobleme im Zusammenhang mit Geld: der Drang, anderen Menschen gefallen zu müssen, Ängste in Zusammenhang mit Finanziellem und das geerbte Gefühl, dass es sich bei der Art und Weise, wie du dein Geld verwaltetest oder wie andere es für dich verwalteten, um Akzeptanz von Kontrolle handelte.
„Unser Nervensystem kann leicht fehlreguliert werden, sodass wir [Stress] erleben. Das kann sich im Körper auf vielerlei Weise bemerkbar machen, z. B. durch Verspannungen, Müdigkeit, Angst, Gedächtnisverlust, Kopfschmerzen, und so weiter. Es kann auch das Verhalten in Bezug auf Geld verändern“, erklärt mir Chantel. „Es kann zum Beispiel zu finanzieller Vermeidung, Verleugnung, zu Budgetüberschreitungen oder einem zu geringen Einkommen führen.“
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„Wenn sich deine Reaktion auf dein FT dadurch auszeichnet, dass du anderen gefallen oder es allen immer recht machen willst, könnte es sein, dass du zu wenig Geld für deine Arbeit verlangst, Dinge für Freund:innen und Familienmitglieder bezahlst, obwohl du dir das gar nicht leisten kannst, oder nicht in der Lage bist, bei Vertragsverhandlungen Grenzen zu setzen.“
Was aber kannst du tun, um finanzielle Traumata zu bewältigen? Nun, ein FT ist wie alle anderen Traumata – es muss ans Licht gebracht werden und braucht Zeit und Raum. Es muss aufgedeckt, in Frage gestellt und gelindert werden. Das erfordert Arbeit, sehr viel Arbeit.
„Nimm wahr, was in deinem Körper passiert, und nutz diesen, um dein Nervensystem zu regulieren“, rät Chantel. „Das kannst du tun, indem du deinen Atem verlangsamst, dich in dem Raum, in dem du dich befindest, zurechtfindest und dir deiner fünf Sinne bewusst wirst und dich fragst, was du siehst, was du hörst, was du fühlst, was du riechst oder was du schmeckst. Sobald du dich ausgeglichener fühlst, kannst du deine persönliche Geschichte in Zusammenhang mit Geld erkunden. Frag dich, was die Quelle deines Traumas ist. Vielleicht stellst du dabei ja zum Beispiel fest, dass das alles mit dem Thema Wertschätzung zu tun hat. Denk darüber nach, wo du diese Verbindung zum ersten Mal hergestellt hast. Auf diese Weise kannst du dich von diesem Narrativ lösen.“
Eines Tages begann ich also, ein Tagebuch zu führen. Ich schrieb Seiten über Seiten; ich hatte viel mehr mitzuteilen, als mir bewusst war. Ich setzte mir selbst Zeitvorgaben und versuchte, zehn Minuten lang zu schreiben und mein Unterbewusstsein auf Papier zu bringen. Ich war immer wieder überrascht darüber, was dabei herauskam.
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Mit der Zeit und einige Tagebücher voller Tinte später begann sich meine Sichtweise ein wenig zu verändern. Ich kann nicht behaupten, dass ich Finanziellem gegenüber jetzt total neutral eingestellt bin, aber ich weiß, dass meine Überzeugungen in Bezug auf Geld – und die Art und Weise, wie sie unsere Lebenseinstellung beeinflussen – einen immer kleineren Teil von mir ausmachen. Ich bin mir dieser Dinge bewusst – manches kommt hoch und beruhigt sich wieder –, aber ich halte nicht mehr daran fest und lasse nicht mehr zu, dass mein Selbstwertgefühl so sehr davon bestimmt wird.
Es geht nicht darum, mehr Geld zu verdienen, und es geht auch nicht darum, dich in seiner finanziellen Lage wohlzufühlen (obwohl beides seine Berechtigung hat). Es geht darum, die Glaubenssätze zu entwirren, die dich daran hindern, in einer der beiden oben genannten Aussagen jemals Stabilität zu finden.
Wie sagte Bob Dylan doch so schön: „Mit all dem Geld, das du verdient hast, wirst du niemals deine Seele zurückkaufen können.“ Nur durch das Heilen deiner tiefsten Wunden wird dir das gelingen.
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