Zu Beginn der 2010er arbeitete Sara Bennett in New York pro bono als Rechtsanwältin für eine Frau namens Judith Clark. Clark war 1981 die Fluchtwagenfahrerin bei einem berüchtigten Überfall gewesen, bei dem drei Leute ums Leben gekommen waren. Nun saß sie für 75 Jahre bis lebenslänglich im Gefängnis – ersuchte aber um Gnade. Als Teil ihrer Verteidigungstaktik hatte Bennett Hunderte Briefe gesammelt, in denen sich Menschen für Clark aussprachen; viele von ihnen verfasst von Frauen, die einst mit ihr gemeinsam hinter Gittern gesessen hatten.
Immer wieder sprachen diese Briefe von Clarks einfühlsamem Charakter: Sie galt als Person, die andere um sich herum zu einem besseren Leben inspiriert hatte. Und irgendwann brachten diese Worte Bennett auf eine neue Idee: Sie hatte ja schon vorher versucht, ihre Klientin so menschlich wie möglich darzustellen – warum eigentlich nicht in Form von Bildern? Und so entstand ihr erstes Fotoprojekt, Spirit on the Inside, in dem sie die Frauen ablichtete, die mit Clark im Gefängnis saßen und von sich sagten, Clark habe sie nachhaltig beeinflusst.
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Die Bilder des Projekts wurden zum ersten Kapitel von Bennetts noch immer andauernden Fotoserie, in der sie die weiblichen Inhaftierten des Staates New York porträtiert. In Life After Life in Prison begleitete sie mit ihren Bildern sieben Frauen während verschiedener Stufen der Resozialisierung; in The Bedroom Project fotografierte sie Frauen in ihren Zellen. Ihr neuestes Kapitel der Reihe heißt Looking Inside: Portraits of Women Serving Life Sentences und stellt ausschließlich Frauen dar, die voraussichtlich ihr gesamtes restliches Leben hinter Gittern verbringen werden.
„Die Idee zu Looking Inside schwirrte rund 15 Jahre in meinem Kopf rum, bis ich sie endlich umsetzte“, erzählt Bennett. „Bis 2004 arbeitete ich als Strafverteidigerin. Als ich damit aufhörte, kam mir die Idee, die Geschichten einiger Frauen zu erzählen, die ich kannte und die zu lebenslänglichen Haftstrafen verurteilt worden waren. Mein Mann ist Fotograf; ich wollte, dass er die Bilder machte, während ich mich mit den Geschichten der Frauen befasste. Das Konzept änderte sich im Laufe der Zeit immer mehr. Es dauerte schließlich über ein Jahrzehnt, bis ich mir sicher war, dass ich endlich bereit war.“ Dazu schrieb sie Briefe an ein paar der Frauen, die sie im Gefängnis in Bedford Hills kannte, sowie an einige Fremde dort und in einem anderen Gefängnis. Sie fragte die Adressaten, ob sie Interesse daran hätten, teilzunehmen, und bat darum, die Idee auch anderen Frauen zu erzählen. „Es war ein langer Prozess und viele meiner Briefe wurden vom Gefängnis als ‚Schmuggelware‘ aus dem Verkehr gezogen, aber irgendwann hatte ich über 20 Frauen beisammen“, erinnert sich Bennett.
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Bennetts würdevolle Porträts, ergänzt durch handgeschriebene Nachrichten der Insassinnen, zeigen die Frauen in ihrer täglichen Umgebung und ermöglichen uns einen Einblick in ihren Alltag – wo sie ihre Tage verbringen, welche Möglichkeiten sie haben. Also sehen wir sie in Bibliotheken, Büros, Sport- und Lagerräumen. Laut Bennett muss außerdem jede Insassin ohne Schulabschluss zum Unterricht; so haben es einige der fotografierten Frauen sogar zum College-Abschluss gebracht. „Und das ist leichter gesagt als getan – sie haben immerhin kaum Zugang zu Fachliteratur und überhaupt keinen zum Internet“, erklärt sie.
Was Arbeit angeht, haben die Frau aber sehr wohl eine große Auswahl: Im Gefängnis gibt es „jeden Job, den du dir vorstellen kannst“, meint Bennett – zum Beispiel als Pförtnerin, Reinigungskraft, Klempnerin oder Bibliothekarin. Die Bezahlung ist allerdings „unterirdisch: Die Frauen bekommen 12 bis 25 Cent pro Stunde, und das, obwohl die Produkte des täglichen Bedarfs genauso teuer, wenn nicht sogar teurer, sind wie draußen“.
Vielleicht fällt dir bei diesen Bildern und Geschichten eines auf: Es fehlen jegliche Details zu den Verbrechen, die diese Frauen begangen haben sollen. Das war allerdings eine bewusste Entscheidung, sagt Bennett; sie will, dass ihr Publikum hinter diese Anschuldigungen blickt und „nicht dasselbe tut wie die Justiz, die die Leute für immer in dem Moment des Verbrechens gefangen hält“, erklärt sie. Eines möchte sie aber klarstellen: Alle Frauen auf diesen Bildern wurden des Mordes angeklagt. Das mitzuteilen, war ihr wichtig, denn weder sie noch die Frauen selbst möchten das verheimlichen.
Was Bennett während ihres Projekts am meisten überraschte, waren die tiefen Beziehungen, die sie zu fast allen porträtierten Frauen aufbaute. „Das war eine unglaubliche Erfahrung, diese Menschen nur in Form von Briefen so gut kennenzulernen. Einige von ihnen gehören zu den größten Denker:innen, die ich kenne. Wir könnten alle etwas von ihnen lernen – davon, wie sie ihre Verbrechen heute selbst sehen, und davon, wie sie dorthin gelangt sind, wo sie sind. Und wer sie sind.“
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Denn jede:r hat eine Geschichte, die es sich zu erzählen lohnt, betont Bennett und erinnert sich dabei vor allem an ein Gespräch: „Eine der Frauen sagte zu mir: ‚Wenn ich mir die Nachrichten ansehe und von Leuten höre, die Ähnliches verbrochen haben wie ich, frage ich mich, was eigentlich mit mir nicht stimmte. Dann schäme ich mich wieder. Oft sagt man mir: „Du gehörst hier gar nicht rein“, oder: „Du bist so ein guter Mensch.“ Das stört mich wirklich, denn ich weiß genau, was ich getan habe, wer ich war und wer ich heute bin. Jeden Tag wache ich auf und treffe die bewusste Entscheidung, mein bestes Selbst zu sein. Immer wieder höre ich andere sagen, sie seien „nicht mehr derselbe Mensch“ wie damals, aber dieser Mensch von damals lebt noch in mir. Ich entscheide mich aber dazu, das Richtige zu tun – das ist eine tägliche Herausforderung.’“
In den Vereinigten Staaten sitzen derzeit über 200.000 Menschen lebenslänglich in Haft. Dabei ist der Begriff der „lebenslänglichen Haft“ gar nicht so eindeutig, wie er klingt: „Ein lebenslanges Hafturteil muss nicht automatisch bedeuten, dass jemand bis zum Lebensende im Gefängnis sitzt – außer, es ist ‚lebenslänglich ohne Bewährung‘“, erklärt Bennett. „Ein Urteil von beispielsweise ‚25 Jahren bis lebenslänglich‘ heißt daher, dass jemand nach 25 Jahren womöglich Anspruch auf Bewährung hat. Oft gehen Insass:innen daher davon aus, in diesem Beispiel nach 25 Jahren entlassen zu werden. Das Bewährungssystem in New York ist allerdings so kaputt, dass diese Bewährung immer wieder abgelehnt wird – nicht wegen des Verhaltens im Gefängnis, sondern wegen des ‚Wesens des Verbrechens‘.“
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Wer sich mit Bennetts Projekt beschäftigt, stellt sich danach aber vielleicht ein paar Fragen: Wie kann jemand beweisen, bereit für eine zweite Chance zu sein – und sie auch zu verdienen? Und was, wenn diese zweite Chance unerreichbar scheint? Bennett wünscht sich schon lange, sie könnte die Realität der Langzeitinhaftierten denen zeigen, die darüber entscheiden: den Entscheidungsträger:innen des Justizvollzugs in den USA. Sie ist fest davon überzeugt, dass sie dadurch einen Unterschied machen könnte. „Ganz ehrlich, an diesem System muss sich alles ändern“, sagt sie. „Wir sollten uns als Gesellschaft fragen: Warum inhaftieren wir Leute überhaupt? Und wenn wir es tun, warum behandeln wir diese Menschen dann so unmenschlich?“
Mit ihren Fotos macht Bennett einen wichtigen Schritt in die richtige Richtung und bietet uns einen seltenen Blick in die komplexe Realität der Anpassung und Reue, die hinter den dicken Mauern der Gefängnisse dieser Welt stattfindet. „All diese Frauen versuchen, ein sinnvolles Leben zu führen und sich unser Mitgefühl zu verdienen. Sie sind so viel mehr als nur die eine Tat, die sie dorthin führte.“ Und das Mindeste, was wir hier draußen tun können, betont Bennett, ist, diesen Menschen die Chance zu geben, gehört zu werden.
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