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„Zerstört & verliebt“: Diese Fotos zeigen das Leben mit postpartaler Depression

Foto: Ying Ang
Als die australische Fotografin Ying Ang im Oktober 2017 einen Jungen zur Welt brachte, stand ihre Welt schon seit einigen Monaten Kopf. „Am Boden zerstört und völlig verliebt“, sagt sie heute über diese Zeit des frischen Mutterdaseins. Sie fühlte sich, als würde sie auf eine neue Identität zurasen – oder hineinfallen. Sie litt unter postpartaler Depression (PPD), auch als postnatale Depression, Wochenbettdepression oder Baby Blues bekannt. Als sie aber mit anderen darüber sprechen wollte, stellte sie schnell fest, dass sie ihre Erfahrung nicht vollständig in Worte fassen konnte – also griff sie zur Kamera. Aus diesen Szenen entstand schließlich ihr neuer Bilderband The Quickening
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Foto: Ying Ang
Die Fotos der Reihe sind ein wunderschönes, chaotisches Kaleidoskop aus Momenten der Zärtlichkeit und Anspannung. Sie zeigen, wie schnell die strahlendsten Minuten des Mutterseins in wahnsinnig schwierige übergehen können – und andersrum. Den Bildern wohnt eine Sanftheit inne, etwas Verträumtes, das sich anfühlt wie die Sekunden des Aufwachens, wenn alles noch ein bisschen verschwommen ist. Ang setzte ihre Kamera dabei komplett spontan und intuitiv ein, weil das Fotografieren für sie während dieser Zeit ein „vom Bauchgefühl motiviertes Bedürfnis“ war. „Die Vielseitigkeit dieser Fotos ist wie eine Tapete meiner Existenz damals: eine Kombination der jeweiligen Momente, der jeweiligen Kamera (wovon ich immer mehrere griffbereit hatte), der emotionalen Schwere der jeweiligen Situation.“
Foto: Ying Ang
Foto: Ying Ang
Über diese Erfahrung erzählt Ang: „Es war enorm verstörend, dass ich mich gar nicht mehr von meiner eigenen Erfahrung distanzieren konnte. Meine Gefühle waren wortwörtlich bewegend – in meinem Bauch. Durch die Schwangerschaft verschwommen mein Selbstgefühl und meine Identität mit meinem Körper, diesen Schmerzen und Bewegungen. Ich war an das Hier und Jetzt gekettet. Ich war dazu gezwungen, jeden Moment bewusst zu durchleben, anstatt ihn aus gesunder Entfernung betrachten zu können.“ Dabei spricht sie nicht nur von den greifbaren Veränderungen, die mit einer Schwangerschaft und dem Mutter-Werden einhergehen – deine Welt wird plötzlich kleiner, du konzentrierst dich viel mehr auf dein Zuhause, deine Tage verlaufen oft nach demselben Muster –, sondern auch von inneren Veränderungen. „Du erkennst dich innerlich selbst irgendwann nicht mehr wieder, erst ganz langsam, dann immer schneller. Die Aufgabe, diese neue Weltordnung – deine neuen Tage, neuen Nächte, deine Ernährung, deinen Schlaf, deine Liebe – zu meistern, nennt sich Matreszenz: die Entwicklung zur Mutter.“
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Dieser anthropologische Begriff fasst die komplexe Welt der körperlichen, emotionalen und psychologischen Veränderungen zusammen, die ein Mensch während dieser Entwicklung durchlebt. Die konkrete Erfahrung unterscheidet sich natürlich von Person zu Person – für Ang, gefangen in der brutalen Realität der postpartalen Depression, fühlte sie sich wie ein „plötzlicher Erdrutsch“ an, aus dessen Chaos und Verwüstung sie daraufhin versuchen musste, ihre Welt neu zu errichten.
Foto: Ying Ang
Ang wurde 1980 geboren und wuchs an der australischen Goldküste auf. „Ich fühlte mich dort immer wie eine Außenseiterin – ein Gefühl, das ich irgendwann verinnerlichte und wovon ich mich hinter der Kameralinse tröstete. Ich wurde zur Beobachterin“, sagt sie. „Ich hielt die Welt immer auf Abstand, scheute mich vor Beziehungen und einem stabilen Zuhause. Meinen ersten großen Bildband, Gold Coast, fotografierte ich genau so: mit kühlem Kopf, kalkuliert. Ein Baby zu bekommen, änderte das alles.“
In Gold Coast setzte sich Ang mit der Kultur der Kriminalität und Korruption hinter der perfekten Fassade ihrer Heimatstadt auseinander. „Ein sonniger Ort für zwielichtige Menschen“, fasste die Presse den Bildband damals zusammen. Das Buch gewann Preise und war das letzte große Projekt, bevor Ang ihr Kind bekam. Und obwohl natürlich all ihre Werke in gewisser Hinsicht autobiografisch sind, ist The Quickening etwas deutlich Persönlicheres. Ang hatte zwar schon vorher private Bilder gemacht, und auch Gold Coast beinhaltete eine Art Selbstporträt – ein Foto aus einem Zeitungsartikel, in dem sie als Zeugin für einen doppelten Mord abgebildet wurde –, doch ließ sie für The Quickening zum ersten Mal zu, dass man sie, und sie sich selbst, wirklich sah. 
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Foto: Ying Ang
Foto: Ying Ang
Eines der eindrucksvollsten Bilder aus dem Projekt ist eine Nahaufnahme ihrer Brust, in der sich das Baby mit einer geballten Faust an Angs Goldketten  klammert. „Das war das erste Mal, dass mir auffiel, wie mein Baby nach allem griff, was gerade in Reichweite war… meinem Haar, meinen Klamotten, meiner Kette, meiner Brille. Er hing wortwörtlich an mir, wie ein ständiges Anhängsel. Ich habe irgendwo gelesen, dass Babys noch nicht verstehen, dass sie ein eigenständiges Wesen sind und sogar manche Körperfunktionen wie den Herzschlag oder den Atemrhythmus auf ihre Mutter abstimmen.“ Ein weiteres Bild, das ihr besonders am Herzen liegt, zeigt Ang beim Stillen, aufgenommen vom Babyfon-Bildschirm im Kinderzimmer. Auf dem verpixelten Schwarzweißfoto wirken Ang und ihr Sohn wie ein verschweißtes Wesen. „Ich habe während seines ersten Lebensjahres so viel Zeit in diesem Sessel verbracht, im Dunkeln, und fühlte mich hilflos, verzweifelt und unsichtbar“, erinnert sie sich heute.
Foto: Ying Ang
Foto: Ying Ang
The Quickening ist übrigens eine alte englische Bezeichnung für die ersten gefühlten Bewegungen eines Fötus in einer Schwangerschaft. „Vor der Erfindung des Ultraschalls bestätigte diese Bewegung eine Schwangerschaft“, erklärt Ang. „Das Wort bedeutet außerdem ‚Beschleunigung‘ – eine schnelle Bewegung und die Gefühle, die damit einhergehen: der Rausch, die Atemlosigkeit, vielleicht auch das Wissen, etwas zurückzulassen und einen neuen Ort zu erreichen. Die Geburt meines Sohnes brachte mich an einen neuen Ort, wo – wie durch einen Erdrutsch – der Boden unter meinen Füßen gefährlich nachgab und ganz plötzlich eine neue Welt formte. So fühlte es sich für mich an, gleichzeitig depressiv und Mutter zu sein. Zwei Kontinentalplatten stießen aufeinander und gaben unter einem uralten Druck nach, der so unerbittlich war wie die Anziehungskraft der Sonne. Das zu durchleben, kam mir unmöglich vor – aber eben auch unumgänglich. Unendliche Angst kollidierte mit überwältigender Liebe.“
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Foto: Ying Ang
Ang will mit ihrer Bilderreihe eine ganz bestimmte Geschichte erzählen. „Ich will damit gezielt auf etwas hinweisen“, sagt sie, „auf eine finsterere, einsamerere Erfahrung als das Bild des Mutterdaseins, das in der Öffentlichkeit normalerweise gezeichnet wird. Meine Schwierigkeiten als Elternteil eines Babys erwischten mich eiskalt, und ich war unfassbar wütend darüber, wie verfälscht diese Lebensumstellung in den Künsten, der Medizin und den Medien dargestellt wird. Gleichzeitig war ich wütend über meine eigenen Bedenken, dieses Projekt überhaupt zu starten – darüber, dass ich mich fragte, ob eine allgegenwärtige Erfahrung wie das Mutterdasein in der Kunstszene ernst genug genommen würde, um als wichtig erachtet zu werden. Das schiebe ich hundertprozentig auf das Patriarchat, auf die Gender-Politik in der Medizin und die damit einhergehenden Vorurteile, die dazu führen, dass frauenspezifische Probleme nicht genug erforscht werden. Obwohl das Mutterdasein für die Menschheit überlebenswichtig ist, spielen die Geschichtsschreiber:innen und Gatekeeper der Kunstszene den Ernst dieser Erfahrung runter.“
Foto: Ying Ang
Foto: Ying Ang
Aus ihrem Werk – und der Erfahrung selbst – hat Ang aber viel gelernt. „Das Erlebnis des Mutterseins ist unheimlich vielseitig“, sagt sie, und es vereint trotz seiner Vielseitigkeit eben auch unheimlich viele Menschen miteinander. „Durch die zahlreichen verschiedenen kulturellen Hintergründe aller Mütter, die allesamt die Mastreszenz durchleben, ist jede persönliche Erfahrung völlig individuell – aber eben doch in gewisser Hinsicht dieselbe. Außerdem habe ich gelernt, dass die patriarchalischen Werte, die unsere medizinischen und sozialen Strukturen noch immer durchziehen, endlich abgeschafft werden müssen. Nur so können wir Müttern das nötige Verständnis und die entsprechende Unterstützung entgegenbringen, um die furchtbaren Statistiken zu PPD positiv zu beeinflussen. Eine von fünf Frauen durchlebt diese Depression, und neben kardiovaskulären Komplikationen ist sie der Hauptgrund für den mütterlichen Tod.“ Über die wahren Konsequenzen der postpartalen Depression wird noch immer nicht genug gesprochen. Angs Projekt soll denen von uns, die sie selbst (noch) nicht durchlebt haben, dabei helfen, zu verstehen, wie PPD aussieht und sich anfühlt. Deine Identität verändert sich mit der Geburt deines Kindes – und die psychologischen, gesellschaftlichen und körperlichen Folgen davon sollten nicht nur im Privaten sichtbar sein.
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