Seit 2006 reist Irina Werning bereits durch Argentinien und sucht nach Frauen mit langen Haaren, die sie fotografieren kann. Von großen Städten wie Buenos Aires und Córdoba bis hin zu kleineren Gemeinden im ländlichen Norden des Landes veranstaltet sie “Langhaarwettbewerbe“, um Personen für ihr Projekt Dear Long Hair zu finden. Es ist nicht immer einfach, sagt sie, aber durch lokale Facebook-Gruppen, Kleinanzeigen und Flyer konnte sie schon einige Frauen unterschiedlichen Alters und mit verschiedenen Backgrounds finden.
Alles begann als sie an einem anderen Projekt arbeitete. „2006 habe ich das Ian-Parry-Stipendium der The Sunday Times gewonnen und wurde für einen Auftrag nach Argentinien geschickt. Ich sollte ländliche Schulen fotografieren, die mitten in den Bergen waren“, erklärt sie. „Das sind winzige Schulen mit nur 10 oder 20 Schüler*innen. Die Lehrer*innen müssen oft drei Stunden laufen, um hin zu kommen, weshalb viele oft mehrere Tage vor Ort bleiben.“
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Ein Jahr lang ging Irina von Schule zu Schule und dokumentierte das tägliche Leben. Immer wieder lernte sie Schülerinnen kennen, die ihre Haare anscheinend noch nie schneiden lassen haben. Sie erinnert sich noch an das erste Bild, das sie gemacht hat, bei dem die langen Haare im Mittelpunkt standen: Drei Mädchen liegen in Doppelstockbetten und lesen; ihre Haare hängen über den Bettkanten. „Ich unterhielt mich mit ihnen und begann zu realisieren, dass lange Haare in Argentinien, dem Land, in dem auch ich geboren wurde, eine Sache der Kultur sind. Unsere Vorfahren glaubten, Haare wären Ausdruck von dem, was wir in uns tragen. Sie zu schneiden wäre, als würde man die Gedanken oder die Lebenslinie einer Person durchtrennen. Als würden sie das Ende oder den Tod repräsentieren.“
Diese Tradition geht weit über die Grenzen dieser einen bestimmten Community hinaus – es gibt sie im ganzen Land und auch in anderen lateinamerikanischen Ländern. „Ich wurde neugierig und wollte herausfinden, warum genau es für die Frauen in Argentinien so wichtig war, lange Haare zu haben. Also fragte ich alle, die ich fotografierte. Wie sich herausstellte, gibt es nicht nur einen bestimmten Grund, sondern sehr viele persönliche, die meist etwas mit der Familie oder der Gemeinde zu tun haben. Die Frauen erzählten mir oft, sie haben lange Haare, weil ihre Mütter und Großmütter ebenfalls lange Haare hatten. Oder weil sich ihr Vater darum kümmert und es für sie wäscht. Weil er das auch schon für seine Mutter oder Schwester gemacht hat und es ein schönes Ritual ist. Es ist die Art Tradition, die niemand hinterfragt, weil es sich normal anfühlt und Teil des eigenen Lebens ist.“
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Die Pflege langer Haare ist harte Arbeit, ergänzt sie, und viele Menschen, die sie getroffen hat, haben kein Geld für teure Beauty-Produkte. Sie glauben an die Kraft der Pflanzen und verwenden oft sehr alte Rezepte – wie Rosmarin in Wasser zu kochen und dann damit die Haare zu waschen.
Wernings Fotos sind das Ergebnis simpler, ausgelassener Porträt-Sessions, die meist in der Natur stattfanden. Manche Bilder sind schwarz-weiß, andere bunt – je nach Kontext. „Ich habe mir vor jedem Shooting Zeit genommen, die Frauen kennenzulernen. Deswegen hat das Setting oft einen Bezug zu ihren persönlichen Erlebnissen.“
Es lief ungefähr so ab, dass Irina und die Teilnehmerinnen ihres Projekts durch die Gegend spazierten und verschiedene Orte als Hintergrund für die Fotos ausprobierten. Sie zeigt auf ein Foto mit einem jungen Mädchen, das zwischen riesengroßen Kakteen steht: „Dieses Mädchen habe ich gefunden, in dem ich Anzeigenblätter in Kleinstädten verteilt habe. Der Ort, an dem sie lebt, ist dafür bekannt, Millionen von Kakteen zu haben. Also war es sofort klar, dass die Pflanzen mit aufs Foto müssen.“
Auf einem anderen Bild stehen ein Duzend Mädchen nebeneinander in einer Reihe im Gras in Paragonien, im Gebirge Nahe der Chilenischen Grenze. „Ich hatte einen Wettbewerb organisiert und gesagt, alle, die teilnehmen wollen sollen mich bei Sonnenuntergang an einem bestimmten Ort treffen. Ich dachte, vielleicht würden drei oder vier Leute auftauchen, aber am Ende waren es 25 Mädchen! Sie passten leider nicht alle auf ein Bild. Das Licht war perfekt, die Location war perfekt und die Haare sahen fantastisch aus.“
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Werning wurde in Buenos Aires geboren und verbrachte dort auch die ersten Jahre ihres Lebens. Dann zog sie mit ihrer Familie nach Chicago und lebte dort achte Jahre lang. Erst als junge Frau kehrte sie nach Buenos Aires zurück. Sie studierte Wirtschaftswissenschaften, zog aber anschließend wieder weg – nach London. Dort arbeitet sie zunächst im Bereich Soziologie, bevor sie den Fotojournalismus für sich entdeckte. Anschließend verbrachte sie viele Jahre als Backpacker in Asien und den Nahen Osten und realisierte, sie will die Geschichten der Menschen, die sie auf ihren Reisen trifft erzählen. Mittlerweile ist sie wieder in Buenos Aires gelandet.
Durch den zeitlichen und räumlichen Abstand und die Erfahrungen, die sie über die Jahre gemacht hat, sieht sie ihr Zuhause jetzt in einem ganz neuen Licht. „Im Ausland zu leben hilft dir dabei, mehr über deine eigene Kultur zu lernen, denn wir nehmen bestimmte Dinge für gegeben und komplett normal hin. Doch wenn du siehst, dass sie an anderen Orten nicht die Norm sind, fängst du an, zu verstehen, sie sind ein besonderer Teil deiner Geschichte, deines Landes. Bei Dear Long Hair geht es um Identität – sowohl die der Gemeinschaft als auch die der Individuen. Und deswegen komme ich auch immer wieder darauf zurück.“
Es ist 13 Jahre her, seit Irina das Projekt begonnen hat und sie glaubt nicht, dass sie es in nächster Zeit abschließen wird. „Solange ich Frauen mit langen Haaren finde, werde ich weiter fotografieren.“
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