2020 war die Zahl der Opfer von häuslicher Gewalt in Deutschland erneut auf einem hohem Niveau. Die Gewaltdelikte in Beziehungen sollen im Vergleich zum Vorjahr leicht gestiegen sein. Insgesamt wurden fast 142.000 solcher Taten polizeilich erfasst, was einen einprozentigen Anstieg zu 2019 darstellt. Diese Zunahme dürfte mit dem Ausbruch der Pandemie und den damit verbundenen Lockdowns zusammenzuhängen: Da wir alle aufgrund der Corona-Sicherheitsmaßnahmen zu Hause festsitzen, verschärfen sich bereits vorhandene Spannungen und somit auch das Risiko, Opfer von häuslicher Gewalt zu werden. Mit jemandem befreundet zu sein, der:die sich einer missbräuchlichen Beziehung befindet, kann sowohl ganz schön furchterregend als auch frustrierend sein, weil man oft nicht weiß, wie man sich am besten verhalten soll, um zu helfen.
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Wir haben uns an Angela Lee gewandt. Sie ist Leiterin von loveisrespect, einem Projekt, das es sich zum Ziel gesetzt hat, junge Menschen in missbräuchlichen Beziehungen zu unterstützen. Sie hebt hervor, dass Missbrauch in vielen verschiedenen Formen auftreten kann – körperlich, emotional, verbal. Keine zwei missbräuchlichen Partnerschaften ähneln einander. Deshalb gibt es auch keine pauschalen Strategien, die auf alle Situationen anwendbar sind und immer funktionieren. Sie teilte aber einige allgemeine Ratschläge mit uns, wie man für Freund:innen da sein kann, die (vermutlich) von häuslicher Gewalt betroffen sind.
Achte auf Warnzeichen
Lee betont, dass Missbrauch sehr viele unterschiedliche Erscheinungsformen annehmen kann und sich von Fall zu Fall auf verschiedene Weise bemerkbar macht. Sie weist aber auf einige häufige Warnzeichen hin: wenn deine Freund:innen unaufhörlich Unmengen von Benachrichtigungen und Anrufen von ihren Partner:innen erhalten; wenn sich ihr Verhalten oder ihre Stimmung ändert; wenn sie nervös rüberkommen; wenn es wirklich schwierig ist, mit ihnen in Kontakt zu treten; wenn ihre Partner:innen ihnen häufig die Schuld für Streitigkeiten oder Situationen zuschieben.
Grundsätzlich gilt: Wenn sich deine Freund:innen auffällig anders verhalten oder du einfach spüren kannst, dass etwas nicht stimmt, könnte das bedeuten, dass es an der Zeit für ein klärendes Gespräch mit ihnen ist.
Sorg dafür, dass sich deine Freund:innen bei dir sicher fühlen
Wenn du den Verdacht hast, dass deine Freund:innen Opfer von häuslicher Gewalt sind, ist der größte Fehler, den du machen kannst, kein Wort darüber zu verlieren, sagt Lee. Wie du eine helfende Hand reichen kannst, hängt jedoch von deinen Freund:innen und deiner Beziehung zu ihnen ab, fügt sie hinzu. Im Allgemeinen kannst du das Gespräch vorsichtig mit einer weniger explosiven Frage beginnen. Du kannst also zum Beispiel fragen, wie denn die Dinge mit ihren Partner:innen laufen, wie diese reagieren, wenn eine Situation eskaliert, oder ob sie irgendwelche Sorgen quälen. „Du solltest sicherstellen, dass sich die Betroffenen in deiner Gegenwart gut aufgehoben fühlen und das Gefühl haben, sich alles von der Seele reden zu können“, erklärt Lee. Sie weist darauf hin, dass sich Opfer von Missbrauch möglicherweise schämen und/oder Angst davor haben, verurteilt zu werden. Daher sollte es eines deiner Hauptziele sein, eine beruhigende und liebevolle Atmosphäre während dieser wichtigen Konversation zu schaffen.
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Leg während dieses Gesprächs Wert darauf, dass sich dein Gegenüber unterstützt fühlt. „Wenn sich deine Freund:innen ihre Gefühle und Reaktionen vor Augen führen, solltest du diese normalisieren und auf sie aufmerksam machen, wenn nötig“, erklärt sie. „Wenn jemand sagt: ‚Ich habe es so satt, pausenlos beschuldigt zu werden, fremdzugehen‘, kannst du diesem Verhalten eine Bezeichnung geben und sagen: ‚Das könnte ein Fall von emotionalem oder verbalem Missbrauch sein.‘“
Vergewissere dich, dass du fragst, wie du von Hilfe sein kannst, meint Lee. „Es ist in Ordnung, hervorzuheben, dass es deine Freund:innen verdienen, mit Respekt behandelt zu werden. Gib ihnen aber auch auf jeden Fall die Möglichkeit, urteilsfrei über alles sprechen zu können.“
Zieh Expert:innen zu Rate
Obwohl du ohne Frage alles für Freund:innen in Not tun würdest, kann es in dieser Situation hilfreich – oder sogar lebensrettend – sein, Expert:innen um Unterstützung zu bitten. „Oftmals ist man sich nicht sicher, ob es sich tatsächlich um Missbrauch handelt“, sagt Lee. „Das hören wir sehr oft. Deshalb ist es immer ratsam, sich an Expert:innen zu wenden, denn diese können dir dabei behilflich sein, das mit größerer Sicherheit festzustellen.“ Wenn du nicht weißt, wo du anfangen sollst, kannst du die professionelle Unterstützung von unterschiedlichen Kontaktstellen und Einrichtungen, die sich auf häusliche Gewalt spezialisiert haben, in Anspruch nehmen, um herauszufinden, wie du am besten Hilfe leisten kannst.
Wenn deine Freund:innen nicht mit dir über ihre Beziehung sprechen wollen oder sich dagegen wehren – was Lee zufolge häufig vorkommt –, solltest du nichts erzwingen. Stattdessen kannst du auf Anlaufstellen, wie das Hilfetelefon zum Beispiel, verweisen. „Wir wissen, welche Fragen zu stellen sind, und besprechen gemeinsam mit den Missbrauchsopfern nächste Schritte und erarbeiten Schutzkonzepte“, erklärt sie. „Wir wollen sicherstellen, dass die emotionale und körperliche Sicherheit der Betroffenen oberste Priorität hat.“
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Stell ihre Sicherheit an erster Stelle
Abgesehen davon, deine Freund:innen bei der ersten Kontaktaufnahme mit einer Beratungseinrichtung zu unterstützen, ist es sehr wichtig, ihnen dabei zu helfen, einen Sicherheitsplan zu erstellen, sagt Lee. „Du musst in der Lage sein, einzuschätzen, ob sie sich in Sicherheit befinden oder bedroht wurden“, erklärt sie. Du kannst zum Beispiel Kopien von wichtigen Dokumenten deiner Freund:innen aufbewahren, für den Fall, dass sie ihr Zuhause fluchtartig verlassen müssen. Außerdem kannst du dir Code-Wörter ausdenken, um so ohne das Wissen der Täter:innen über einen Zwischenfall sprechen zu können, schlägt Lee vor. Du kannst dich auch nützlich machen, indem du missbräuchliche Vorfälle dokumentierst.
Du kannst die Betroffenen auch fragen, wie du ihnen zufolge in Krisenmomenten reagieren sollst: Ist es okay für sie, wenn du in einer solchen Situation ein Familienmitglied kontaktierst? Sind sie damit einverstanden, dass du im Notfall die Polizei anrufst? „Wenn sie offen dafür sind, kannst du sie dazu ermutigen, nach einer Erstberatung auch von Weitervermittlungsangeboten Gebrauch zu machen“, sagt Lee.
Sei geduldig
Obwohl du es vielleicht gerne möchtest, kannst du deine Freund:innen nicht dazu zwingen, ihre Partner:innen zu verlassen, bevor sie selbst zu diesem Schritt bereit sind. „Das Wichtigste ist, nicht zu versuchen, andere unter Druck zu setzen und sie dazu bringen zu wollen, etwas zu tun, was sie nicht tun möchten. Hier ist Vorsicht geboten, denn du willst die Betroffenen ja schließlich dazu befähigen, die richtigen Entscheidungen für sich selbst zu treffen“, sagt Lee. „Du solltest anderen nicht sagen, was sie zu tun haben. Außerdem solltest du Opfern von häuslicher Gewalt nicht die Schuld für ihre missliche Situation geben. Wenn sie sich dir anvertrauen und dich darum bitten, ihr Vertrauen nicht zu missbrauchen, solltest du auf jeden Fall versuchen, ihren Wunsch zu respektieren.“
Versuch, unterstützend zu sein, geduldig zuzuhören und die Entscheidungen der Betroffenen zu respektieren. „Es ist auch wichtig, ihnen immer wieder vor Augen zu führen und hervorzuheben, dass deine Freund:innen nicht schuldig an ihrem Missbrauch sind und sie eine gesunde Beziehung verdienen“, meint Lee. „Reich ihnen auch weiterhin eine helfende Hand, selbst wenn du nicht mit ihren Entscheidungen einverstanden bist.“ Und denk daran: Das Einzige, was du in solchen Situationen falsch machen kannst, ist, deine Freund:innen im Stich zu lassen. Sie brauchen dich nämlich, auch, wenn sie dabei nur die Worte „Ich bin da, wenn du mich brauchst“ hören wollen.
Wenn du auf der Suche nach Beratung bist und Hilfe benötigst, kannst du dich an das Hilfetelefon wenden, welches ein bundesweites Beratungsangebot für Personen anbietet, die Gewalt erlebt haben oder noch erleben. Unter der Nummer 08000 116 016 und via Online-Beratung unterstützt diese Einrichtung Betroffene aller Nationalitäten, mit und ohne Behinderung – 365 Tage im Jahr, rund um die Uhr.
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