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Man kann sich nirgendwo mehr gratis treffen & es macht uns einsam

Foto: Jessica Xie.
Für die 24-jährige Natalie ist es jedes Mal aufs Neue unheimlich anstrengend, sich mit ihren Freund:innen zu treffen: Mal fehlt es ihr an Geld, um Leute zu besuchen, die nicht in ihrer eigenen Stadt wohnen; aber auch innerhalb ihrer Stadt ist es nicht leicht, einen Treffpunkt zu finden, der nicht nur allen gefällt, sondern den sich auch alle leisten können. Diese sozialen Räume, die weder Zuhause noch Arbeitsplatz sind, nennen sich „Dritte Orte“ und erfüllen einen wichtigen soziologischen Zweck, der für unsere Zufriedenheit entscheidend ist.
„Die Entfernung, zusammen mit einem Mangel an günstigen sozialen Räumen, wo wir uns treffen könnten, hat bei uns schon für viel Groll gesorgt“, erzählt Natalie. Es ist aus vielen Gründen immer teurer geworden, ihre Freund:innen zu treffen: Steigende Mieten und andere Lebenshaltungskosten, sowie die höheren Preise für Reisen, lassen ihr von ihrem Gehalt nur noch wenig Geld übrig. Die Sorgen um all das rauben ihr wiederum zusätzliche Zeit und Energie. Das gilt vor allem für Reisen, weil sie mit unsichtbaren Behinderungen lebt: dem chronischen Fatiguesyndrom (CFS) und einer posttraumatischen Belastungsstörung. Beides sorgt bei ihr für enorme Müdigkeit.
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Natalie ist aber längst nicht die Einzige, der es schwer fällt, leicht zugängliche und günstige Orte für ein Treffen mit Freund:innen zu finden. Tatsächlich hat der Mangel dieser „Dritten Orte“ ernsthafte psychologische und soziale Konsequenzen. Wie Natalie sagt: „In Freundschaften sollte es um Liebe, Fürsorge und Gemeinschaft gehen. Strukturelle Hürden halten uns aber davon ab, füreinander da zu sein.“
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Während dein Zuhause der „Erste Ort“ und dein Arbeits- oder Studienplatz der „Zweite Ort“ ist, ist der „Dritte Ort“ ein „spezifischer sozialer Raum, den alle besuchen können“, erklärt Dr. Tony Matthews, Dozent für Stadtplanung an der australischen University of Griffith. Damit sind beispielsweise öffentliche Bibliotheken, Parks, Schwimmbäder, Cafés oder Märkte gemeint. „Kurz: jeder Ort, der gezielt eine soziale Erfahrung ermöglichen soll, ohne dabei zwangsläufig auch einen kommerziellen Kontext zu haben“, meint Dr. Matthews.
Das Prinzip des Dritten Ortes wurde 1989 vom Soziologieprofessor Ray Oldenberg erfunden, der diese Räume als „zweites Zuhause“ beschreibt, „wo Menschen zusammenkommen, die nichts miteinander zu tun haben“. Karen Christenson, die an einer Aktualisierung von Oldenbergs Werk arbeitet, erklärt, dass schon seit der Erfindung des Begriffs befürchtet wird, wir könnten diese Dritten Orte irgendwann verlieren. Aber erst jetzt bekommen wir die damit verbundenen Probleme so richtig zu spüren. 
„Ich denke, dass wir so viele Fälle von Einsamkeit und mentalen Gesundheitsbeschwerden beobachten, weil Betroffene häufig nicht genug Zugang zu Dritten Orten haben, an denen sie regelmäßige, lockere Unterstützung bekommen“, erklärt Christenson. Und das ergibt ja auch Sinn: Wenn wir keine geteilten Räume haben, in denen wir mit anderen in Kontakt kommen können, werden Freundschaften zerbrechen – und Einsamkeit, die in der westlichen Gesellschaft schon jetzt ein großes Problem ist, wird sich immer weiter verschlimmern.
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Wie kann es also sein, dass es so wenige Dritte Orte zu geben scheint? Ein Grund dafür sind die fehlenden finanziellen Mittel: Vielerorts wird kaum Geld in den Bau oder die Renovierung öffentlicher Orte wie Parks gesteckt, und teilweise hat das sogar dazu geführt, dass Bibliotheken oder Kunstzentren die Türen schließen mussten. 
Insbesondere in Städten gelten Dritte Orte immer weniger als Priorität, erklärt Dr. Matthews. „Wenn du dir mal dicht besiedelte Städte ansiehst, bedeutet diese Bevölkerungsdichte oft, dass andere Dinge verdrängt werden – darunter auch öffentliche Räume.“ Dafür macht er die Vorstellung verantwortlich, dass es eine gute Sache sei, immer mehr Leute in die Städte zu locken. „Dann müssen eben auch mehr Menschen untergebracht werden, und somit mehr Häuser gebaut werden. Dafür brauchen wir so viel Baufläche, wie wir nur bekommen können – und dazu werden häufig öffentliche Räume geopfert.“ Die Räume, die nicht in Wohnbauten umgewandelt werden, werden oft finanziell ausgeschlachtet und beispielsweise zu Büros oder Geschäften umgebaut, in denen man nur selten einfach so rumhängen darf (es sei denn, du gibst dort Geld aus).
Da haben wir nämlich ein weiteres Problem: Genau genommen gibt es sehr wohl noch viele Dritte Orte – aber eben nur jene, die du dir auch leisten können musst, wie Fitnessstudios oder Vereine. Soziale Räume mit keiner oder niedriger Zugangsbarriere gibt es nur noch wenige. Die Dritten Orte, die man sich früher gut leisten konnte – wie Cafés, Bars und Kinos –, hatten es nicht nur während der Pandemie sehr schwer, sondern müssen jetzt auch die gestiegenen Lebenshaltungskosten bewältigen, indem sie ihre Preise erhöhen. Das wiederum verwehrt dann aber denjenigen den Zugang, die es sich schlichtweg nicht mehr leisten können, dort Zeit zu verbringen.
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Einige derzeitige Dritte Orte haben noch dazu eine unabsichtliche oder gezielte abschreckende Wirkung. Die queere Künstlerin und Architektin Martha Summers war am Bau des ersten queer-zentrischen Dritten Ortes in London, dem London LGBTQ+ centre, beteiligt. Sie erklärt, dass wahre Inklusion beim Designprozess eines Gebäudes nicht immer berücksichtigt wird. „Architekt:innen kennen sich zwar inzwischen mit Barrierefreiheit in Form von Rollstuhlrampen etc. aus (obwohl auch da nicht genug getan wird). Manchmal ist ihnen aber nicht bewusst, welche Atmosphäre sie mit ihren Designs erschaffen – und wie diese den öffentlichen Zugang beschränken, weil sie auf bestimmte Gruppen beispielsweise einschüchternd, ungemütlich oder schlichtweg abweisend wirken.“ Und wenn du nicht das Gefühl hast, dich in einem Raum wirklich entfalten zu können, verliert dieser Dritte Ort einen wichtigen Bestandteil seiner Funktion. „In hochstilisierten, übermäßig designten Räumen kann niemand kreativ sein. Du brauchst dazu schon das Gefühl, dass du dort hingehörst und so lange verweilen kannst, wie du möchtest.“
Leider ist der Zugang zu Dritten Orten meistens auch davon abhängig, ob du dort Geld ausgibst. An Orten, an denen etwas verkauft wird, wird man inzwischen sogar gezielt von längeren Aufenthalten abgehalten (vor allem, wenn du nichts kaufst) – zum Beispiel, indem das Essen vor Ort mehr kostet, als wenn du es mitnimmst, oder indem die Toiletten nur zahlenden Kund:innen offen stehen. In den USA reduzieren günstigere Ladenketten inzwischen sogar gezielt ihre Sitzmöglichkeiten.
„An günstigen Orten wie Starbucks, McDonald’s oder Costa Coffee gibt es [in den USA] mittlerweile weniger Sitzplätze“, erzählt Karen. „Ältere Menschen, Teenager und Leute mit wenig Geld verbringen ihre Zeit gerne in diesen Fastfood-Läden. Das wird jetzt aber immer seltener.“
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Die Auswirkungen dieser Entwicklungen auf unser Sozialleben bekommen wir alle zu spüren – insbesondere aber Menschen mit Behinderungen, geringerem Einkommen oder diskriminierten Communitys. Die 24-jährige Lydia braucht aufgrund von Schwierigkeiten mit ihrem Gleichgewicht und ihren Sinnesempfindungen bestimmte Barrierefreiheiten. „Meine Freundschaften sind weit verteilt“, erzählt sie. „Es kostet mich viel Energie und Zeit, Treffen mit diesen Leuten zu planen, und macht mich extrem müde. Ich bin deswegen sehr oft einsam.“
Aber könnte denn nicht das Internet als neuer Dritter Ort dienen? Nein. Tatsächlich zielen Social-Media-Plattformen nämlich nicht mehr auf geteilte örtliche Erfahrungen, sondern auf exponentielles Wachstum und Werbeeinnahmen. Community-Räume mussten online, genau wie im öffentlichen Raum, gegenüber dem weichen, was möglichst viele User:innen anspricht (und dazu ermutigt, Geld auszugeben). Wie die Internetkultur-Autorin Kate Lindsay erklärt: „Keine dieser Plattformen ist mehr darauf optimiert, wirklich mit anderen Menschen in Kontakt zu treten.“ Anstatt der Posts deiner Freund:innen wird dir also eher das gezeigt, was der Algorithmus für dich vorgesehen hat. Und jegliche Bemühungen, die ehemals gemeinsamen Räume zurückzuholen, haben spürbar geringe Priorität. „Meta kann sich zwar damit verteidigen, dass sie den chronologischen Feed zurückgebracht haben – aber der ist versteckt und bleibt auch nicht offen, wenn du die App schließt. Es ist, als wollten sie, dass du den Algorithmus benutzt, mit dem du Reichweite generierst, aber eben Fremde erreichst.“
An einem idealen Dritten Ort gäbe es gemeinsam vereinbarte Regeln. Du könntest jederzeit kommen und gehen, hättest dort aber gemeinsame Rechte und Pflichten – zum Beispiel das Respektieren der sozialen Grenzen anderer Leute, oder die Einsicht, dass ein bestimmter Raum zu manchen Zeiten nur Kindern und ihren Aufpasser:innen gehört. Genau so erschafft man einen Raum, an dem Freund:innen tatsächlich zusammen Zeit verbringen können, ohne sich stressen oder Geld ausgeben zu müssen. Wir sollten uns in solchen Räumen nicht mehr unwohl fühlen müssen oder das Gefühl haben, uns dort nicht frei entfalten zu können. Stattdessen sollten wir die Chance haben, an diesen Orten basierend auf gemeinsamen Interessen Kontakte zu knüpfen, meint auch Brendan Burchell, Professor für Sozialwissenschaften an der Cambridge University. „In verschiedenen Kulturen gibt es beispielsweise Orte mit öffentlichen Schachbrettern, wo du einfach hingehen und Schach spielen kannst“, sagt er. „[Im Westen] haben viele unserer Räume aber keine solche Bedeutung. Wenn du dort allein, vielleicht sogar einsam hingehst, fühlst du dich danach eventuell sogar noch einsamer.“
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In mancher Hinsicht können Dritte Orte eine schlichte Lösung auf viele Probleme sein. Genau deswegen sollte ihre Erschaffung und Erhaltung – sowohl on- als auch offline – als Förderung der allgemeinen Gesundheit betrachtet werden. Wie auch Dr. Matthews meint: „Das Problem der Einsamkeit lässt sich natürlich ignorieren. Damit ignoriert man aber ein wachsendes Gesundheitsproblem auf der gesamten Bevölkerungsebene, das sich von Jahr zu Jahr verschlimmert – in wohlhabenderen Ländern vor allem während der letzten zehn bis 20 Jahre. Deswegen wäre die Investition in mehr Dritte Orte nicht nur eine Investition in die Stadtplanung, sondern in die Gesundheit der Bevölkerung.“
Vor allem würden wir uns damit aktiv dagegen wehren, wie wir uns aktuell voneinander distanzieren. Es wäre ein erster Schritt, um unsere gegenwärtigen Räume für alle einladender zu gestalten. Anstatt also darauf zu warten, dass die perfekten Orte wie durch Zauberhand erscheinen, sollten wir Zeit an denen verbringen, die wir schon haben. Wenn wir uns nämlich für mehr soziale Räume einsetzen wollen, sollten wir erstmal die nutzen, die bereits existieren – und daran arbeiten, dass sich dort alle wohl fühlen.
In unserer so gespaltenen Gesellschaft hört sich diese Vorstellung vielleicht erstmal furchteinflößend an. Wenn uns diese Räume aber eben nicht geschenkt werden, müssen wir mit dem arbeiten, was wir haben. Denn ohne diese Mühe lassen wir einfach zu, dass wir immer weiter auseinanderdriften.
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