Ganz ehrlich: Es ist ein Beweis dafür, wie leicht sich Menschen was vormachen können, dass ich hier landete. Nach neun Tagen und drei Online-Kursen zu „So lernst du einen Handstand“ bin ich nur wenige Momente davon entfernt, in Tränen auszubrechen und meiner Frau „Ich HASSE das!“ zuzuschreien, während ich versuche, mich kopfüber an der Wand zu halten.
Niemand zwingt mich hierzu. Das Ganze war komplett meine Idee, ein spontaner Ende-Dezember-Einfall: Warum probierte ich nicht mal, innerhalb eines Monats einen Handstand zu erlernen? Würde das nicht total Spaß machen?
Die Absicht war gut, und die Motivation klar. Das sollte die Wiedergutmachung meiner Erfahrung als 14-Jährige sein – der pummeligen, verschwitzten Teenagerin, die im Sportunterricht mit verschränkten Armen am Mattenrand stand, während die beliebtesten Mädchen der Klasse ganz lässig Radschläge, Salti und Handstände hinlegten. Ich bin natürlich die einzige Frau auf diesem Planeten, die jemals eine unsichere und peinliche Jugend hatte – und natürlich hatten die Mädels, die so elegante Handstände hinbekam, ganz leichte, problemlose Leben. Diese Wiedergutmachung ist also absolut nötig! Und besonders die körperliche Fähigkeit zum Handstand erfüllte mich immer mit Neid.
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Ein Teil davon hing mit ganz normaler körperlicher Unsicherheit zusammen. Im Sportunterricht wurde mir klar: Wer einen Handstand beherrschte, war dünner als ich. Aber es war mehr als nur das. Ich konnte damals einfach nicht glauben, wie man etwas so Angsteinflößendes mühelos hinbekommen konnte. Meinem Teenie-Ich kam es körperlich unmöglich vor, freiwillig den Kopf Richtung Boden zu schmeißen und darauf zu vertrauen, dass meine Arme ihn schon hochhalten würden.
In vielerlei Hinsicht geht mir all das immer noch so. Ich bin zwar keine 14 Jahre mehr alt und versuche auch nicht mehr verzweifelt, mein Bäuchlein im grellvioletten Gymnastikanzug zu verstecken. Ich bin eine steuerzahlende Erwachsene mit einem Job und einer Therapeutin – und trotzdem wirkt der Handstand auf mich noch immer unerreichbar und mächtig. Handstände und Salti sind was für die Buffys, Lizzie McGuires und anderen Girlboss-Heldinnen der 2000er. Dabei sollte sich ein Handstand ja gar nicht so unmöglich anfühlen. Ich bin immerhin inzwischen jemand, die ihre Zehen berühren kann und sich beim Blick in den Spiegel relativ neutral fühlt. Ich mache heute zum Spaß Sport, habe einen ordentlichen Sport-BH und sehe ein, dass das Erlernen eines Handstands nicht wirklich etwas bedeuten, sich aber doch fantastisch anfühlen wird. Warum sollte ich es also nicht versuchen? Eine körperliche Neujahrs-Challenge, die nichts mit Körperform oder -gewicht zu tun hat, kann mir ja nicht schaden.
Leider hatte ich bei diesen Überlegungen meinen schlimmsten Feind nicht berücksichtigt: Oberkörpertraining. Ohne jetzt zu klingen wie ein Waschlappen: Ich hasse das. Cardio ist super und Beintraining irgendwie befriedigend – meine Arme hingegen ähneln eher gekochten Spaghetti, weil ich Oberkörpertraining so unangenehm finde. Deswegen ist es irgendwie erstaunlich, dass ich echt glaubte, es könnte mir gefallen, meinen langen Körper über meinen Kopf zu hieven.
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Dabei fing ich wirklich mit den besten Absichten an. Ich räumte mir ein Wandstück zum Üben frei und folgte strikt den Anweisungen des Online-Handstandkurses. Das erste Mal, als ich (fast) eine 180-Grad-Drehung hinlegte, kam mir das total surreal vor. Ich konnte nicht fassen, so etwas Absurdes mit meinem Knochenhaufen anzustellen. Dieser Freudentaumel ließ aber schnell nach; an seine Stelle trat erst Frust, dann Wut.
Das Problem war, dass sich die Kurse – zurecht – darauf konzentrieren, die Schultern zu stärken und die Bewegungen zu üben, die für einen sicheren Handstand nötig sind. Diese Bereiche zu trainieren – den schwächsten Teil meines Körpers –, fühlte sich furchtbar an. Ich musste mich schon sehr überwinden, selbst die kürzesten Kurse durchzuziehen, weil sie sich so weit außerhalb meiner Komfortzone bewegten. Die Tatsache, dass ich diese Trockenübungen so unangenehm fand, machte mir klar: Es würde deutlich länger als einen Monat dauern, bis ich für meine Mühen mit einem Handstand belohnt werden würde – und noch länger, bis ich den mühelos hinbekam. Also ließ die Motivation immer weiter nach, mich durch den schweren Teil zu kämpfen.
Ich bin mir sicher, ich hätte es hinbekommen, wenn ich mich wirklich dazu gezwungen hätte. Die Lektionen waren angenehm und gut strukturiert, die Lehrerin deutlich und sympathisch, und der Handstand selbst kam mir mit der Zeit auch nicht mehr völlig unmöglich vor. Mich hinderte aber die Herausforderung, meine mentalen und körperlichen Instinkte zu ignorieren. Der Grund dafür, dass ich niemals einen Handstand hinbekommen könnte, ist simpel: Ich bin einfach nicht dafür gemacht! Solche Challenges machen mir keinen Spaß, und ich mag es nicht, meine Schultern zu trainieren. Außerdem bin ich nicht dafür gebaut, gegen meine Instinkte anzukämpfen, um irgendwelchen künstlichen Zielen näher zu kommen.
Ich bin wohl kaum der einzige Mensch, der mit einer etwas zwanghaften Persönlichkeit zu kämpfen hat. Ich habe schon die Höhen und Tiefen davon erlebt, mich auf Ziele zu fixieren. Das hat mich zu dem Schluss gebracht: Das Ganze bringt dir selbst und deinem Umfeld nur dann etwas, wenn es dir auch wirklich Spaß macht, deine Ziele zu verfolgen. Ein Halbmarathon in nur drei Monaten ist nur machbar, wenn du Freude am Laufen hast oder entdeckst. Einen Roman wirst du nur schreiben können, wenn du dabei in einen Flow kommst und das Schreiben als Hobby siehst, nicht als Pflicht. Fehlt der Spaß, führt das am Ende zu liegengebliebenen Duolingo-Accounts und nicht genutzten Fitnessstudio-Mitgliedschaften. Klar ist es wichtig, dich regelmäßig auch zu etwas zu zwingen, das dir keinen Spaß macht – aber spezifische Errungenschaften sind die Qual nicht wert, wenn sie dich zum Weinen oder an den Rand der Verzweiflung bringen.
Das hört sich jetzt banal an, aber: Unsere Welt ist gerade aus vielen verschiedenen Gründen so chaotisch. In dieser Umgebung ergibt es für mich keinen Sinn, mich selbst mit etwas zu strafen, was mir keine Freude macht – und dafür mache ich mir keine Vorwürfe. Ich habe vielleicht keinen Handstand erlernt, dafür aber etwas Wichtiges eingesehen: Loslassen ist befreiend, und Versagen nicht zwangsläufig schlecht.
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