Bestimmt hast du schon gehört, wie jemand als Hypochonder*in bezeichnet wurde, weil sich diese Person ständig Sorgen um ihre Gesundheit macht oder glaubt, krank zu sein. Vielleicht hast du sogar selbst schon mal jemanden so genannt, weil du es nicht besser wusstest. Viele Menschen verwenden die Bezeichnung, wenn sie sich über jemanden lustig machen – nach dem Motto: „Jetzt krieg dich mal wieder ein, du kleines Sensibelchen, und hör auf, so ein*e Hypochonder*in zu sein!“. Für Betroffene ist das Ganze allerdings alles andere als lustig.
Tatsächlich wird der Begriff mittlerweile so häufig verwendet, dass er an Bedeutung verloren beziehungsweiße fast schon den Status eines Schimpfwortes erreicht hat. Deswegen wird er in medizinischen Kreisen auch nicht mehr verwendet. Stattdessen spricht man heute von Krankheitsängsten, weil diese Bezeichnung neutraler ist und mehr umfasst. So viel zur Terminologie. Aber was genau bedeutet es eigentlich, unter Krankheitsängsten zu leiden? Welche Auswirkungen hat es auf das tägliche Leben? Und wie viele Menschen sind in Deutschland betroffen?
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Was steckt dahinter?
Krankheitsängste werden meist den somatoformen Störungen zugeordnet, manchmal aber auch den Angst-, Panik- und Zwangsstörungen. Betroffene glauben, jedes körperliche Symptom ist ein Zeichen für eine ernsthafte Krankheit – selbst, wenn das Symptom an sich harmlos oder leicht erklärbar ist. 2016 bezeichnete das British Medical Journal Krankheitsängste deswegen als „stille, unfähig machende Epidemie“.
Es wird geschätzt, dass in Deutschland fast zehn Prozent der Menschen unter krankhaften Ängsten vor Krankheiten leiden. Jedoch könnte die Zahl noch viel höher sein, weil viele Betroffene aus Scham oder Unwissenheit keine ärztliche Hilfe suchen. Und nicht selten wird das Leiden, wie bereits gesagt, auch bagatellisiert – von Außenstehenden, aber auch von den Personen selbst. Dazu kommt, dass wir in einer Welt leben, in der der Anstieg der Zahl der Betroffenen sogar noch begünstigt wird: Nachrichten, Werbungen von Krankheitskassen und das Internet erinnern uns ständig und überall an die eigene Sterblichkeit. Wir werden auf Plakaten aufgefordert, auch ohne Symptome eine Darmspiegelung machen zu lassen; lesen von Menschen, die vollkommen gesund waren und trotzdem über Nacht gestorben sind. Als ob das nicht schon beunruhigend genug wäre, kommt dazu noch Dr. Google.
Was ist Cyberchondrie?
Viele recherchieren direkt online, wenn sie sich nicht wohlfühlen oder irgendetwas Ungewöhnliches an ihrem Körper entdeckt haben. Doch das Durchforsten von Foren, Onlinelexika und Co. kann die Angst, eine schlimme Krankheit zu haben noch verschärfen. Es gibt mittlerweile sogar einen neuen Begriff, der dieses Phänomen beschreibt und der lautet “Cyberchondrie“. Und die kann ein Grund dafür sein, warum die Zahl der von Krankheitsängsten betroffenen Menschen aktuell zu steigen scheint. „Das Internet ist eine enorme Ansammlung von Informationen“, sagt Nicky Lidbetter, CEO von Anxiety UK. Sie erklärt, dass dort oft das Worst-Case-Szenario für ein Symptom beschrieben wird. Das kann die Krankheitsängste verstärken, wodurch wiederum die körperlichen und psychischen Symptome zunehmen können. Es entsteht ein Kreislauf, aus dem man allein nur schwer wieder rauskommt und der zu Panikattacken führen kann.
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Außerdem können auch die sozialen Medien einen Teil dazu beitragen, dass so viele Menschen Angst haben, krank zu werden oder zu sein. Aktuell tauchen beispielsweise jeden Tag neue Statistiken, Horrorgeschichten und sogar Memes zum Thema Coronavirus auf Instagram, Facebook und Twitter auf. Selbst, wenn du keine Nachrichten schaust oder hörst, wirst du also regelmäßig daran erinnert, was gerade alles Schlimmes passiert oder passieren könnte.
Wenn du niemandem mehr vertraust
Kommen wir noch mal zurück zu den “klassischen“ Krankheitsängsten und weg von der Cyberchondrie. „Die meisten von uns gehen, wenn sie ein körperliches Symptom spüren, einfach zum Arzt oder zur Ärztin. Sie lassen sich untersuchen, bekommen eine Diagnose gestellt und können dann entsprechend reagieren“, so Nicky Lidbetter. Sie bekommen also beispielsweise gesagt, sie hätten einen Virusinfekt und sollen sich einfach ein paar Tage ausruhen und viel trinken. Und damit ist die Sache dann gegessen. „Menschen mit Krankheitsängsten trauen einer Diagnose aber oftmals nicht. Sie glauben, es könnte noch etwas anderes dahinterstecken.“ Was, wenn die Ärztin oder der Arzt etwas übersehen hat? Oder ich meine Symptome nicht deutlich genug beschrieben habe? Und schon beginnt der Kreislauf der Ängste und Symptome erneut.
Krankheitsängste im Alltag
Auch, wenn psychische Störungen und Probleme immer häufiger thematisiert und von der Gesellschaft akzeptiert werden, wird über Krankheitsängste immer noch relativ wenig gesprochen, sagt Jessica Ellis. Jessica ist eine 23-jährige NHS-Mitarbeiterin, die selbst seit drei Jahren unter Krankheitsängsten leidet. Um das zu ändern, erzählt sie im Folgenden von ihren persönlichen Erfahrungen – vom Weg zur Diagnose bis hin zu Problemen, denen sie sich im Alltag stellen muss.
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„Den Begriff “Hypochondrie“ mochte ich noch nie, weil er so klingt, als wollte die betreffende Person einfach nur Aufmerksamkeit erregen oder als wäre sie hysterisch oder melodramatisch. Dabei leidet sie unter einer ernsten psychischen Krankheit!
Seit ich denken kann habe ich einen Hang zu Angst- und Zwangsstörungen. Aber die Krankheitsängste haben sich erst manifestiert, als mir eines Tages auffiel, dass ich häufiger zur Toilette muss als sonst. Ich googelte meine Symptome und fand heraus, dass es entweder eine Blasenentzündung oder Diabetes sein könnte. Ich wurde auf beides getestet und beide Tests waren negativ. Aber ein paar Wochen später scrollte ich durch Facebook und landete zufällig auf einem dieser schrecklichen, Panik machenden Artikel: „Eierstockkrebs – der stille Killer“. Im Text wurden die wichtigsten Symptome genannt, die die Menschen oft ignorieren und auf Platz drei stand “häufiges Wasserlassen“. In den nächsten Tagen bemerkte ich so gut wie alle Symptome der Liste bei mir: Bauchschmerzen, Blähungen, Beckenschmerzen, Veränderungen beim Stuhlverhalten – und ich musste noch häufiger aufs Klo als sonst. Innerhalb von zwei Wochen ging ich drei Mal zum Arzt. Jedes Mal war ich absolut hysterisch und flehte den Arzt an, mich genauestens zu untersuchen. Und jedes Mal wurde gesagt, meine Symptome werden durch meine Ängste ausgelöst und ich wäre zu jung dafür, dass es etwas Ernsthaftes sein könnte. Von da an begann ich, jede freie Minute dafür zu nutzen, mehr über Eierstockkrebs zu lernen. Ich las Artikel über Frauen in meinem Alter, die von ihren Ärzt*innen abgewiesen wurden, im Nachhinein aber doch die Diagnose Krebs erhielten, aber dann war es schon zu spät für eine Behandlung. Ich hatte Todesangst. Zum Glück arbeite ich für die NHS, den nationalen Gesundheitsdienst der UK, und eine Beraterin arrangierte einen Scan für mich. In dem Moment als ich erfuhr, dass alles okay war, verschwanden meine Symptome – meine Krankheitsängste traurigerweise aber nicht.
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In den letzten drei Jahren habe ich mich selbst davon überzeugt, Eierstockkrebs, Brustkrebs, Leukämie, Nasenkrebs und ein Lymphom zu haben.
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In den letzten drei Jahren habe ich mich selbst davon überzeugt, Eierstockkrebs, Brustkrebs, Leukämie, Nasenkrebs und ein Lymphom zu haben. Jeden Morgen scannte ich meinen kompletten Körper und prüfte, ob ich irgendwelche Schmerzen oder eigenartigen Empfindungen hatte. Dann ertastete ich, ob ich Knötchen oder ähnliches fühlen könnte und suchte nach Veränderungen auf meiner Haut. Und glaub mir: Wenn du danach suchst, findest du auch irgendwas.
Letztes Jahr dachte ich eines Tages, ich hätte eine Beule unter meinem Kinn. Ein Teil von mir wusste, ich bildete mir das nur ein; aber der andere Teil war zu 100 Prozent, es wäre eine schlimme Krankheit. Wochenlang tastete ich mich immer wieder ab und drückte daran herum – am Ende hatte ich sogar einen blauen Fleck an der Stelle! Dann nahm ich endlich all meinen Mut zusammen und ging zum Arzt. Aber der sagte, er würde nichts fühlen. Erst beruhigte mich das, aber ein paar Tage später schlichen sich wieder diese “Was, wenn“-Gedanken ein. Was, wenn er etwas übersehen hat? Was, wenn er mich nicht an der richtigen Stelle abgetastet hat? Kein Vertrauen mehr in Ärzt*innen zu haben, ist eine der schlimmsten Nebenwirkungen von Krankheitsängsten, denn dadurch ist es praktisch unmöglich, beruhigt zu sein.
Deswegen wende ich mich auch ständig an Freund*innen und meine Familie, in der Hoffnung, sie könnten mich vielleicht beruhigen. Aber ich bin mir sicher, ich nerve sie damit mittlerweile. Und ja, es ist mir bewusst, wie irrational es ist, medizinischem Fachpersonal nicht zu vertrauen und dann zu Mama zu rennen – obwohl sie gar keine Ärztin ist und es nicht wissen kann. Aber nur weil ich das weiß, ändert das nichts an meinem Empfindungen. Manchmal google ich auch nach Antworten, aber für Menschen mit Krankheitsängsten ist das Internet ein zweischneidiges Schwert. Auf der einen Seite kannst du dir sicher sein, dass irgendwann das Wort Krebs auftaucht, wenn du nach Symptomen googelst. Die Informationen sind immer so ungenau und nicht auf dich persönlich zugeschnitten und das macht eine Selbstdiagnose praktisch unmöglich. Gleichzeitig hat die Suche meine Ängste schon oft noch viel schlimmer gemacht. Auf der anderen Seite habe ich online auch schon Informationen gefunden, die mir geholfen haben, meine psychische Krankheit besser zu verstehen. Ich habe Selbsthilfegruppen gefunden und Foren, in denen ich mich mit anderen Betroffenen austauschen kann. Dadurch habe ich festgestellt, wie vielen Menschen es so geht wie mir – ich bin nicht allein mit meinen Ängsten. Und trotzdem spiele ich mein Problem oft herunter, wenn ich mit Menschen darüber rede, die mir nicht so nahe sind, denn ich habe Angst vor ihren Reaktionen. Viele verstehen es nicht und machen, ohne es zu wissen, Bemerkungen, die alles andere als hilfreich für mich sind, wie „Alle machen sich über ihre Gesundheit sorgen“ oder „Du musst einfach nur im Hier und Jetzt leben und dir keine Sorgen über so ein Zeug machen“. Ich tendiere dann oft dazu, einen Witz darüber zu machen und dann vom Thema abzulenken, weil ich mich dafür schäme, zuzugeben, wie sehr mich die Krankheitsängste in der Hand haben.
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Alle machen sich ab und zu mal Sorgen um ihre Gesundheit... Aber bei Personen, die unter Krankheitsängsten leiden, nehmen diese Sorgen überhand; sie halten uns davon ab, unser Leben zu leben.
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Ich wünschte, mehr Menschen wüssten, was für eine lähmende psychische Erkrankung das ist. Es geht mir nicht darum, mehr Aufmerksamkeit zu bekommen. Und ich bin auch nicht mit Absicht eine Drama-Queen. Ich weiß, alle machen sich ab und zu mal Sorgen um ihre Gesundheit und niemand möchte krank sein. Aber bei Personen, die unter Krankheitsängsten leiden, nehmen diese Sorgen überhand; sie halten uns davon ab, unser Leben zu leben. Sie sorgen für einen Teufelskreis, aus dem nur sehr schwer wieder hinaustreten können. Nur, weil du etwas nicht verstehst, heißt das nicht, dass es für manche Menschen nicht ein großes Thema ist.“
Wenn du selbst an einer Angststörung leidest oder eine Person kennst, die eventuell Hilfe brauchen könnte, kannst du die Hotline der TelefonSeelsorge unter 0800 111 0 111 oder 0800 111 0 222 anrufen oder den Chat der TelefonSeelsorge nutzen. Langfristig gesehen solltest du überlegen, eine Therapie zu machen. Sprich dafür am besten als erstes deinen Hausarzt oder deine Hausärztin an – sie oder er kann zusammen mit dir die nächsten Schritte planen und dich an Spezialist*innen weiterleiten.
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