Du bist im Urlaub. Mit einem großen Hut auf dem Kopf und einem Handy in der Hand stehst du am Anfang eines kleinen, steinernen Gässchens. Natürlich kannst du dem stärksten Drang unserer Generation nicht widerstehen: Sobald du im Urlaub bist und deine Füße fremden Boden berühren, blinkt eine Leuchtschrift in deinem Kopf auf:
SEI EIN INFLUENCER.
„Aber ich hab doch nur 342 Follower.“
SEI EIN INFLUENCER.
„Aber die Hälfte von denen sind Freundinnen meiner Mutter und ich glaube nicht, dass …“
SEI EIN INFLUENCER.
„Aber ich poste eigentlich fast nur Bilder von süßen Hunden in der U-Bahn.“
SEI EIN INFLUENCER.
„Na gut“, denkst du dir dann, denn von dem Drink am Vormittag hast du schon leicht einen sitzen und die unerbittliche Sommersonne kocht dir das Hirn schon seit ein paar Tagen weich.
„Aber ich hab doch nur 342 Follower.“
SEI EIN INFLUENCER.
„Aber die Hälfte von denen sind Freundinnen meiner Mutter und ich glaube nicht, dass …“
SEI EIN INFLUENCER.
„Aber ich poste eigentlich fast nur Bilder von süßen Hunden in der U-Bahn.“
SEI EIN INFLUENCER.
„Na gut“, denkst du dir dann, denn von dem Drink am Vormittag hast du schon leicht einen sitzen und die unerbittliche Sommersonne kocht dir das Hirn schon seit ein paar Tagen weich.
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„Okay, ich mach’s. Ich werd’ Influencer!“
Die nächsten zehn Tage verbringst du dann nervös und fahrig auf der Suche nach perfekten Fotomotiven. Du kannst kein Eis mehr essen, ohne es vorher vor einer verschwommen-verträumten Strandszene zu fotografieren. Du liest die erste Seite deiner Urlaubslektüre immer und immer wieder, ohne wirklich aufzunehmen, worum es eigentlich geht, bis du irgendwann aufgibst und das hübsche Cover des Buches stattdessen lieber zum Zentrum eines Flatlays machst. Früher hast du in kleinen Städtchen nach Schildern mit der Aufschrift „Cocktail Happy Hour“ Ausschau gehalten, heute sind es hübsche Wandfliesen, die aussehen wie die von der Travel-Bloggerin, der du folgst und die gerade erst in einer Live-Story auf Instagram durch portugiesische Gassen lief. Von den harten, hölzernen Henkeln der fotogenen Korbtasche, die du die ganze Zeit mit dir rumträgst, hast du zwar schon Ausschlag in der Armbeuge, aber was soll’s. Einen lauen Sommerabend verbringst du am liebsten allein in deinem Hotelzimmer unterm Deckenventilator, um mal ganz in Ruhe ein, zwei Stündchen bei Instagram abzuhängen.
Und wenn du wieder zurück bist, werden alle mit einem leicht anklagenden Unterton fragen: „Wie war denn der Urlaub? Also was ich auf Instagram gesehen habe, sah ja superschön aus.“
Nein, das ist nicht deine Schuld. Es ist die Gesellschaft. Aber du kannst die Kontrolle zurückgewinnen. Mit dem folgenden 7-Schritte-Programm werden wir dich von deiner Sucht befreien.
Schritt 1: Erkenne an, dass du ein Problem hast
Hast du während deines Urlaubs irgendein Essen gekauft, dass dir nicht schmeckt, einfach nur weil es so eine schöne Farbe hatte? Wie viele Bilder von nahezu identischen Wolkenformationen, die du aus dem Flugzeug fotografiert hast, verstopfen deinen Speicher? Hast du so lange in die Sonne gestarrt, dass du mit ziemlicher Sicherheit Netzhautschäden davongetragen hast? Wie lange hast du an einer Sehenswürdigkeit herumgelungert, einfach nur, weil das ältere Pärchen, das dich fotografiert hat, ein schlechtes Bild von dir vor dem Spot gemacht hat (über diese Leute, die genau EIN Foto machen, unterhalten wir uns noch mal an anderer Stelle!) und du darauf warten musstest, dass jemand neues vorbeikommt, der nach etwas mehr Fototalent aussieht?
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Keine Sorge, das kriegen wir in den Griff.
Schritt 2: Kalter Entzug
Keiner sagt, dass du im Urlaub gar keine Fotos machen solltest. Aber es reicht allemal, währenddessen ein paar Bilder zu machen, damit du nachher schöne Erinnerungen an deine Reise hast, anstatt deinen Urlaub durchzustylen, als seist du gerade Art Director bei einem Vogue Cover-Shoot.
Hier kommt eine Übung: Geh an einem schönen, sonnigen Tag in einen nahegelegenen Park. Stell dich entspannt hin und lass die Arme locker sinken. Atme nun tief ein. Achte auf die Geräusche, die Gerüche und die Umgebung im Park. Mach nun im Geiste ein Foto. Lege einen Filter über das Foto. Gehe dann in deinem Kopf auf ‚Bearbeiten’ und erhöhe leicht die Sättigung. Dann gehst du auf ‚Zuschneiden’ und schneidest die Mülltonne rechts unten im Bild raus. Schreibe im Kopf eine Caption. Und weißt du, was du dann machst? Du löschst das Bild in deinem Kopf und gehst einfach nach Hause. Gut gemacht!
Schritt 3: Komm über die Wand hinweg
Oder besser gesagt, über die Wände. Erinnere dich an die Zeiten, als Wände in erster Linie steinerne Konstruktionen waren, die Dächer trugen, nahende Heere abhielten und Pink Floyd Inspiration für Songs lieferten. Besinne dich dieser primären Aufgaben von Wänden, während du an ihnen vorbeiläufst, ohne ein #OOTD zu fotografieren. Für den Anfang sollte man sich an hässliche Wände halten, das ist einfacher. Ich empfehle Kieselrauputz. Fortgeschrittene können sich dann an unverputzten Backsteinwänden versuchen, bevor sie zu in schönen Farben angestrichenem Backstein übergehen, um sich schlussendlich dem Endgegner zu stellen: Street Art in Pastelltönen.
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Schritt 4: Entschuldige dich
Nun ist der Zeitpunkt gekommen, eine Liste anzufertigen mit all den Leuten, deren Leben du mit deinem Verhalten beeinträchtigt haben könntest. Du solltest dich bei diesen Menschen entschuldigen. Das könnten zum Beispiel sein: Touristen, denen du die Aussicht verstellt hast, Kellner, die du gebeten hast, 24 Bilder von dir mit und ohne Blitz im Restaurant zu machen, und deine Freund*innen, die du mitten in ihrem Strandnickerchen aufgeweckt hast, um „das meiste aus der goldenen Stunde herauszuholen“, nur um dich nach der Fotosession darüber zu beschweren, dass sie „keinen Sinn für Ästhetik“ besitzen.
Vielleicht solltest du auch deinen Ex-Freund*innen schreiben, deine Eltern anrufen und den Typen ausfindig machen, den du 2015 in Portugal am Busbahnhof getroffen hast.
Wenn du jetzt denkst, wow, das sind aber ganz schön viele Leute: Mag schon sein, aber wenn sie dir erst einmal die geistige Umnachtung angesichts deiner Influencer-Fantasien vergeben haben, wirst du dich wunderbar leicht und befreit fühlen. Du wirst so eine große Unbeschwertheit in dir spüren, dass du darüber am liebsten eine motivierende Caption schreiben würdest – tust du aber nicht! Das muss nämlich gar nicht auf Instagram!
Schritt 5: Sieh der Realität ins Auge
Wenn du ihr nicht ins Auge sehen möchtest, sieh bitte wenigstens nach vorne. Dahin, wo die Kamera ist. Hör' auf damit, dich in diesen halb schüchternen, halb überraschten „Oh wow, was ist in diesem Baum?“-Schulterblick zu verdrehen. Oder dir bei dem Versuch, ein Follow-Me-To-Foto zu machen, halb deine Schulter auszurenken. Lass es einfach. Stattdessen solltest du die gute alte Pose aus dem Familienalbum wiederentdecken. Geradeaus in die Kamera schauen und sich freuen, an dem Ort zu sein, an dem man gerade ist. Ist eigentlich ganz gut, oder? Auf jeden Fall ziemlich retro und fast schon authentischer als alle anderen Nicht-Posen.
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Schritt 6: Sei ehrlich
Stop! Verschone deine Freund*innen und Follower mit fünf Absätzen über den emotionalen Reifungsprozess, den du durchgemacht hast, während du beim MOMA in New York anstehen musstest (Hashtag #brave). Ich spreche von den guten, alten, ehrlichen Postkarten. „Heute haben wir den Wochenmarkt besucht. Da gab’s die gleichen Filzdecken mit Airbrushmotiven von heulenden Wölfen drauf wie bei uns zu Hause. Tim hat sich antiseptische Salbe für seine Blasen geholt, und ich habe einen Hund gesehen, der Frittata gegessen hat. Das Wetter ist weiterhin heiß und schwül. Wäre schön, wenn du jetzt auch hier wärst.“
Jede*r würde sich über eine solche Postkarte freuen.
Schritt 7: Kauf eine Einwegkamera
Möchte man den jungen Leuten Glauben schenken, sind Einwegkameras gerade richtig heißer Scheiß. Solche Kameras bieten diverse Vorteile:
Erstens hat man in der Regel nur 30 Aufnahmen. Das zwingt einen zu einer selektiven und kritischen Auswahl der Motive.
Zweitens muss man nach jedem Foto an dem kleinen Rädchen drehen. Das gibt einem Zeit, darüber nachzudenken, wie sehr man das dritte Foto eines wichtig aussehenden Bauwerkes wirklich braucht.
Drittens besitzen Einwegkameras einen eingebauten Filter.
Viertens kostet es ein Heidengeld, die Filme entwickeln zu lassen. Spätestens da vergeht einem wirklich die Lust, ein Influencer zu werden. Es gibt nämlich nur wenige Sachen, die frustrierender sind, als einen sauteuren Umschlag mit dreißig Bildern in den Händen zu halten, von denen drei ganz schön, vier okay und dreiundzwanzig verschwommen, stockdunkel oder ungewollte Aufnahmen von Daumen sind.
Sollte nichts von diesen Tipps klappen, haben wir noch einen letzten, ultimativen Tipp für dich:
Werde einfach Influencer.
Das ist vielleicht einfacher.
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