Als sich das belgische Model Hanne Gaby Odiele in einem Interview mit USA Today 2017 als intersexuell outete, war das für viele Menschen das erste Mal, dass sie überhaupt den Begriff „intersex“ bzw. „inter*“ hörten. Dabei gibt es inter* Menschen schon genauso lange wie homosexuelle und transgender Personen (sprich: schon immer) – und doch ist die inter* Community immer noch irgendwie geheimnisumwoben, selbst innerhalb der größeren LGBTQ+-Community.
Dafür gibt es einen konkreten, wenn auch traurigen Grund: Viele Ärzt:innen sind bis heute der Meinung, Intersexualität sei eine „Störung“, die „angeglichen“, „geheilt“ oder „behoben“ werden müsse, sagt die Intersex-Aktivistin Alicia Weigel, Strategie- und Kommunikationsdirektorin bei der Organisation Deeds Not Words und selbst inter*.
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Wenn ein Baby als inter* zur Welt kommt – das heißt, wenn es mit sexuellen Charakteristika (inklusive Genitalien, inneren Geschlechtsorganen und Chrosomen) geboren wird, die nicht den strikten Definitionen von „weiblich“ oder „männlich“ entsprechen –, empfehlen Ärzt:innen oft „geschlechtsangleichende“ Operationen. Dabei werden die Genitalien der betroffenen Babys dem angeglichen, was die Gesellschaft von Männern bzw. Frauen äußerlich erwartet, und häufig auch innere, „überflüssige“ Hoden bzw. Eierstöcke entfernt. Diese Operationen werden meist durchgeführt, bevor eine betroffene Person überhaupt selbst darüber entscheiden kann, und gelten sogar laut der Vereinten Nationen als derart körperlich und geistig schädlich, dass diese Eingriffe bei inter* Menschen zu „dauerhafter, unumkehrbarer Unfruchtbarkeit und schwerwiegendem geistigen Leid“ führen können. Das ist keine Neuheit; 2005 wurden deswegen sogar die ärztlichen Leitlinien in Deutschland überarbeitet, um die Zahl dieser chirurgischen Eingriffe an Kindern zu reduzieren. Dennoch ergab eine Studie von 2016, dass die Zahl dieser Operationen in Deutschland seitdem kaum zurückgegangen sei.
Laut der Menschenrechtsorganisation The Human Rights Watch und der Interessenvertretung für inter* Kinder und Jugendliche interACT sind diese chirurgischen Eingriffe dabei nicht mal medizinisch notwendig; es gibt keine Hinweise darauf, dass atypische Geschlechtsorgane oder Chromosomen einer Person gesundheitlich schaden. Im Juli 2017 veröffentlichten sie also einen gemeinsamen Bericht, in dem sie die geschlechtsangleichenden Operationen als „chirurgische ‚Lösung‘ für ein gesellschaftliches Problem“ bezeichneten. Das sieht auch Weigel so. Sie erzählt gegenüber Refinery29, dass Ärzt:innen zwar manchmal durchaus davon überzeugt sind, inter* Kindern zu helfen, indem sie sie dem strikten binären Gender-System entsprechend „normaler“ aussehen lassen, wie es die Gesellschaft von ihnen erwartet. Stattdessen trägt die Vorstellung, sie und andere Betroffene müssten „angeglichen“ werden, weil ihre inter* Identität nicht „gelte“, zu dem Stigma bei, wegen dessen viele inter* Menschen das Gefühl haben, ihre Identität müsse geheim bleiben.
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Geschätzte 1,7 Prozent der Weltbevölkerung werden als inter* geboren. Wegen der weit verbreiteten Vorstellung, an ihren Körpern sei etwas „falsch“ oder „kaputt“, trauen sich viele von ihnen nicht, sich zu outen.
Ein ähnliches Schicksal teilten auch andere Bereiche der LGBTQ+-Community. Es ist noch gar nicht lange her, dass Ärzt:innen glaubten, auch queere und trans Menschen müssten „korrigiert“ werden – obwohl ihnen eine geistige, keine körperliche Störung unterstellt wurde. Vor 1973 stand Homosexualität sogar noch als Krankheit im Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM), das geistige Störungen aufführt; dieselbe Einstellung zu transgender Menschen änderte das DSM erst vor weniger als einem Jahrzehnt. 2013 schrieb das DSM endlich auch seinen Eintrag zur Gender-Identität um: Aus der geistigen Krankheit „gender identity disorder“ (Gender-Identitätsstörung) wurde „gender dysphoria“: das Leid einer Person, wenn ihr gefühltes Gender nicht dem zur Geburt festgelegten Geschlecht entspricht.
Natürlich hat dieser Einstellungswandel innerhalb der medizinischen Welt gegenüber homosexuellen und trans Menschen nicht dafür gesorgt, dass Homo- und Transphobie über Nacht verschwanden. Beide Communitys mussten hart für den Grad der Akzeptanz kämpfen, den sie heute haben – und der noch längst nicht ausreicht. Weigel glaubt aber, dass die medizinische Anerkennung queeren und trans Personen zumindest die potenzielle Freiheit verliehen hat, sich zu outen, ohne dafür als geisteskrank erklärt zu werden.
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Ärzt:innen spielen oft Gott und suchen sich ein Gender für ein inter* Kind aus. Dann sagen sie dem Kind, es sei korrigiert worden und solle nie über seine Intersexualität sprechen.
Alicia Weigel
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Die mit diesem Stigma verbundene Angst hält viele inter* Menschen davon ab, offen mit ihrer Identität umzugehen. Und genau bekommen sie innerhalb der LGBTQ+-Bewegung oft nicht den Raum, der ihnen zusteht; die mangelnde Vertretung von inter* Personen in der LGBTQ+-Community führt dazu, dass viele queere Menschen nie eine Beziehung zu inter* Personen aufbauen und sich daher weniger dazu bewegt fühlen, sich für deren Anliegen einzusetzen, meint Weigel. Und zu diesen Anliegen gehört unter anderem die Abschaffung der Operationen, die unterstellen, inter* Menschen sollten gar nicht existieren.
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„Ärzt:innen spielen oft Gott und suchen sich ein Gender für ein inter* Kind aus“, erklärt Weigel. „Dann sagen sie dem Kind, es sei korrigiert worden und solle nie über seine Intersexualität sprechen.“
Weigel, die mit XY-Chromosomen zur Welt kam, erzählt: Ihre Ärzt:innen hätten ihr zwar nie explizit gesagt, sie solle ihre Intersexualität verschweigen; sie wisse aber von anderen Betroffenen, die gewarnt wurden, so könnten verfolgt, verurteilt und gemobbt werden, wenn sie je jemandem von ihrem Gender erzählten. Die Überzeugung, sich bloß nicht als inter* zu outen, kommt oft sogar von Verwandten, sagt sie, hat aber nicht immer negative Absichten. „Ihnen geht es darum, sicherzustellen, dass diese Kinder akzeptiert werden und es ihnen gut geht“, meint sie. „Was sich wirklich ändern muss, ist das gesellschaftliche Stigma, damit die Eltern und Ärzt:innen begreifen: Diese Kinder sind gut so, wie sie sind.“
Es ist das Stigma, das durch geschlechtsangleichende Operationen weiter befeuert wird, das dafür sorgt, dass inter* Menschen ihre Identität für sich behalten und sich nicht ins Rampenlicht der LGBTQ*-Community trauen, erklärt Weigel. Erst Odieles öffentliches Outing verlieh ihr selbst den Mut, ihre eigene Geschichte zu erzählen. „Zu lesen, dass das nicht nur irgendein Mensch war, sondern ein total cooler Mensch, der mit demselben ‚Leiden‘ geboren wurde und es trotzdem geschafft hat, zu heiraten und richtig erfolgreich zu sein, gab mir den Mut, mich meinen eigenen Ängsten zu stellen und meine komplizierten Gefühle für mich selbst anzugehen“, schrieb Weigel in Medium.
Odiele hat übrigens Ähnliches erlebt wie Weigel. Auch sie hatte von Ärzt:innen zu hören bekommen, ihre Operation habe sie „angepasst“, und sie müsse niemandem mehr davon erzählen. „Immer hieß es: ‚Du wirst nie eine:n Partner:in finden, man wird dich mobben, du kriegst keinen Job‘“, erzählt Odiele gegenüber Refinery29. „Wir mussten alle immer so tun, als würden wir schön in eine Schublade passen.“
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Manchmal erfahren inter* Menschen auch gar nichts von ihrer Intersexualität, erklärt sie. Odiele wurde schon als Kind ihren „anpassenden“ Eingriffen unterzogen, hörte das Wort „intersexuell“ aber erst mit 17 Jahren – in einem Artikel über eine inter* Frau in einer holländischen Zeitschrift. „Wir kämpfen immer noch gegen dasselbe System wie seit 20 Jahren“, sagt sie. In diesem Kampf geht es darum, inter* Menschen die Selbstbestimmung zuzugestehen, eigenständige Entscheidungen über ihren eigenen Körper zu treffen – und darum, Ärzt:innen endlich klarzumachen, dass diese Körper nicht „behoben“ werden müssen.
„Es ist etwas Wunderschönes, inter* zu sein“, sagt Odiele. „Unsere Körper müssen auch existieren dürfen.“
Seit Odieles Coming-out gehen die Gespräche über inter* Menschen allmählich in eine andere Richtung. Immer mehr Leute begreifen, dass inter* Körper nicht bloß existieren dürfen sollten, sondern dass sie existieren – Punkt. Noch vor wenigen Jahren, erzählt Odiele, spuckte eine Google-Suche zum Begriff „intersexuell“ nur Kliniken aus, wo du dich operieren lassen konntest. Heute tauchen Artikel auf, die vor den Gefahren ebensolcher Eingriffe warnen.
Einen großen Teil dieser Veränderung schreibt Weigel einflussreichen Menschen wie Odiele zu – immerhin war das Coming-out-Interview des Models auch für sie selbst der Durchbruch. Sie hofft, dass es mehr inter* Menschen dazu inspiriert, sich selbst zu outen, wenn sie Leute wie Odiele und sich selbst dabei sehen, wie sie ihre Leben genießen – und dass das „I“ in LGBTQIA irgendwann nicht mehr ganz so still ist.
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