Zu Weihnachten hat mir meine Mutter ein Magazin für Jogger geschenkt, weil sie weiß, wie gerne ich laufen gehe. In diesem Magazin gibt es auch eine Seite, auf der ich meine „Laufziele“ und „persönlichen Rekorde“ eintragen kann. Und ungefähr noch hundert weitere Seiten, auf denen ich jeden einzelnen meiner Läufe minutiös dokumentieren kann. Die Spalten: Gewicht, Entfernung, Zeit, Zeit pro Kilometer, durchschnittliche Herzfrequenz, Herzfrequenz im Ruhezustand und so weiter und so fort. Als ich an Weihnachten im Pyjama auf dem Sofa saß und mir mein ungefähr zwanzigstes Ferrero Rocher in den Mund schob, während ich durch das Magazin blätterte, kam mir auf einmal ein Gedanke: Vielleicht ballere ich mir das Jahr 2019 einfach mal nicht mit irgendwelchen Zielen voll.
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Die meisten Menschen, die joggen, wollen sich dabei über ihre eigene Grenze hinaus pushen, ihre persönliche Bestzeit ein ums andere Mal brechen und immer besser und besser werden. Bis sie eines Tages nicht mehr besser werden können, weil sie zu alt sind. Ich persönlich habe jedoch nicht mit dem Joggen angefangen, weil ich mir etwas beweisen wollte oder um mich selbst zu schlagen. Vielmehr mag ich, dass ich beim Laufen Zeit habe, nachzudenken, dass man überall draußen laufen kann, ohne etwas dafür bezahlen zu müssen, dass ich mich nicht an Kurspläne im Fitnessstudio halten muss und dass ich nicht groß im Voraus planen muss. Wenn ich laufen will, laufe ich einfach los. Doch seit ich vor drei Jahren angefangen habe, mit einer App zu joggen, hat sich etwas verändert. Die Daten, die ich seitdem sammeln konnte, faszinieren mich. Wie viele Kalorien habe ich verbrannt? Was ist meine persönliche Bestzeit auf einem Kilometer? Und wieso war ich letztes Mal eigentlich so langsam? Kann ich mich wirklich ernsthaft als Läuferin bezeichnen, wenn ich noch nie einen Marathon gelaufen bin? Die Daten, die meine App sammelt, sind mir derart wichtig, dass ich extrem enttäuscht bin, wenn ich mal vergesse, sie vor dem Lauf anzumachen. Wozu bin ich denn gelaufen, wenn dieser Lauf gar nicht in meiner Statistik vorkommt? Es ist dann fast so, als wäre ich diese Runde gar nicht gelaufen.
„Du weißt schon, dass du nicht bei der Bundeswehr bist, oder?“, schrieb mir meine Mutter letztes Jahr, als ich darauf bestand, bei -3 Grad im Schnee einen Halbmarathon zu laufen. Ich hatte mir natürlich das Ziel gesetzt, den Lauf in einer bestimmten Zeit zu absolvieren. Aus lauter Angst, diese Zeit nicht zu erreichen, war ich in den Wochen bis zum Rennen extrem angespannt. Trotz des lausigen Wetters schaffte ich schlussendlich, den Marathon in der gewünschten Zeit abzuschließen. Doch irgendwie war das kurzzeitige Hoch, dass ich danach empfand, all die Panik in der Zeit vor dem Lauf nicht wert gewesen. Absurderweiser beruhigte mich der Fakt, mein Ziel erreicht zu haben, auch nicht. Vielmehr kam mir der Gedanke, ich hätte es von Anfang an zu niedrig angesetzt.
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„Warum brauchst du immer ein Ziel, auf das du hinarbeiten kannst? Ich dachte, du gehst Joggen, um zu entspannen“, fragte mich eine Freundin, als ich ihr erzählte, dass ich Angst habe, nicht genug trainiert zu haben. Im Instagram-Zeitalter der Selbstgefälligkeit verfallen wir nur allzu schnell in die Gewohnheit, Sachen deswegen zu machen, weil sie von außen gut aussehen oder sich gut anhören, nicht weil wir sie wirklich machen wollen. Nachdem ich mir mein persönliches Wohlbefinden auf die Flagge geschrieben hatte, lief ich mit jeder Menge Zielsetzungen durch meinen Alltag, die es zu erfüllen galt. Mindestens acht Gläser Wasser pro Tag. Zehntausend Schritte. Und natürlich acht Stunden Schlaf pro Nacht. Alles darunter macht einen schließlich anfällig für all die Krankheiten, die am Ende dazu führen, dass man die Krankenkasse Millionen kostet.
An sich ist natürlich nichts verkehrt daran, sich um seine Gesundheit zu kümmern. Das Ding ist aber, dass, wenn man wie ich ein bisschen zwanghaft veranlagt ist, dieses Verhalten ziemlich schnell in das Gegenteil von gesund umschlägt. Im App Store gibt es aktuell etwa 160.000 Wellness-Apps, die Auswahl ist also wirklich grenzenlos. Einige der beliebtesten Apps für Läufer*innen sind MapMyRun, Nike+ Running und das ziemlich krasse Strava, das eigentlich schon fast eine eigene Social-Media-Plattform ist und Nutzer dazu anhält, Bilder von ihren Triumphen zu posten. Bei der Fülle an Audio-Intervall-Trainings und Online-Bestenlisten, bei denen man sich mit jedem Menschen auf der Welt vergleichen kann, ist aus der Solo-Freizeitbeschäftigung Joggen eine Wettkampfsportart geworden. Wie konnte das passieren?
2017 habe ich Dominique Scott interviewt. Sie läuft bei den Olympischen Spielen die 5- und 10-Kilometer-Rennen. Erstaunlicherweise hatte sie auf die Frage, was die weiteste Distanz sei, die sie jemals gelaufen ist, keine Antwort. „Vielleicht 25 Kilometer“, sagte sie. Als ich sie fragte, ob sie gerne mal einen Marathon laufen wolle, schien sie nicht besonders begeistert: „Man muss nicht immer noch weiter laufen. Mach einfach, was dir Spaß macht. Wenn du Freude bei einem Marathon empfindest, trainiere dafür und schau, was alles in dir steckt. Aber wenn dir 5 oder 10 km einfach besser liegen, dann lauf die doch weiter. Es macht nicht unbedingt jedem Spaß, weit zu laufen.“
Und wie fühlt sich eine Joggingrunde an, wenn du dich weder an eine Geschwindigkeit noch an eine Distanz klammerst und einfach so läufst, wie es deinem Körper heute guttut? Alles, woran du denkst, ist, was dir halt gerade so in den Kopf kommt. Ich laufe seit Weihnachten ohne App und ohne Ziele und kann schon mal sagen, dass das Laufen mir seither wieder viel mehr Spaß macht. Es ist jetzt tagesformabhängig, wie ich beginne, ob langsam oder schnell. Wenn ich viel Energie habe, laufe ich so schnell ich kann, bis mir fast ein wenig schlecht wird und gehe dann einige Minuten, bis sich mein Atem wieder beruhigt hat. Ich fühle mich sehr frei und auch sehr fit. Was mich allerdings schon ein bisschen traurig macht, ist, dass ich jetzt, wo ich mich nicht mehr selbst überwache, glaube, dass ich schneller denn je laufe und meine persönliche Bestzeit eventuell in den letzten Wochen geknackt haben könnte. Nur habe ich darüber gar keinen Beweis. Kann auch sein, dass ich gar nicht schneller laufe. Vielleicht fühlt es sich nur so an. Fakt ist, dass ich es nicht wissen kann. Ich habe mir vorgenommen, mir einfach selbst zu glauben, dass es so ist. Und wenn wir ganz ehrlich sind: wirklich wichtig ist es sowieso nicht.
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