Mit 16 wurde Thordis Elva von ihrer ersten großen Liebe missbraucht. Doch statt ihn für immer zu meiden, nahm sie Kontakt zu ihm auf.
Seine Fäuste bohrten sich neben ihr in die Matratze. Immer wieder stießen seine Hüftknochen in ihre Oberschenkel, als er in sie reinrammte. Ihre Hand baumelte leblos von der Bettkante. Sie lag nur da, unfähig sich zu bewegen, dehydriert vom Alkohol, den sie nicht vertragen hatte, und gelähmt vom Schock. Sie war bei vollem Bewusstsein, aber gefangen in ihrem eigenen Körper.
Innerlich schrie Thordis, der Schmerz fühlte sich an, als würde Tom sie vom Schritt bis zur Brust aufreißen, so, als wolle er sie in zwei Teile spalten. Sein Körper klatschte unaufhörlich gegen ihren. Sie hörte, wie das Bettgestell gegen die Wand hämmerte. "Ich versuchte, nicht den Verstand zu verlieren, und suchte gleichzeitig nach einer Möglichkeit mich abzulenken", erinnert sich Thordis. Das Einzige, was sie sah, war die Digitalanzeige ihres Weckers. Langsam wurde sie taub zwischen den Beinen. Thordis starrte weiter auf den Wecker. Sie zählte bis 7200, erst dann ließ er von ihr ab. 7200 Sekunden, das sind zwei Stunden Martyrium. Zwei Stunden, die sie für immer von ihrem Leben vor der Vergewaltigung trennen.
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Kann man mit so einem Erlebnis Frieden schließen? Als das Flugzeug auf dem Rollfeld in Kapstadt aufsetzte, wäre sie am liebsten sofort wieder umgekehrt. "Mir war bewusst, wie gefährlich meine Mission ist", sagt die 36-Jährige. Aber ein Zurück gab es nicht mehr, dazu war sie mit Tom in den letzten Jahren zu weit gekommen. Dieses Wiedersehen mit ihm sollte der letzte Schritt sein, um das dunkelste Kapitel ihrer Vergangenheit abzuschließen. Thordis Elva war gekommen, um Tom Stranger, dem Mann, der sie als 16-jähriges Mädchen missbraucht hatte, zu vergeben.
"Tom war meine erste große Liebe", erzählt Thordis heute. Ein 18-jähriger Australier, für ein Austauschjahr in Island, wo sie lebte. In Reykjavík besuchte er die gleiche Schule wie Thordis. Sie hielten Händchen und wollten zusammen auf den Winterball. "Ich hatte ein richtiges Date!", erinnert sich Thordis. Sie fühlte sich erwachsen, auch weil sie zwei Tage vorher mit Tom geschlafen hatte und keine Jungfrau mehr war. So erwachsen, dass sie auf dem Ball zum ersten Mal Alkohol probierte. Vom Rum wurde ihr schlecht, irgendwann lag sie bewusstlos auf der Toilette. Tom kletterte über die Kabinenwand und brachte sie nach draußen. Auf dem Weg wurden sie von Türstehern angehalten, die fragten, ob sie nicht einen Krankenwagen rufen sollten. Aber Tom sagte Nein. "Ich war so dankbar, weil ich nicht wollte, dass meine Eltern etwas erfuhren", sagt Thordis. Tom brachte sie nach Hause. In ihrem Zimmer legte er sie aufs Bett und begann sie auszuziehen. "Meine Klamotten stanken nach Kotze, ich war so froh, dass er mich davon befreite." Tom war ihr Held – bis zu dem Moment, als er ihre Unterhose auszog und sie reflexartig die Bauchmuskeln anspannte.
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Es war, als würde ich vom Schritt bis zur Brust aufgerissen werden
Thordis Elva
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Es hat lange gedauert, bis Thordis verstand, was in der Nacht des 17. Dezember 1996 mit ihr passiert ist. Sie versuchte, den Schmerz zu verstecken. Sie schämte sich und fühlte sich schuldig, nicht nur weil sie getrunken hatte. "Ich bin mit der Vorstellung aufgewachsen, dass Vergewaltigungen in dunklen Gassen passieren und Täter aus dem Hinterhalt angreifen", sagt sie. Vergewaltiger sind doch Monster! Wie konnte es sein, dass sie den Dämon in Tom nicht erkannt hatte? Dieser Widerspruch machte sie schutzlos, weil sie das Vertrauen in sich verlor – und weil sie nicht wusste, dass laut Statistik 77 Prozent aller Frauen, die Opfer von sexueller Gewalt werden, den Täter kennen.
Tom hat kaum Erinnerungen an die Nacht
Toms Erinnerungen an die Nacht sind verschwommen. Wie die meisten anderen Jungs trank er damals ziemlich viel, wenn er unterwegs war. Er hat noch vor Augen, wie er Thordis trug, genervt war, weil er weiterfeiern wollte. "Dann sehe ich Sequenzen, wie ich auf ihr liege", erzählt er. Woran er sich nicht erinnern kann, ist Wut oder das Gefühl, Thordis verletzen zu wollen. Ehrlich gesagt habe er überhaupt nicht an sie gedacht. "Mir war nicht klar, was ich ihr antue", gesteht er heute. Er weiß nicht mehr, wie er nach Hause gekommen ist. "Am nächsten Morgen fühlte ich mich schwer und wie ausgehöhlt", sagt Tom. Die Nacht veränderte auch in ihm etwas, obwohl er zunächst nicht verstand, warum ihn fortan diese Leere begleitete.
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Es ging nur um meine Bedürfnisse, an sie habe ich nicht gedacht.
Tom Stranger
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Thordis Leben nach der Vergewaltigung
Für Thordis begann ein Leben auf der Überholspur. Sie wurde zur Musterschülerin, studierte in den USA, war Jahrgangsbeste, wurde zur Studiensprecherin gewählt. "Ich konnte keine Sekunde stillstehen, der Schmerz war einfach zu groß", sagt sie. Um ihre wahren Gefühle zu betäuben, fing sie an sich selbst zu verletzen. Das Ritzen ließ das Hassgefühl kleiner werden, es half ihr den Schutzwall aufrechtzuerhalten. Eines Nachmittags im Jahr 2005 saß sie nach einem heftigen Streit mit einer Freundin in einem Café. Plötzlich bahnten sich die lange unterdrückten Gefühle ihren Weg. Sie begann, Tom eine E-Mail zu schreiben, schilderte, was aus ihrer Sicht in der Nacht passiert war und wie sehr sie seither gelitten hatte. "Ich erkannte mich in jedem Wort wieder", sagt Tom. Genau das antwortete er ihr auch. Thordis hatte mit allem gerechnet, nur nicht damit. Auch in Tom legte die Nachricht verdrängte Gefühle frei, zum ersten Mal sank in ihn ein, warum es ihm schlecht ging, er keine Nähe ertragen konnte und beim Sex oft Panikattacken hatte. Er fühlte sich schuldig, weil er mit Thordis ohne ihre Einwilligung Sex gehabt hatte.
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"Ich spürte, dass ich über den Austausch mit ihm die Chance auf Antworten zu all meinen Fragen bekäme", sagt Thordis. Bis dahin hatte sie die Schuld allein getragen, weil sie in einer Gesellschaft aufgewachsen ist, die Frauen vermittelte, einen Anteil an diesen Verbrechen zu haben – weil sie sich falsch anzögen, zu offen seien oder sich eben in die falsche Typen verliebten. "Aber plötzlich war da jemand, der Verantwortung übernehmen wollte." Auch Tom trieb die Frage nach dem Warum um. "Die Tat stand im Gegensatz zu all dem, was ich bis dahin über mich wusste", sagt er. Tom ist mit zwei Brüdern auf einem Bauernhof aufgewachsen, eine ganz behütete Kindheit im australischen Busch. Sein Vater ist Altenpfleger, seine Mutter arbeitet an einem College. Was ihm seine Familie ganz sicher nicht mitgegeben hatte, war die Idee, Frauen als Objekte zu betrachten. "Ich war auf der Suche nach dem Gefühl, das mir erlaubt hatte, zu tun, was ich mit Thordis gemacht habe", sagt Tom.
Austausch zwischen Täter und Opfer
Acht Jahre schrieben sich Thordis und Tom immer wieder Mails hin und her. "Die Zeit war nicht leicht, manchmal waren wir so weit voneinander entfernt", sagt Thordis. Trotzdem hielten sie an diesem Austausch fest. Auch als Thordis ihren Mann kennenlernte und Mutter wurde. "Ich weiß, dass das eine unorthodoxe Art ist, sich mit der Gewalt, die einem angetan wurde, auseinanderzusetzen", sagt sie. Aber auch ihr Mann sah, wie sehr sie von den Mails profitierte. Hatte sie nie Angst, Tom zu nah an sich ranzulassen? "Nie", antwortet sie, "weil ich immer das Gefühl hatte, dass mir der Kontakt bei meiner Heilung hilft." Über die Zeit wurde Thordis zur Expertin für das Thema sexuelle Gewalt. Sie schrieb Theaterstücke, Bücher und hielt Vorträge zu dem Thema.
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Trotzdem gab es einen Punkt, an dem Thordis und Tom mit ihren Mails nicht weiterkamen. "Ich merkte, dass Thordis' Blick Richtung Zukunft ging", sagt Tom. Trotzdem konnte sie die Nacht nicht loslassen, immer wieder besuchte sie in Gedanken ihr Kinderzimmer. Sie sagt: "Ich hatte alles durch: Scham, Hass, Rachegefühle, Verbitterung, aber nichts davon hat mir Frieden gebracht." Sie wollte das Kapitel abschließen, doch dafür, glaubte sie, musste sie Tom noch einmal sehen. Treffpunkt sollte Kapstadt sein, genau in der Mitte zwischen Island und Australien. Die Stadt wird auch Rape Town genannt, 2014 gaben im Western Cape 39 Prozent aller Frauen an, Opfer von sexueller Gewalt zu sein. Ein symbolischer Ort. Wie hoffnungsvoll wäre es, wenn genau hier Opfer und Täter eine neue Form des Umgangs miteinander finden würden?
"Für mich fühlte sich Thordis' Vorhaben, mir vergeben zu wollen, falsch an", sagt Tom. Sich selbst zu verzeihen, schien ihm unmöglich; aber für Thordis war er bereit, alles zu tun, was ihr half. So flogen sie nach Kapstadt, wohnten in zwei unterschiedlichen Hotels, trafen sich tagsüber zum Reden. Bei ihren Spaziergängen hätte man sie für ein ganz normales Paar halten können. Sie sprachen viel darüber, wie ihre Leben nach der Tat weitergegangen waren. "Schnell wurde klar, dass wir beide seit jener Nacht ein Leben am Abgrund führen", sagt Thordis. "Wir waren gefangen in einer Zwischenwelt." Was ihre Vergebung behinderte, war Toms großes Selbstmitleid: Am liebsten wäre er vor ihr im Staub gekrochen – nur nutzte ihr das überhaupt nichts.
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Scham, Hass, Rachegefühle, nichts hat mir Frieden gebracht
Thordis Elva
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"Ich wollte, dass er wirklich anerkennt, was er getan hat", sagt Thordis. Dafür musste er alles noch mal sehen, ohne Rücksichtnahme – das war es, was die Mails nie leisten konnten, weil man nie eine direkt Reaktion bekam. Irgendwann zogen sie sich schließlich in Thordis' Hotelzimmer zurück und traten verbal noch einmal gemeinsam die Reise in ihr Kinderzimmer an. Tom sah sich auf ihr, spürte ihren Schmerz, ihre Wut, ihre Verzweiflung. Er sah die vielen blauen Flecken vom Knie bis zur Hüfte, sah, dass sie nicht gehen konnte und durchlebte noch einmal seinen zweistündigen Boxkampf, den sie ohne Deckung über sich hatte ergehen lassen.
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"Du hast etwas kaputt gemacht, was vor dir noch heil war", brüllte sie ihn an. Tom wurde schlecht, dieser Moment im Hotelzimmer war so roh, aber er hielt ihn aus. "Ich konnte ihr nur zuhören", erinnert er sich. Die Antwort auf das Warum war simpel und hart: Er hatte geglaubt, das Recht zu haben, sich zu nehmen, worauf er Lust hatte. Und plötzlich passierte etwas in Thordis, etwas, worauf sie lange hatte warten müssen: Sie konnte die Last der Schuld endlich auf Tom übertragen.
Dabei ging es aber nicht darum, Tom das Büßerhemd überzustreifen. Im Gegenteil: Thordis wollte, dass sie sich auf Augenhöhe begegnen. "Wir sprechen den Tätern ihre Menschlichkeit ab", sagt sie. Aber genau das ist auch Teil des Problems, weil wir so nie anerkennen, dass die Täter aus der Mitte der Gesellschaft kommen, dass sie Familienväter, Politiker, Schauspieler oder gut aussehende Männer wie Tom sein können. In Wahrheit hält es uns davon ab, tiefer zu gehen und die richtigen Fragen zu stellen. Als Konsequenz der Dämonisierung übernehmen nur wenige Männer Verantwortung für ihre Taten. Stattdessen schweigen alle weiter, "der Nährboden für noch mehr sexuelle Gewalt", sagt Thordis. Auch deshalb stellt sich Tom der Öffentlichkeit. "Ich bin Teil des Problems, aber vielleicht kann ich etwas zur Lösung beitragen", sagt er. Dass diese Worte provozieren, ist ihm bewusst.
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Für mich fühlte sich Thordis' Vorhaben, mir zu vergeben, falsch an
Tom Stranger
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Noch vor wenigen Jahren hätte Thordis nicht geglaubt, je wieder richtig glücklich werden zu können. Sie hatte Tom gehasst, doch der Hass führte bei ihr zu noch mehr Schmerz. Ihr Weg soll keine Vorbildfunktion haben, sondern ein Beitrag sein zur Diskussion um Gewalt gegen Frauen. "Ich hoffe, dass man durch unsere Geschichte über die Stereotype von Opfer und Täter nachdenkt", sagt Thordis. Ein Opfer ist mehr als das, was ihm passiert ist, und ein Täter mehr als das, was er getan hat. "Für mich fühlt sich die Bezeichnung Opfer falsch an", sagt sie. Weil es bedeutet, dass man für immer beschädigt ist, dass man schwach ist. Lieber bezeichnet sich Thordis als "Überlebende". "Dieses Wort drückt aus, dass man etwas sehr Schmerzhaftes durchgestanden hat", erklärt sie. Aber es bedeute auch, dass man Kraft habe.
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Für Thordis war es diese Kraft, die ein Leben nach der Tat überhaupt möglich gemacht hat. Und durch die Gespräche mit Tom hat sie verstanden, dass nur einer sie vor der Gewalt hätte schützen können – und das ist der Mann, der sie ausgeübt hat.
Fakten zu Sexueller Gewalt
Weitverbreitet
Jede dritte Frau in Europa hat als Erwachsene schon einmal körperliche oder sexuelle Gewalt erfahren. In Deutschland sind es 35 Prozent.
Jede dritte Frau in Europa hat als Erwachsene schon einmal körperliche oder sexuelle Gewalt erfahren. In Deutschland sind es 35 Prozent.
Meist Täter aus dem Umfeld
77 Prozent der von sexueller Gewalt betroffenen Frauen sagen, der Täter sei ihnen bekannt gewesen.
77 Prozent der von sexueller Gewalt betroffenen Frauen sagen, der Täter sei ihnen bekannt gewesen.
Betroffene schweigen
47 Prozent der Frauen haben nie mit jemandem über die Tat gesprochen. Noch höher ist der Anteil des Schweigens bei denen, die vom eigenen Partner vergewaltigt wurden. (Alle Zahlen aus der EU-Studie "Violence against women" von 2014)
47 Prozent der Frauen haben nie mit jemandem über die Tat gesprochen. Noch höher ist der Anteil des Schweigens bei denen, die vom eigenen Partner vergewaltigt wurden. (Alle Zahlen aus der EU-Studie "Violence against women" von 2014)
Keine Polizei
Nur acht Prozent der Frauen, die sexuelle Gewalt erfahren haben, schalten die Polizei ein. (Studie "Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen")
Nur acht Prozent der Frauen, die sexuelle Gewalt erfahren haben, schalten die Polizei ein. (Studie "Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen")