Millennial-Wellness ist Spiritualismus auf Speed: Jahrhunderte alte indigene Praktiken und Gebräuche werden vereinfacht, gekürzt und in kleine, leicht verdauliche Rituale und Produkte umgewandelt – kreiert, um zu beruhigen und das Gefühl einer sofortigen Verbindung zu etwas Größerem, Allwissendem zu vermitteln. Vor dem Hintergrund finanzieller Unsicherheit, der Klimakrise und politischer Instabilität ist es kein Wunder, dass die Branche aktuell boomt.
Im Vergleich zu Menschen, die ihre Wellnesspraktiken ernst nehmen und sich wirklich damit auskennen, bedient sich die Millennial-Wellnessbranche eher dem „Mix and Match“-Prinzip: Die Menschen probieren erst dieses Ritual aus und kurz darauf dann jenes. Statt sich einer bestimmten Praktik ausgiebig zu widmen, testen sie nach Lust und Laune verschiedene aus – in der Hoffnung, irgendetwas davon hilft ihnen, sich in einer Welt zurechtzufinden, die sich zunehmend verrückt und ziellos anfühlt.
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Kriselt es im Liebesleben? Vielleicht hilft es ja ein Rosenquartz-Anhänger an der Kette. Du willst die schlechten Vibes vertreiben, die toxische Freund*innen oder deine fragwürdige Lebensführung herbeigeführt haben? Versuch’s mit einer Rauchzeremonie, also dem Verbrennen heiliger Kräuter.
Das Corona-Virus hat die Anziehungskraft des Spirituellen nur noch zusätzlich verschärft und intensiviert – zum Teil auch, weil wir das Gefühl haben, dadurch ein Fünkchen Kontrolle zurückgewinnen zu können.
Zwar legt unsere Generation größeren Wert auf Nachhaltigkeit als alle vorhergehenden, doch das Problem mit Millennial-Wellness ist, die meisten von uns wissen weder etwas über den Ursprung, noch über den Kontext, noch über die Bedeutung der Praktiken. Und das ist nicht unwesentlich, denn durch die steigende Popularität und das Aufkommen bestimmter Wellnesstrends schaden wir so langsam den Communitys, derer Praktiken wir uns bedienen. Das liegt unter anderem daran, dass die Rituale und Bräuche nicht dafür ausgelegt sind, in diesem großen Maße durchgeführt zu werden. Und das kann wiederum dazu führen, dass Produkte auf nicht nachhaltige Art und Weise hergestellt werden, um der großen Nachfrage gerecht werden zu können. Zudem kann es den lokalen Communitys schaden und zu einem Boom-Bust-Zyklus für die Landwirt*innen führen (sprich: Erst ist die Nachfrage unglaublich hoch und es muss 24/7 produziert werden und dann sinkt sie plötzlich rapide, sodass man auf dem Produkt sitzen bleibt).
Doch wenn wir unser Wissen über Nachhaltigkeit mit dergroßen Beliebtheit von spiritueller Wellness vereinen, könnte das einenmassiven positiven Einfluss auf die Klimaveränderung haben.
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In einer Studie aus dem Jahr 2017, die von der Professorin Christine Wamsler vom Lund University Centre for Sustainability Studies durchgeführt wurde, fand man heraus, wenn wir achtsam sind, was und in welcher Form wir konsumieren, kann das einen positiven Einfluss auf das Thema Nachhaltigkeit auf allen Ebenen haben – von Klimawandel bis hin zu sozialem Aktivismus.
An diesem Punkt sind wir jedoch noch nicht. Das Problem ist, wenn man etwas schnell zugänglich machen will, fehlt die Zeit, tiefgehendes Wissen zu erlangen über die komplexen und komplizierten Verbindungen zwischen der Umwelt und den einheimischen Communitys. Die Folge ist oberflächliches Wissen und griffige Buzzwords.
Nehmen wir Palo-Santo-Holz als Beispiel. Es stammt von einem Baum, der in Mexiko, Peru, Costa Rica, Guatemala, Honduras, Ecuador und den Galapagosinseln wächst. Die Geschichte und die Idee dahinter werden extrem vereinfacht dargestellt: Verbrenne das duftende Holz, wie es die alten Schamanen tun und auch du kannst negative Energien abwehren.
Dadurch stieg die Nachfrage nach Palo-Santo-Holz enorm, wodurch Letztenendes wiederum dessen Ökosystem geschädigt wird.
Der Palo Santo selbst steht zwar nicht auf der Liste der vom Aussterben bedrohten Pflanzenarten, doch er stammt aus einem Lebensraum, der bedroht ist: dem tropischen Trockenwald. Das Holz wird von abgestorbenen Bäumen gewonnen, doch es ist wichtig, sicherzustellen, dass es von Menschen geerntet wird, die nicht den Lebensraum zerstören – und das ist nur schwer kontrollierbar, weil die Nachfrage exponentiell gestiegen ist.
Palo-Santo-Holz macht auch noch auf ein weiteres großes Problem der Millennial-Wellnessbranche aufmerksam: die Auswirkungen des trendigen, fixen Spiritualismus, der Praktiken kulturell aneignet und unvorhersehbare Konsequenzen hat.
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Laut eines Artikels auf Forage and Sustain haben einige indigene Menschen gesagt, dass einem das Holz eigentlich von einem Schamanen gegeben werden muss, damit man sichergeht, dass man es richtig verwendet. Das ergibt absolut Sinn – nicht nur in Bezug auf die korrekte Ausführung der Praktik, sondern, und das ist wesentlich, auch wenn es um das Management der Versorgungskette geht. Schließlich dauert es etwa 50 bis 70 Jahre bis der Baum alt genug ist und stirbt. Und erst dann kann das Holz geerntet werden.
Aktuell kannst du Palo-Santo-Holz auf Websites wie Goop und Etsy kaufen, wo du gleich noch ein Versprechen kostenlos obendrauf bekommst: Mit diesem Produkt kannst du deine Wohnung auf die Art und Weise reinigen, wie es die alten Schamanen tun. Klingt doch super, oder?
Tara Maitri, eine ethische Social-Media-Strategin, die verschiedene Marken berät, sagt, wir suchen zwar alle auf spirituellem Weg nach Antworten, doch wir leben immer noch in einer Convenience-Kultur. „Das ist eine Kultur, in der es darum geht, Probleme im Leben so schnell und bequem wie möglich zu lösen“, erklärt sie. „Wir kaufen spirituelle Dinge auf die gleiche Art und Weise ein, wie wir alles einkaufen, weil sie uns als ‚problemlösende Produkte‘ präsentiert werden, die schnell bei dir zu Hause ankommen und die auch ohne komplizierte Praktiken wirksam sind. Du musst sie einfach nur kaufen, in dein Haus stellen und all deine Probleme sind gelöst.“
„Die Produkte werden komplett von jeder Praktik oder Kultur getrennt, weil es nur noch darum geht, wie der oder die Endverbraucher*in von ihnen profitieren können. Doch in Wirklichkeit sind so viele ‚spirituelle Dinge‘ oder ‚Wellnessprodukte‘ nur der materielle Teil von tiefergehenden Praktiken oder speziellen Kulturen; es sind die stetigen Praktiken oder gelebten Werte der Kulturen, die die positiven Effekte tatsächlich bewirken.“
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Weißer Salbei ist das perfekte Beispiel genau dafür. Er ist eine der Pflanzen, die zum Räuchern benutzt wird – einer Zeremonie, die in den indigenen Communitys in Nordamerika verwurzelt ist und bei der heiliger Rauch verwendet wird, um negative Gedanken einer Person oder negative Energien an einem Ort zu vertreiben beziehungsweise diese zu säubern. Wegen des Hypes um die Praktik (zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Artikels gibt es bereits 117.510 Posts zum Thema #whitesage auf Instagram, Tendenz steigend), ist die Nachfrage nach Weißem Salbei angestiegen.
Die Pflanze wächst nur in Teilen von Nordmexiko und Südkalifornien und wird von der Natur geerntet. Die hohe Nachfrage hat zur Folge, dass die Menschen es stehlen und es „übererntet“ wird. Es wird auf eine Art und Weise geerntet, die nicht nachhaltig ist und die gegen die Praktiken der Kulturen verstößt, in denen die Nutzung ihren Ursprung hat.
Einheimische Communitys lassen immer die Wurzeln stehen und sagen ein Dankgebet dafür, die Pflanze ernten zu können. Dieser Teil wird als genauso wichtig betrachtet wie die Rauchzeremonie an sich. Er stellt eine Verbindung zwischen der Person und dem Land dar. Er lässt uns verstehen, wenn wir etwas von der Erde nehmen, müssen wir es auf die richtige Art und Weise tun und sicherzustellen, dass es nachhaltig ist und wir genug für die kommenden Generationen übrig lassen.
Das ist das Ethos, das das Handeln indigener Communitys auf der ganzen Welt bestimmt. Aboriginal People haben zum Beispiel eine der ältesten und schönsten Beziehungen zur Erde. Sie zogen abhängig von der Jahreszeit und Vegetation in andere Gebiete, um dem Ökosystem nicht zu schaden. Wenn ein Mensch zu viel nahm, wurde als Akt gegen die Natur gesehen. Die Idee einer kollektiven Verantwortung ist das Herzstück von allem, was die Aboriginal People tun.
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Die Millennial-Wellnessbranche muss sich also fragen: Ist unser Verhalten kollektiv verantwortbar? Oder nehmen wir uns zu viel (heraus), ohne groß über mögliche Konsequenzen nachzudenken?
Die Zerstörung des Planeten kann nicht ignoriert werden. Dennoch geht es nicht darum, dass die Menschen gar keine Rituale anderer Kulturen mehr praktizieren dürfen. Allerdings hat Wellness – besonders weiße Wellness – auch den Ruf, sich andere Kulturen anzueignen und sie hübsch verpackt und zusammen mit den passenden Hashtags und Bildern zu verkaufen – und dabei die Ursprungskultur aus dem Rennen zu werfen.
Die Hintergründe und die Geschichte des Wellnessrituals zu kennen, das wir durchführen, ist wichtig, denn dadurch können wir wohlüberlegt handeln. Die übermäßige Benutzung von Weißen Salbei bedeutet beispielsweise, viele Native Americans haben jetzt selbst gar nicht mehr die Möglichkeit, ihre eigenen Rituale durchzuführen. Bedenkt man jetzt noch, dass die US-Regierung bis 1978 sogar verboten hatte, Weißen Salbei zu verbrennen, weil es illegal für Native Americans war, ihre eigene Religion auszuüben, ist es umso offensichtlicher, dass weiße Wellness diesen Teil der Geschichte unbedingt respektieren muss, um nicht noch weiteren Schaden zu verursachen.
Das bedeutet wie gesagt nicht, dass weiße Menschen generell keine Rauchzeremonien machen oder kein Interesse an den Praktiken anderen Kulturen haben dürfen. Es geht einfach nur darum, achtsam zu sein und Fragen zu stellen – und zwar nicht nur die Umwelt betreffende Fragen. Natürlich sind diese auch wichtig, doch zu fragen, ob das Unternehmen, von dem du den Weißen Salbei oder das Palo-Santo-Holz kaufst etwas an die Community zurückgibt, ist von entscheidender Bedeutung.
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Ein weiterer Wellnesstrend ist Ayahuasca, eine bittere, dunkelbraune Flüssigkeit, die aus verschiedenen Pflanzen, wie der Lianenart Banisteriopsis caapi, hergestellt wird und für bewusstseinsverändernde Visionen sorgen kann (und oftmals auch dafür, dass man sich heftig übergeben muss). Noch vor ein paar Jahren musstest du jemanden kennen, der oder die ganz tief in die Wellnesswelt eingetaucht ist und dich mit in den Wald nimmt, um diese einzigartige Erfahrung machen zu können. Angeblich handelt es sich (trotz der Übelkeit) um ein unglaubliches, lebensveränderndes Ritual, das besonders hilfreich bei Traumata sein soll. Aber es muss unbedingt mit Vorsicht genossen werden. „Es hat sich zu einer Art ‚spirituellem Tourismus‘ entwickelt“, erklärt Natasha Piette Basheer, die als Campaign Manager bei Women’s Environmental Network arbeitet. „Leute fliegen aus Südamerika ein, weil sie ein abgepacktes Produkt kaufen wollen – sie wollen das Gebräu trinken und die Erfahrung einer traditionellen indigen Praktik erleben, die mit der Banisteriopsis caapi assoziiert wird.“
Ganz zu schweigen vom CO2-Fußabdruck (vermutlich werden in naher Zukunft nicht so viele Menschen nur zum Vergnügen Langstreckenflüge antreten) bedeutet die steigende Beliebtheit von Ayahuasca, Banisteriopsis caapi muss in größeren Mengen herangezogen werden. Und das hat die Natur so nicht vorgesehen.
„Die Verwendung der Pflanze hat ihren Ursprung in indigenen Zeremonien“, fährt Natasha fort, „und wurde damals nur von den Schamanen selbst konsumiert – für den Massenkonsum war es ursprünglich nicht gedacht. Durch die zunehmende Beliebtheit von Ayahuasca und den dadurch resultierenden Tourismus entstand eine Versorgungsknappheit und der kommerzielle Anbau hat zu gefährlichen Alternativen und der Abholzung der Wälder geführt.“
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Auch wenn manche von uns ein ehrliches Interesse an anderen Kulturen haben und keine bösen Hintergedanken haben, ist es wichtig, das Unternehmen zu hinterfragen, von dem wir die Produkte beziehen. Außerdem müssen wir uns bewusst sein, dass wir eine positive, fast bedingungslose Voreingenommenheit zu allem haben, was „Wellness“ heißt.
„Ich denke viele gehen davon aus, alles, was ‚Wellnessprodukt‘ oder ‚spirituell‘ heißt, ist automatisch auch ethisch unbedenklich“, merkt Tara an. „Ich denke das liegt unter anderem daran, dass für die Produkte eine bestimmte Ästhetik genutzt wird, die sich von konventionelleren Produkten unterscheidet.“
Nehmen wir mal Edelsteine als Beispiel. Zwar ist die Intention dahinter gut, doch es handelt sich hier um ein milliardenschweres Business. Sie werden benutzt, um Wasser zu veredeln, für Klarheit zu sorgen, Liebe anzulocken – es gibt Edelsteine und Kristalle für so gut wie jeden Aspekt des Lebens. Doch die Steine sind nicht endlos verfügbar und wenn sie vom Supermarkt um die Ecke bis hin zum Yoga-Studio überall ausverkauft sind, wie nachhaltig können sie dann wirklich sein?“
„Wie bei den meisten Mineralien ist es schwer, die exakten Kosten für Mensch und Natur auszumachen, die mit dem einzelnen Edelstein in deiner Hand einhergehen; doch wir wissen, sie sind nicht unwesentlich“, sagt Payal Sampat, Bergbauprogramleiter bei Earthworks, einer gemeinnützigen Organisation, dessen Ziel es ist, die Umwelt und die lokalen Communitys zu beschützen. „Bergbau hat Auswirkungen auf die Umwelt… Diese Edelsteine liegen nicht einfach in der Gegend herum und warten darauf, eingesammelt zu werden. Sie müssen aus der Erde extrahiert werden, manchmal mit erheblichen Folgen für die Umwelt und oft mit ernsten Arbeitsrechtsverstößen – inklusive Kinderarbeit. Sie wären deutlich heilsamer für die Erde, wenn wir sie einfach im Boden lassen würden.“
Wenn wir durch Wellness geheilt werden wollen, müssen wir darauf achten, dadurch weder dem Planeten noch anderen Menschen Schaden zuzufügen. Und wir müssen auf jeden Fall sicherstellen, dass das, was wir tun und wie wir es tun im Einklang mit Feminismus steht, weil wir bedenken müssen, dass der Klimawandel Frauen of Colour und indigene Frauen oft am härtesten trifft.
Millennial-Wellness hat aktuell bedauerlicherweise den Ruf, eine schnelle Freude oder Lösung zu sein, doch das muss nicht so bleiben. In diesen schwierigen, unsicheren Zeiten brauchen viele von uns Spiritualität mehr denn je. Aber es liegt an uns, uns vorab zu informieren und achtsam mit dem ganzen Thema umzugehen. Die Communitys, die am meisten mit der Natur in Harmonie leben gehören zu den ältesten der Erde; sie sind rücksichtsvoll, handeln wohlüberlegt und nehmen nur das, was sie brauchen. Trends kommen und gehen, aber diese Lektion ist nicht ohne Grund zeitlos.
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