Als ich das erste Mal mit den Fingern ein Augenbrauenhaar herauszupfte, fühlte ich einen so starken Dopaminschub, dass ich weinte. Ich war Anfang zwanzig, lag im Bett meiner damaligen Freundin, und versuchte nach einer Nacht, in der ich von einer verrauchten Lagerhallenparty in die nächste geschleift wurde, endlich einzuschlafen. Ich bin sehr introvertiert und habe obendrein auch noch mit einer Angststörung zu kämpfen – die meisten Partys sind, wie du dir vorstellen kannst, eher nicht so mein Ding. Aber damals hätte ich buchstäblich alles getan, damit meine Freundin mich nicht verlässt. Spoileralarm: Sie hat mit mir Schluss gemacht. Nach sechs sehr turbulenten sechs Monaten Doch noch vor unserer Trennung hatte ich so viele meiner Augenbrauenhaare herausgerissen, dass ich kaum noch Augenbrauen hatte. Als die Beziehung vorbei war, sahen meine Augenbrauen aus wie die von einem Cartoon-Bösewicht. Sie waren kurz und immer nach unten gerichtet, so als wäre ich ständig wütend. Drei Monate später stellte man bei mir eine Trichotillomanie fest – da hatte ich schon überhaupt keine Augenbrauen mehr.
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Trichotillomanie ist eine Impulskontrollstörung, die Menschen – wie mich – dazu bringt, sich zwanghaft die Haare auszureißen. Bei mir sind es die Körperhaare. Es begann mit meinen Augenbrauen und weitete sich dann auf alle Haare, außer denen auf meinem Kopf, aus. Zu meinem Pech begann dieses zwanghafte Haareausrupfen zur gleichen Zeit, in der ich meine Genderidentität endlich zum Ausdruck bringen und deshalb meine Körperbehaarung wachsen lassen wollte.
Für viele queere Menschen ist die Körperbehaarung ein wichtiger Teil der Art, wie sie ihr Gender zum Ausdruck bringen. „Ich liebe meine dicken italienischen Haare auf meinen gebräunten Waden, die durch meine Tattoos sprießen“, meint Shelly, ein*e 27-jährige*r Fotograf*in aus New York.
Andere, wie Anjimile, ein 26-jähriger transmaskuliner Musiker aus Boston, sehen die eigene Körperbehaarung zusätzlich als Möglichkeit, ein Statement abzugeben. „Ich sehe meine Körperbehaarung als Teil meiner meiner trans Identität, aber sie ist für mich auch eine Möglichkeit, gegen die Erwartungen des Mainstream in Bezug auf das Körperhaar anzugehen“, sagt Anjimile.
Viele andere queere Menschen, die ich interviewt habe, haben Probleme mit dem kulturellen Zwang, sich rasieren zu müssen, aber auch mit ihrem eigenen Wunsch sich Haare am Körper zu entfernen. Abby, 24, ein*e bisexuelle*r Latinx-Student*in (das x stellt eine genderneutrale Form dar, die anstelle von Latina oder Latino verwendet werden kann), erklärt: „Historisch gesehen ist die Art und Weise wie wir mit unserer Körperbehaarung umgehen stark rassistisch geprägt. Wer nämlich weniger Haare am Körper hat, wird mit einer weißen Hautfarbe und somit auch mit Sauberkeit und Zivilisation in Verbindung gebracht. Für mich war es eine Herausforderung anzuerkennen, dass ich mich rasiert einfach besser fühlte, und gleichzeitig zu verstehen, dass dieses Gefühl von Natur aus rassistisch verwurzelt ist. Wenn Abby sich die Haare am Körper entfernt, dann nur für sich selbst. „Ich will und verdiene es, Entscheidungen über meinen Körper treffen zu können und mich in meiner eigenen Haut wohl zu fühlen. Das heißt für mich eben oft, meine Körperbehaarung zu entfernen.“
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Und manche lassen an einigen Stellen ihre Haare wachsen, während sie diese an anderen entfernen. Auf diese Weise machen sie ihre Genderidentität deutlich, wenn Worte dafür nicht mehr reichen. Lily ist 23 und rasiert sich die Beine, lässt sich aber die Achselhaare wachsen: „Ich identifiziere mich als Frau, bin aber hin und wieder genderneutral. Ich identifiziere mich nicht als nicht-binär oder trans*, aber meine Körperbehaarung (wie auch meine kurzen Kopfhaare) geben mir das Gefühl, ich zu sein. Manchmal sind es die kleinen Dinge, die dir Identität geben“.
Vor zwei Jahren warf ich meinen Rasierer weg, den ich mit 12 Jahren gekauft hatte. Als ich den Rasierer in die Tonne verbannte, durchströmte mich derselbe Dopaminschub, wie der, den ich damals durch meine Trichotillomanie erlebt hatte. Es fühlte sich richtig an, meine Beinhaare, Achseln und meine Bikinizone wachsen zu lassen.
Ich erinnere mich an das erste Mal, als ich einen Badeanzug mit unrasierten Beinen trug. Ich hatte sie einige Monate lang wachsen lassen, und das dünne, dunkle Haar, das bis zu meinen Oberschenkeln wuchs, gab mir das Gefühl, tief mit meiner Weiblichkeit verbunden zu sein. Die Überschneidung von Gender und Queerness hat mein Gehirn seit Jahren beschäftigt – Worte wie femme und butch fühlen sich für mich nicht gut an. Und obwohl ich mich schon immer nach Androgynität sehnte, fühlte ich mich so, als würde ich mich jeden Tag selbst anlügen – das änderte sich, als ich aufhörte, mich zu rasieren. Ich sah zu, wie die Haare auf meinen Beinen, in den Achselhöhlen und über mein Schambein wuchsen, und ich fühlte mich stark und sexy und extrem androgyn. Aber als meine Augenbrauen ihre letzten Haare verloren, konnten sich meine Finger nur noch auf die groben dicken Locken stürzen, die überall auf meinen Körper waren. Obwohl ich mich versuchte zusammenzureißen, konnte ich nicht gegen die Trichotillomanie ankämpfen. Ich begann mir alle Körperhaare herauszuzupfen.
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Für viele queere und trans* Menschen ist die Haarentfernung ein wichtiger Part des Ausdrucks ihres Genders. Avery, 35, eine trans Frau aus Philadelphia rasierte sich die Beine und Arme, noch bevor sie mit der Hormontherapie begann. „Vor allem meine Gesichtsbehaarung war ein Problem“, meint sie. „Mittlerweile muss ich mich dort nur noch alle paar Tage rasieren, aber früher tat ich das jeden Tag. Letztes Jahr ging ich zur Laserhaarentfernung, wodurch meine Haare dünner wurden. Und jetzt mache ich eine Elektroepilation. Dadurch sollen sie komplett verschwinden.“ Als sie mit ihrer Transition begann, ließ sie sich zuerst die Haare auf dem Kopf wachsen. „Ich hatte schon immer eine recht komplizierte Beziehung zu meinen Haaren. Als ich noch bei meinen Eltern wohnte, durfte ich nie lange Haare haben. Jungs durften in einem so strikten christlichen Haushalt nicht mit langen Haaren herumlaufen.“
Durch die Hormontherapie konnte Avery freudig mitansehen, wie die Haare an ihrem Körper, die sie als zu maskulin empfand, endlich ausfielen. „Die Haare auf meiner Brust, meinen Oberschenkeln und Brustwarzen hörten einfach auf nachzuwachsen. Meine Haut ist weicher und die anderen Haare an meinem Körper wachsen langsamer“, sagt sie. Ihr gibt die Tatsache, dass sie jetzt weniger Haare hat, umso mehr das Gefühl, von anderen als Frau gesehen zu werden. Sie erzählt mir freudestrahlend, dass die Leute sie sehen und sie als Frau sehen, auch nachdem sie ihre tiefe Stimme gehört haben. Aber sie entfernt sich die Haare nicht nur für die Außenwelt: „Wenn ich in den Spiegel schaue, sehe ich eine Frau. Ich schaue in den Spiegel und sehe mich selbst“.
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Zwar ist es schon lange her, dass ich mir bewusst die Haare entfernen lassen wollte, aber Natalie Venus De Hull könnte die Person sein, die meine Meinung dazu ändert. Natalie ist 44 und betreibt ein gender-inklusives und für Body Positivity stehenden Sugaring-Salon in New York.
„Unser Kund*innenstamm ist sehr unterschiedlich. Einige wollen die Haare komplett entfernt haben, andere lassen sich lieber sehr extravagante Designs gestalten. Wir überreden niemanden zu irgendeinem Look. Wir sprechen mit ihnen über die Möglichkeiten, bereiten die Haut vor und informieren sie über jeden Schritt, bevor wir überhaupt auch nur ein Haar entfernen.“
„Mir gefällt der Gedanke, aus meinem Körperhaar ein Kunstbild machen zu lassen. Aber gleichzeitig habe ich das Gefühl, wegen meiner durch die Trichotillomanie verursachten narbigen Haut, verdiene ich es nicht. Also frage ich Natalie, ob ich denn trotz meiner Störung auch ein Sugaring machen lassen könnte. Natalie lacht nur und meint: „Ich habe das auch! Natürlich ist das kein Problem. Wir wollen für alle einen Raum schaffen, in dem sie sich sicher fühlen und keine Angst vor Verurteilung haben müssen. Stattdessen sollen sie bei uns die Hilfe bekommen, die sie für eine gesunde Haut brauchen. Wenn du schon zwanghaft deine Haare herauszupfst, dann zeigen wir dir, wie du es richtig machst.“ Das restliche Interview führe ich nur noch unter Tränen.
Natalies Ziel ist es, eine positive, bestärkende und verständnisvolle Atmosphäre zu schaffen. „So viele unserer Kund*innen haben körperbezogene Traumata erlebt und sind in einem wütend-ängstlichen Zustand. Und gerade für sie ist es meiner Meinung nach wichtig zu sehen, dass ihr Körper wie in einem Ritual zelebriert wird“, erklärt Natalie. Nach dem Gespräch mit Natalie bleibe ich erst mal einen Moment sitzen und denke über alles nach, was ich gelernt habe. Die Art wie Natalie über die Arbeit spricht, gibt mir ein Gefühl der Sicherheit; eine Sicherheit, die mir zeigt, ich kann nicht nur entscheiden, wie meine Körperbehaarung sein soll. Nein, ich kann in meinem Körper leben – auch wenn er haarlos und voller Narben ist.
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Heute habe ich weniger Haare am Körper als an dem Tag, an dem ich meinen Rasierer weggeworfen habe. Meine Beine sind immer noch behaart, aber sie haben mittlerweile viele kahle stellen. Meine Achselhöhlen habe ich komplett haarfrei gezupft und meine Bikinizone sieht aus, als wäre ich beim Waxing gewesen. Seit 2017 habe ich keine Augenbrauen mehr (stattdessen habe ich mir mit Microblading ein paar unechte aufmalen lassen). Und auch wenn ich mit einer Frau verlobt bin und mein Stil durch und durch androgyn ist, fühle ich mich so wenig wie ich selbst, als je zuvor.
Es ist eine kognitive Unstimmigkeit, über die du nicht nachdenkt, bis du sie erlebst. Ich möchte behaart sein, um zu zeigen, wer ich als Individuum bin. Aber dieses Individuum, entfernt zwanghaft die Körperbehaarung, die ich brauche, um ich selbst zu sein und es anderen zeigen zu können. Diese kognitive Unstimmigkeit schadet mir, aber vor allem ist sie mir zutiefst peinlich. Ich kann nicht kontrollieren, was ich sein will, und daran ist mein eigenes Gehirn schuld. Ich weiß nicht, ob ich eine Lösung habe – oder ob es dafür überhaupt eine gibt. Wenn, dann würde ich gerne die Art, wie ich mein Gender ausdrücke, von meiner Körperbehaarung trennen. Aber ich bin mir nicht sicher, wie ich Dinge, die so lange schon für mich miteinander einhergingen, jemals trennen soll. Im Moment kann ich nur mit dieser Unstimmigkeit leben.
Heute Morgen habe ich mir Panties angezogen, die meine Narben perfekt kaschieren. Dazu trug ich einen Calvin-Klein-Bralette mit einem dicken Band, das meine Tätowierungen am Oberkörper umrahmt. Ich schlüpfte in bequeme Shorts und ein Top mit Rundhalsausschnitt, um mich auf den Arbeitstag vorzubereiten – im Home Office. Die ersten Stunden des Morgens verbrachte ich auf meiner Couch sitzend, meine haarigen Beine glänzten im Sonnenlicht, aber meine Finger waren zu beschäftigt, um sie herauszuzupfen.
Für einige Augenblicke hatte ich Ruhe. Für einige Augenblicke konnte ich vergessen.
Alle Interviews wurden der Länge und Klarheit wegen bearbeitet.
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