Als die 31-jährige Rebecca Anfang 2019 die Diagnose Brustkrebs bekam, war ihr Sexleben für sie eine willkommene Ablenkung. „Wir fühlten uns plötzlich wieder wie Teenager. Es gibt nichts Besseres, als mit deiner eigenen Sterblichkeit konfrontiert zu werden, um dich lebendig zu fühlen – und nichts gibt dir ein lebendigeres Gefühl als Sex“, erzählt sie. „Durch den Krebs fühlte ich mich von meinem Körper im Stich gelassen, und der Sex war meine Art, wieder mit ihm Frieden zu schließen“, sagt sie.
Als Rebecca allerdings ihre Chemotherapie begann, wirkte sich diese Behandlung nach und nach auf ihr Sexleben aus. Sie litt unter vaginaler Trockenheit, dann unter Vaginismus – wobei sich die Vaginalmuskeln so verkrampfen, dass eine Penetration nicht möglich ist. „Als ich meine Ärztin danach fragte, ob das eine normale Nebenwirkung der Chemo sei, war sie sich nicht sicher – weil niemand darüber spricht.“
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Obwohl pro Jahr in Deutschland über 400.000 Menschen an Krebs erkranken, wird im medizinischen Kontext kaum über seine Auswirkungen auf Sex und Intimität gesprochen – geschweige denn im öffentlichen Diskurs. Dabei wirkt sich eine Krebsbehandlung natürlich in vielerlei Hinsicht auf dein Sexleben aus. „Die häufigsten Probleme, die ich bei betroffenen Frauen beobachte, sind der Verlust der Libido, Erregungsschwierigkeiten oder vaginale Beschwerden wie Schmerzen“, erklärt die Psychosexualtherapeutin Isabel White, die vor allem mit ehemaligen oder akut erkrankten Krebspatient:innen zusammenarbeitet.
Aber woran liegt das? Das hat sowohl mit den körperlichen als auch den geistigen Auswirkungen der Behandlung zu tun. „Das kann körperliche Auslöser haben – wie zum Beispiel die behandlungsbedingte Menopause, die häufig nach der Behandlung hormoneller Brustkrebsarten einsetzt –, aber auch mentale. Schlechte Stimmung und Angst sind unter Krebspatient:innen weiter verbreitet, verglichen mit der allgemeinen Bevölkerung. Beides kann sich stark negativ auf das sexuelle Wohlbefinden auswirken.“ Auch körperliche Veränderungen können hier eine Rolle spielen. „Haarverlust, Gewichtsschwankungen oder der Verlust von als erotisch empfundenen Körperteilen kann dem körperlichen Selbstbewusstsein sowie der Fähigkeit schaden, andere intim an uns heranzulassen“, ergänzt Isabel.
Bronte, der mit 21 Leukämie diagnostiziert wurde, erschwerten die körperlichen Auswirkungen der Krankheit das Sexleben mit ihrem Freund. „Ich war oft erschöpft, wenn ich mich mit ihm treffen konnte, oder fühlte mich einfach sehr krank. Da hatte ich überhaupt keine Lust darauf, mich vor ihm auszuziehen. Weil sich mein Körper so stark veränderte, hatte ich enorme Selbstbild- und Identitätsprobleme, wegen derer ich mich größtenteils selbst hasste und mich überhaupt nicht mit dem verbunden fühlte, was ich im Spiegel sah. Das wirkte sich extrem auf unsere Intimität aus, weil ich mich in meiner Haut einfach nicht wohl fühlte – und erst recht nicht sexy.“
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Auch die organisatorischen Aspekte der Krankheit wurden zur Herausforderung. „Wir waren beide noch an der Uni. Als ich die Diagnose bekam, zog ich für die Behandlung zurück zu meinen Eltern. Das hieß aber auch, dass wir jetzt drei Stunden voneinander entfernt wohnten“, erklärt Bronte. Ihr Sexleben neu zu entdecken, war jetzt ein schwieriger Prozess. „Drei Jahre später bin ich immer noch dabei, mich langsam wieder heranzutasten und neue Interessen und Wünsche zu erkunden. Während ich mich selbst wieder kennenlernte und langsam auch mein Spiegelbild wiedererkannte, wurde ich selbstbewusster – die Intimität ergab sich dann ganz natürlich. Es dauerte extrem lange, bis ich wieder wirklich Lust hatte, aber ich habe das Glück, einen total verständnisvollen Partner an meiner Seite zu haben, der das alles mit mir durchgestanden hat.“
Einigen Krebspatient:innen wird sogar dazu geraten, komplett auf Sex zu verzichten. Maria, die mit 17 die Diagnose Leukämie bekam, wurde damals gesagt, sie solle sämtliche sexuellen Aktivitäten vermeiden, um das Infektionsrisiko zu reduzieren. „Das war wie ein imaginärer Keuschheitsgürtel“, erzählt sie. Damals war sie Single und stellte fest, dass ihre Libido auch völlig verschwand. „Vorher dachte ich oft an Romantisches und Sex, aber das war irgendwann komplett weg“, sagt sie. Während dieser Zeit zerbrach sie sich den Kopf darüber, wie sie je wieder daten sollte. „Das machte mich echt depressiv. Ich dachte, ich würde niemals gut genug für jemanden sein, weil ich mir sicher war, nie den Erwartungen irgendeines Typen entsprechen oder ‚mithalten’ zu können.“
Auch Kimia, die jetzt 30 ist, hatte Schwierigkeiten mit dem Dating, nachdem sie mit 21 ihre Krebsdiagnose bekam. „Anfangs machte ich mir Sorgen darüber, wie ich wieder daten sollte. Als mein Selbstbewusstsein aber nach meinem Coming-out als bisexuell wuchs, dachte ich mir: So bin ich eben, und wenn meine eventuellen Partner:innen ein Problem mit meiner Krebsgeschichte haben, ist das ihr Problem. Sobald die Leute meine Narben sehen, erzähle ich ihnen die ganze Story“, meint sie. „Zum Glück bin ich inzwischen in einer Beziehung mit jemandem, der:die mich überhaupt nicht anders behandelt.“
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Einigen Frauen wird die Neuentdeckung ihrer Sexualität nach der Krebserkrankung zusätzlich durch die Medikamente erschwert, die den Krebs von der Rückkehr abhalten sollen. Joon, bei der mit 37 Brustkrebs entdeckt wurde, musste zehn Jahre lang Tamoxifen nehmen. Diese häufig verschriebene Medizin sorgt für eine frühe Menopause. „Das fühlt sich so an, als würde der intimste Teil von dir – deine Haut, deine Sexualität und dein Sexleben mit deinem:deiner Partner:in – plötzlich einfach verschwinden. Du fühlst dich wie eine alte Frau“, erzählt sie. „Ich hatte vorher ein gesundes Sexleben, hatte plötzlich aber überhaupt keine Lust mehr darauf. Vaginale Trockenheit ist auch extrem nervig.“
Im Gegensatz zum Angebot für Männer (Viagra zum Beispiel) gibt es außerdem weniger Optionen für Frauen, was die medikamentöse Verbesserung des Sexlebens angeht. „Es ist schwer, die finanziellen Mittel für die Forschung an sexuellen Problemen unter Frauen zu bekommen, weil ein Großteil dieses Geldes eben von Pharma-Unternehmen kommt“, betont Isabel.
Das fehlende Wissen in diesem Bereich ist in meinen Gesprächen mit Betroffenen immer wieder ein Thema. Die 24-jährige Lynsey war überrascht davon, wie wenig sie im Frühjahr 2021 über ihre Verhütungsmethoden nach ihrer Brustkrebsdiagnose aufgeklärt wurde. Weil ihr Krebs hormonell war, musste sie die Pille absetzen. „Dir wird zwar klargemacht, dass du während deiner Krebsbehandlung nicht schwanger werden darfst – aber über Alternativen [zur Pille] wurde ich nicht aufgeklärt“, erklärt sie. „Zwar wird dir nahegelegt, wegen der Medikamente in deinem Körper lieber Kondome zu benutzen, aber niemand scheint zu wissen, ob das nur direkt nach der Chemo gilt oder bis zu einer Woche danach“, sagt sie. „Es ist traurig, dass es dazu nicht mehr Forschungsergebnisse oder Informationen zu geben scheint.“
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Wenn man dann doch die richtige Unterstützung bekommt, kann das lebensverändernd sein. Während ihrer Leukämiebehandlung war Maria in einer Frauen-Klinik, in der sie sich mit einer Krankenpflegerin so wohl fühlte, dass sie mit ihr offen über ihr Sexleben sprechen konnte. „Obwohl die Informationen, die sie für mich hatte, eher für ältere Patientinnen gedacht waren, gaben sie mir doch ein bisschen Selbstbewusstsein zurück. Ohne den Rat dieser Pflegerin hätte ich mich wohl nicht getraut, wieder mit dem Masturbieren oder Daten anzufangen.“
Dank einiger Frauen – wie dieser Pflegerin – ändert sich die öffentliche Diskussion rund um Sex und Krebs hoffentlich allmählich. „Wir müssen dringend darüber sprechen, damit das den betroffenen Frauen nicht so unangenehm und peinlich ist und die medizinische Community begreift, wie wichtig das Thema ist“, meint Rebecca. Als Produzentin für die Regisseurin Erika Lust, die ethische Pornos dreht, beschloss Rebecca, ihre Position genau zu diesem Zweck einzusetzen.
„Ich wollte einen Film über Krebs drehen, in dem es nicht um den Tod geht. Aus kultureller Sicht hinken wir dem medizinischen Krebs-Fortschritt 30 Jahre hinterher. Wir betrachten den Krebs immer noch als automatisches Todesurteil, und das stimmt so einfach nicht“, sagt sie. Immerhin beträgt die Überlebensrate für junge Krebs-Patient:innen 87 Prozent. „In der Gesellschaft ist Krebs ein Tabuthema, weibliche Sexualität ebenfalls. Wenn du dann auch noch beides miteinander kombinierst, ist das ein doppeltes Tabu“, meint sie. Inspiriert von ihrer eigenen Erfahrung ist ihr Film Wash Meein intimes, hoffnungsvolles Porträt einer Frau, die nach ihrer Krebserkrankungen ihren Körper und ihre Sexualität wiederentdeckt. Der Film soll auf die Intimitätsprobleme aufmerksam machen, unter denen so viele Betroffene schwerer Krankheiten leiden – und gleichzeitig andere Betroffene dazu inspirieren, ihre Sexualität nicht aufzugeben, sondern wiederzufinden.
Auch Joon will mit ihrer Plattform sexwithcancer.com die öffentliche Debatte in eine neue Richtung lenken. In Zusammenarbeit mit einem Freund, dem Künstler und ehemaligen Krebspatienten Brian Lobel, hat sie damit einen Sex-Shop kreiert, der gleichzeitig jede Menge Informationen rund um die Themen Sexualität und Krebs und eine Sammlung zahlreicher persönlicher Geschichten zu bieten hat. „Wir müssen anfangen, Krebs als chronische Erkrankung zu sehen – wie geistige Erkrankungen oder Diabetes. Wir müssen aufhören, dabei immer nur ans pure Überleben zu denken, und stattdessen überlegen, wie wir unsere Leben voller auskosten können“, erklärt sie. „Das Leben dreht sich so oft um Intimität und Lust. Und was ist schon ein Leben wert, in dem es nur ums Überleben geht?“
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