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Ich habe meine Bildschirmzeit eine Woche lang gegen Lesen ausgetauscht

Foto: Tino Chiwariro
Wir zerbrechen uns schon seit langer Zeit den Kopf darüber, wie viele Stunden wir täglich vor unseren diversen Bildschirmen verbringen – vor allem, was Kinder angeht. Aber erst mit der Einführung der „Bildschirmzeit“ auf iPhones und vergleichbaren Tools auf Android-Handys bekamen wir 2018 einen handfesten, ungeschminkten Denkzettel zu unserer Smartphone-Nutzung verpasst. Genau dieses rechteckige Teil, von dem wir so abhängig sind, lieferte uns jetzt eine Aufschlüsselung der Zeit, die wir vor unserem Display verbringen – ob nun mit dem Scrollen durch Social Media oder dem Navi auf dem Weg zu einem Termin.
Vor Corona lag unsere durchschnittliche Handy-Bildschirmzeit pro Tag bei etwa 3,7 Stunden; durch die Pandemie dürfte diese Zahl in den letzten Jahren noch weiter weiter gestiegen sein. Das sind insgesamt über 40 Tage im Jahr. Wenn man noch alle anderen Bildschirme hinzunimmt, die uns so umgeben – Laptops, Fernseher, Spielekonsolen und Co. –, sind wir inzwischen bei 10,4 Stunden Bildschirmzeit pro Tag (vor Corona waren es Studien zufolge noch „nur“ 8 Stunden täglich). Das ist der überwältigende Großteil der wachen Tagesstunden. 
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Konkrete Zahlen wie diese – und das Bewusstsein über die eigenen am Handy verbrachten Stunden – bringen immer mehr Leute zum Nachdenken. Was könnte man denn stattdessen mit dieser Zeit anfangen? Französisch lernen! Ein neues Hobby anfangen! Und wie in der YouTube-Challenge der YouTuberin The Book Leo: mehr lesen!
Zugegeben: Lesen fiel und fällt vielen von uns während der Pandemie sehr schwer. Ganz egal, wie viel Spaß es dir macht – deine Aufmerksamkeit wurde während der letzten anderthalb Jahre einfach von so vielen anderen Dingen beansprucht, und eine schöne Scroll-Session durch Instagram und TikTok oder ein Netflix-Serien-Marathon beruhigten deine gestressten Nerven vielleicht einfach leichter und schneller. Das liegt zum Teil daran, dass das Lesen eben anders funktioniert; es verlangt dir mehr Mühe, mehr Konzentration und Aufmerksamkeit ab als andere Formen der Unterhaltung. Noch dazu fehlt vielen von uns gerade die sonst so gewohnte Lesezeit, zum Beispiel auf dem Arbeitsweg oder während der Mittagspause.
Und genau deswegen beschloss ich, meine Handy-Bildschirmzeit (täglich zwei Stunden, 35 Minuten) in Lesezeit umzuwandeln. Mir geht es dabei weniger darum, meine Bildschirmzeit insgesamt runterzukriegen; ich habe früher im Social-Media-Bereich gearbeitet, habe schon vor langer Zeit alle Social-Media-Apps von meinem Handy gelöscht und nutze mein Smartphone eher als Tool gegen meine Unruhe (an dieser Stelle ein Dankeschön an die Headspace-App und das Spiel Matchington Mansion). Trotzdem habe ich das Gefühl, dass meine Konzentration gerade sehr zu wünschen übrig lässt, und ich habe so viele Bücher, die ich lesen möchte und es dann doch nie tue. Stattdessen hänge ich ziellos rum und verlasse mich auf Hobbys, die meine Unruhe besänftigen, ohne dass ich groß dabei denken muss: Grey’s Anatomyund Stricken. Ich will wieder mehr lesen, brauche dafür aber einen Anstoß.
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In der kommenden Woche habe ich kaum soziale Verpflichtungen, aber jede Menge Self-Care im Kalender zu stehen. Die Pandemie hat sich (wenig überraschend) nicht so gut auf meine Zwangsstörung ausgewirkt, und ich arbeite aktuell hart daran, meine Zwänge zu kontrollieren. Konkret heißt das: tägliche Meditationsübungen, eine bessere Schlafhygiene und Sport. Meine Vollzeitjob und meine neue Lesepriorität dürften das Ganze zur Herausforderung machen.
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Tag 1

Ich beschließe, direkt stark loszulegen, und lese schon in meiner Mittagspause – Zeit, die ich sonst auf YouTube, mit Kochen oder, bei erträglichen Temperaturen, mit Joggen verbringe. Die Entscheidung, sie nun dem Lesen zu widmen, fühlt sich gut an; ich bin so aus der Übung darin, meine Zeit zu organisieren, dass ich jetzt dazu gezwungen bin, auch anderen Angewohnheiten eine gewisse Struktur zu verpassen.
Ich greife zu Black Water Sister von Zen Cho, das ich schon vor ein paar Wochen kurz angefangen habe. Meine Gedanken wandern zwischendurch, aber größtenteils zieht mich die Geschichte der malaysisch-amerikanischen lesbischen Frau in den Bann, die zurück nach Malaysia zieht und dort von dem Geist ihrer Großmutter heimgesucht wird. Am meisten erstaunt mich, wie schläfrig ich nach 50 Minuten bin. Ich bin es nicht mehr gewöhnt, nur von Wörtern auf einer Seite stimuliert zu werden. Ich kehre ruhiger, aber irgendwie benommen zur Arbeit zurück.
Nach dem Einkaufen, Kochen und Abendessen hatte ich circa eine Stunde, 45 Minuten Lesezeit übrig und wusste, ich sollte jetzt lesen, bevor ich zu müde war. Leider machte ich den Fehler, im Wohnzimmer zu lesen, wo meine Frau Grey’s Anatomy schaute. Ich hörte mir zwar eine der Konzentrationsplaylists von Headspace an, um Merediths Drama auszublenden, war aber doch nicht immer komplett fokussiert. Was soll ich sagen? Es ist halt eine gute Serie! Ich schaffte es trotzdem, meine Lesezeit abzuhaken und, was noch viel wichtiger ist, ließ mich von Black Water Sister richtig fesseln.
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Tag 2

Der Tag ging gut los: Ich hatte vor der Arbeit meinen zweiten Impftermin, was bedeutete, dass ich tatsächlich mal wieder einen Fahrtweg zum Lesen hatte. So schaffte ich schon ganze 40 Minuten Lesezeit vor dem Arbeitsbeginn. Das machte mich ziemlich selbstzufrieden, klar, aber ließ mich gleichzeitig auch nostalgisch an die Zeit zurückdenken, als ich dauernd so tief in einem Buch steckte, dass ich lesend von U-Bahn-Gleis zu U-Bahn-Gleis wanderte. Indem ich mich dazu zwang, mich in das Buch zu stürzen, wurde mir wieder klar, wie einnehmend das Lesen sein kann. Dabei half auch, dass es in dem Buch um Geisterbesessenheit, Malaysia und Lesben geht – alles genau mein Ding.
Den Rest meiner Lesezeit erledigte ich nach der Arbeit, wie eine Teenagerin auf meinem Bett liegend. Am Ende des Tages hatte ich das Buch durch (innerhalb von zwei Tagen!) und durfte mir ein anderes aussuchen. 

Tag 3

Lesetechnisch sah der Tag vielversprechend aus. Ich hatte frei, weil ich mich am Tag nach meiner ersten Impfung furchtbar gefühlt und daher heute präventiv einen Urlaubstag eingeplant hatte. Der fiel aber harmlos aus: Ich hatte morgens bloß ein bisschen Kopfschmerzen und fühlte mich, als hätte ich noch ewig weiterschlafen können.
Was mir dieses Experiment bisher am deutlichsten zeigt, ist, dass meine Konzentration echt im Eimer ist. Abgelenkt zu werden, ist für mich zu so einem normalen Teil des Alltags geworden, dass es sich richtig seltsam anfühlt, mich mal über längere Zeit hinweg auf nur eine Sache – das Lesen – zu konzentrieren. 
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Meine Lesezeit teilte ich in zwei Hälften auf. Die erste Hälfte erledigte ich mit den Olympischen Spielen im Hintergrund. Die Geräuschkulisse des Bogenschießens und die ruhige Moderation dazu lenken mich deutlich weniger ab als Meredith, die jemandem eine Bombe aus dem Brustkorb (?!) zieht – und ich kann mich tatsächlich auf die Worte vor meinen Augen konzentrieren. Ich habe jetzt ein neues Buch angefangen, nämlich Objects of Desirevon Clare Sestanovich, eine Kurzgeschichtensammlung, von der ich nur Gutes gehört habe. Keine davon spricht mich richtig an, aber bei Kurzgeschichten bleibt immer die Hoffnung, dass die nächste die eine Geschichte sein könnte, die die ganze Sammlung für dich zum Leben erwecken.
Die andere Hälfte meines Lesetags (eine Stunde, 20 Minuten) erledige ich vor dem Schlafengehen. Wenn etwas gleichzeitig Pflicht und Vergnügen ist, entsteht da diese komische Spannung – so ähnlich wie beim Sport oder Meditieren: Ich muss das jetzt für so-und-so-lange machen, aber sobald ich loslege, macht es mir Spaß.

Tag 4

Das Ding mit solchen Verpflichtungen ist: Sie versuchen, deiner Zeit Struktur einzuhauchen – diese Struktur ist aber komplett erfunden und von deinem Willen abhängig. Wenn ihr das Leben in die Quere kommt, zerreißt sie so leicht wie ein Spinnennetz. Und heute kam mir mein Leben in die Quere.

Zuerst verschlief ich und hatte dann die wenig beneidenswerte Aufgabe, unsere alte Wohnung vor der Schlüsselübergabe sauberzumachen. Gefolgt von genereller Lebens-Orga hieß das, dass ich den Großteil meines Tages nicht mit dem Lesen verbrachte – und sobald ich dann endlich die Zeit dazu hatte, fiel es mir sehr schwer, mich darauf zu konzentrieren.

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Ich schaffte nur eine Stunde und 35 Minuten. Es fühlt sich fast absurd an, hier von „nur“ zu sprechen, weil es ja eine ganze Menge Zeit für ein Hobby ist; weil mir aber die „zwei Stunden, 35 Minuten“-Vorgabe im Hinterkopf rumspukten und die Kurzgeschichten mir nicht wirklich gefielen, hielt sich der Spaß in Grenzen. Normalerweise bin ich absolut davon überzeugt, dass man kein Buch weiterlesen sollte, das man nicht gerne liest; weil ich aber daran glaubte, dass die nächste Geschichte „die eine“ sein könnte, zog ich es weiter durch. Zum Glück gefiel mir die letzte Geschichte wirklich gut, und dann durfte ich mir noch das nächste Buch für den nächsten Tag aussuchen – meine Wahl fiel auf die Novelle Summerwater von Sarah Moss. 

Tag 5

Und wieder macht mir das Leben einen Strich durch die Rechnung. Alltägliche Sachen wie Kochen, Putzen und für meine Psyche Wichtiges wie Meditation, Joggen, frühes Schlafengehen kommen mir in die Quere und rauben mir viel Zeit. Dadurch wird es zur Stressquelle, mir eine feste Zeit zum Lesen freizuhalten. 
Wie auch bei all den anderen Sachen, die ich gerade aufgelistet habe, sorgte das Lesen aber spürbar für eine Verschnaufpause in meinem Hirn: Ich fühlte mich ruhiger, konzentrierter und von dem Buch in meiner Hand in den Bann gezogen. Es fiel mir daher deutlich leichter, ganze zweieinhalb Stunden lang zu lesen.
Summerwater ist eine atmosphärische, fast schon klaustrophobische Geschichte aus verschiedenen Gedanken-Perspektiven, die von einem Sommertag in einem schottischen Freizeitpark erzählt. Als unruhige Person fand ich es tröstend, dass scheinbar auch die Gehirne anderer Leute Gedanken am Fließband produzieren, und die Charaktere fühlten sich sehr real an. Es liest sich wie ein Fenster in die Köpfe einer zufälligen Gruppe Menschen, die am Ende eines normalen, regnerischen Tages vom Schicksal zusammengeworfen werden.
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Ich las Summerwater in einer Sitzung durch und ging zu meinem ersten nicht-fiktiven Titel über – The Awakened Brain von Lisa Miller. 

Tag 6

Wenn du etwas tun musst, lässt die Motivation definitiv irgendwann nach. Obwohl ich nach der Arbeit zwei Stunden damit verbrachte, mich durch The Awakened Brain zu arbeiten (das davon erzählt, wie unsere Psyche mit unserer Spiritualität zusammenhängt), fühlte es sich wie Arbeit an, weil ich es tun musste.
Nachdem ich für den Tag mit meinem Lesen durch war, unterhielt ich mich darüber am Telefon mit einer Freundin. Wir versuchen alle immer, unsere Hobbys und Leidenschaften in kleinen Portionen in unseren Kalender zu integrieren, damit wir uns nicht zu viel aufhalsen – und obwohl das unsere Alltagsplanung definitiv vereinfacht, verfehlen wir dabei manchmal den Zweck: Ob wir für etwas „Zeit“ haben, ist weniger wichtig, als dass wir uns wirklich darauf konzentrieren können.

Ob wir für etwas „Zeit“ haben, ist weniger wichtig, als dass wir uns wirklich darauf konzentrieren können.

An diesem Punkt im Experiment ist genau das mein Problem: Meine Konzentrationsfähigkeit ist nicht auf ihrem Höhepunkt. Aus diversen Gründen schwirrt mir dauernd der Kopf, und obwohl das Lesen mein hyperaktives Hirn zwar nicht verschlimmert, hilft es mir auch nicht dagegen – zumindest nicht an diesem Tag. Das hat dabei aber gar nichts zu dem jeweiligen Buch oder zu meiner eigenen Psyche zu sagen, sondern ist einfach ein unglücklicher Zufall inmitten einer Lese-Challenge.

Tag 7

Mein letzter Tag war alles andere als ein Triumph.
Erneut versaute mir mein Alltag meine schönen Pläne. Diesmal lag es daran, dass meine Frau am Tag davor ihre zweite Impfung bekam und die ganze Nacht mit Fieber wach lag. Das Fieber ließ irgendwann nach – ihre schlaflose Nacht bedeutete aber eben auch, dass ich selbst kein Auge zubekam und mich den ganzen Tag komisch fühlte. Das Lesen verschob ich auf den Feierabend, und 40 Minuten lang lag ich lesend in der Badewanne und lauschte dem Regen. Ich hatte vor, den Rest der Lesezeit nach dem Abendessen zu erledigen; nachdem ich aber gegessen und mich mit dem Buch aufs Sofa gelegt hatte, spürte ich die beruhigende Nachwirkung des Bads. Obwohl ich mich für das Buch interessierte und mich zum Lesen verpflichtet fühlte, fielen mir die Augen zu. Ich gab schließlich auf, als ich eine Stunde weitergelesen hatte, und verzog mich um halb zehn ins Bett. Hach ja, das Erwachsenenleben ist schön!
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Diese Woche hatte zwei Zwecke: Sie war der Versuch, die Freude am Lesen wiederzuentdecken, und ein Konzentrationsexperiment. Meine Bildschirmzeit sollte sie nicht wirklich reduzieren – und das ist gut, weil die durchschnittlich sogar um 20 Minuten zunahm (!). 
Das Leben wird uns immer wieder einen Strich durch die Rechnung machen und die Pläne durchkreuzen, die wir uns selbst so schön geschmiedet haben – ob es dabei nun darum geht, so-und-so-viele Minuten am Tag mit Lesen zu verbringen oder generell unsere Konzentration zu verbessern. Die Übung, mir diese Ziele vorzunehmen, hat mir aber wieder mal gezeigt, dass unsere Bildschirmzeit an sich nicht die Quelle all unserer Probleme ist.
Im Laufe dieser Woche habe ich tatsächlich bemerkt, wie schön das Lesen ist, wenn du dir, anstatt ganz automatisch zu deinem Handy zu greifen, ein gutes Buch schnappst. Ich las zweieinhalb Bücher durch, die mir wirklich gefielen, und eins, das mich am Ende doch noch von sich überzeugte – und ich freute mich währenddessen richtig darauf, wieder zu meinem Buch zu greifen, selbst wenn mich die Verpflichtung einer gewissen Stundenanzahl ein bisschen störte.
Unsere fehlende Konzentration oder unser weniges Lesen nur auf unsere Handys zu schieben, kommt mir aber unfair vor. Klar sind die Handys enorme Zeitverschwender, aber eben auch wichtige Werkzeuge – sie sind unsere Karten, unsere Kalender, unsere Kommunikationsmittel, unsere Beruhigungsmechanismen, unsere Meditationsanleitung. Wir müssen unsere Bildschirmzeit nicht unbedingt runterschrauben, sondern sie anders zu schätzen lernen.
Anstatt uns zu zwingen, jeden Tag zu lesen oder niemals Zeit am Handy zu verschwenden, sollten wir einfach priorisieren, was wir gern tun und was uns ein gutes Gefühl gibt. An manchen Tagen heißt das eben, stundenlang vor Disney+ rumzuhängen und nebenbei auf TikTok zu scrollen. Bevor wir uns aber in diese passiveren Formen des Entertainments fallen lassen, sollten wir vielleicht erstmal nach Unterhaltung greifen, die uns etwas mehr fordert (ob nun Sport, Lesen, Telefonieren oder Meditieren). Nur, wenn wir diese Form der Unterhaltung als erste Option (nicht als Pflicht!) betrachten, können wir sie wirklich genießen. Nur dann fühlt sich unsere Konzentration wirklich natürlich an – und nicht so, als würden wir ein rechteckiges Buch in einen runden Kopf quetschen wollen.

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