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Warum ich als schwuler Mann oft einsam bin, seit ich mich geoutet habe

Am letzten Samstagabend war ich auf die Einweihungsparty einer WG eingeladen. Mit 27 Jahren passiert das nicht mehr so oft. Gewöhnlich nennen Freunde ihre Umzugsfeten heute Housewarming und bereiten überbordende Brunches statt Tequila-Runden vor.
Am Samstag ging es zurück zu den Wurzeln, weil eine meiner Besten mit einer ihrer Besten zusammen zog, um die nächsten Jahre das gemeinsame Leben zu genießen – bis der Druck von außen und vom Selbst zu groß wird, um auf den eigenen zwei Beinen in den eigenen vier Wänden zu stehen.
Ich hole mir ein Paar Bier, dann Weißwein und später mixe ich Gin Tonics in Gläsern. Ein willkommenes Upgrade zu kleinen, weichen Plastikbechern, die Anfang der Zwanziger das Erlebnis jedes noch so billigen Alkohols endgültig ruinierten. Ich rede mit Freunden und Franzosen, die ich nicht kenne, über The Walking Dead und erkläre, warum mir Trump und die AfD manchmal Angst machen. Wir singen gemeinsam Songs von Ronan Keating und tanzen auf den Dielen der Drei-Zimmer-Wohnung. Es ist ein schöner Abend. Ich bin umgeben von Personen, die meine Personen sind oder es sein könnten, denke ich. Ich lache viel und trinke den Rest.
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Um vier Uhr nachts bestelle ich mir bierselig ein Taxi nach Hause. Doch als ich im Wagen sitze, in dem klassische Musik Berlin romantisch einfärbt, breitet sich ein Gefühl wie eine unangenehme Gänsehaut nach einem Schockmoment in meinem Körper aus. Es ist ein Gefühl, das ich so gut kenne wie die Dialoge meiner liebsten Gilmore Girls-Folgen. Eines, das mich genauso wie die schärfsten Mutter-Tochter-Dialoge der Serie aufwühlt. Es ist dasselbe Gefühl, das ich schon vor Jahren – bevor ich geoutet in Berlin wohnte, bevor ich ein enges Netzwerk hatte und zu viele Zigaretten rauchte – immer mal wieder in den Notizen meines Smartphones beschrieb. Auch, weil mein Kreativprozess oft so beginnt.
Aus den angetrunkenen Satzfetzen von damals wurden allerdings nie Geschichten. Wahrscheinlich, weil ich mich nicht in die „Millennials/Twentysomethings/Lena Dunhams geht es immer schlecht/Schwulen Männern geht es sowieso miserabel“-Rhetorik einreihen wollte und Angst hatte, trotz meines privilegierten weiß-deutschen Status' weinerlich zu sein.
Es war eine Notiz wie die diese:

10. November 2010, 03:21 Uhr

Ich bin nicht die Person, die ausgewählt wird. Die, die auf einer Party in die Küche gezogen wird, um zu knutschen. Ich bin nicht die Person, die direkt passt, die sich leicht in Konversationen integrieren kann und Teil der Gruppe wird. Ich bin nicht der, der die Hand-Check-Begrüßungen der Jungs versteht und die Periodenanekdoten der Freundinnen.
Ich bin die Person, die von außen betrachtet. Die, die am Beckenrand steht und irgendwie nicht vom Fünf-Meter-Brett springen kann. Ich bin der, der Witze über seinen Körper und seine eigene Unliebbarkeit macht, um Lacher zu teilen. Nicht in der Küche, aber im Wohnzimmer. Ich bin eher der Bademeister. Wenn ich einen lustigen Spruch zum Becken rufe, gehöre ich kurz dazu, aber nach ein paar Minuten bin ich wieder alleine. Dann will ich wieder Menschen umarmen, die mir eine komische Hand-Schulter-Kombinationsbewegung entgegnen. Dieses Aufpassen am Rand ist anstrengend und oft ist es auf dem Hochsitz einsam.
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Ich bin nicht die Person, die ausgewählt wird. Die, die auf einer Party in die Küche gezogen wird, um zu knutschen. Ich bin nicht die Person, die direkt passt, die sich leicht in Konversationen integrieren kann und Teil der Gruppe wird.

Als ich meine 2010er-Schwermut und mein Selbstmitleid im Taxi nach Jahren erneut lese, muss ich kurz schmunzeln, weil ich denke, Distanz zu dieser Person entwickelt zu haben, die so unsicher war und von „weniger als“ erdrückt wurde. Aber im nächsten Moment erschrecke ich mich, weil ich das Grundgefühl immer noch kenne und ich es gerade jetzt wieder fühle.
Auch wenn der emotionale Ausschlag 2017 nicht mehr so heftig ist, kenne ich die Gänsehaut noch. „Warum hat sich nicht mehr verändert?“, schießt es mir in den Kopf. Warum fühle ich mich heute in Momenten so einsam wie vor Jahren? Vor der Berlin-Zeit, vor einem Freundeskreis, der mir Rückhalt bietet, vor der Freiheit, ich zu sein, vor dem Coming-Out?
Wenn ich während meiner Teenagerjahre in meinem Schlafzimmer saß, fühlte ich mich die meiste Zeit einsam. Klischeehaft hörte ich dann Britneys Spears’ Everytime und später in beinahe-coolen Phasen Death Cab for Cutie. Ich schaute O.C. California und fragte mich, warum ich mich nicht wie Seth in Summer verlieben konnte und warum ich nicht so fühlte wie er und andere. Ich war doch auch nur ein Außenseiter, der auf die richtige Frau wartete, die ihr Princess Sparkle-Pony neben meinen Captain Oats stellen. In dieser Zeit konnte mich niemand verstehen, weil ich mich selbst nicht verstand und niemandem die Chance gab, an mich heranzukommen. Da war dieser Schrank, in dem ich saß und in dem ich im Internet ergoogelte, wer ich war. Ich war einsam, weil ich alleine war.
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Foto: Julius Kraft
Als ich vor sechs Jahren mein Coming-Out hatte, war das ein Befreiungsschlag. Zum ersten Mal war ich emotional entlastet und ich fühlte mich so leichtfüßig wie Gene Kelly in einem Musical der 50er. Schnell zog ich nach Berlin und in der Stadt angekommen fühlte ich mich noch besser. Es wirkte fast so, als hätte ich in der Großstadt sogar Vorteile, weil ich schwul und besonders war, wie ein Payback-Punkte-System für mein Durchhaltevermögen. Ich fand direkt Freunde, die meine Sexualität nicht nur akzeptierten, sondern mich dafür schätzten, weil ich mich besser mit Mode, dem richtigen Platzieren von IKEA-Mobiliar und Popkulturhypes auskannte als andere, weil ich Empathie gelernt und keine Probleme an der Berghain-Tür hatte.
Zusätzlich schienen Schwule in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Nachdem sie ein paar Jahrzehnte vorher in KZs ihr Leben lassen mussten und in der Aids-Krise der 80er wie Fünfte-Klasse-Menschen behandelt wurden, war ich frei, privilegiert und blauäugig.
Ich dachte, dass ich Kinder adoptieren und Labradore züchten könnte. Ich stütze mich auf den Schultern früherer Generationen, ohne zu hinterfragen und tanzte zum harten Beat der Club-Boxen, der meinen Körper erschütterte. Ich erwartete, dass meine Einsamkeit vorbei war, ohne mich daran zu erinnern, dass ich mich in einem heterosexuellen Freundeskreis, Arbeitsumfeld und in einem heterosexuellen Alltag befand. Ich erwartete nicht mehr einsam zu sein, weil ich nicht mehr alleine war.
Was ich bis zu dieser Samstagnacht und zu meiner melancholischen Taxifahrt nicht verstand, war, dass es um genau diese Diskrepanz zwischen der Nach-Coming-Out-Erwartungen und der Realität als Minderheit geht. Ich sah mich jahrelang nicht mehr als Teil einer Minderheit. Ich sah mich nicht als Teil der Community, der ich angehöre. Ich hatte allen Schmerz der Teenagertage hinter mir gelassen und erwartete damit, aus allem raus und quasi heterosexuell zu sein. Und das, obwohl mich blöde Zurufe, eine Attacke am Kottbusser Tor, schwierige Tinder-Dates und die noch schwierigere Suche nach dem einen Besonderen immer mal wieder daran erinnerten, dass ich nicht Jeder-Mann war, sondern oft der Einzige.
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Zurück im Taxi, als ich den Fernsehturm im Morgengrauen betrachte, erkenne ich den Ursprung meiner Einsamkeit. Meine Einsamkeit entspringt dem nicht eingelösten Versprechen, nach den Jahren im Schrank, nach dem Bullying und dem Struggle einer von allen und nicht mehr nur Beobachter, nur Bademeister, sondern Schwimmer zu sein. Nicht David, aber einer von den sechsköpfigen Friends. Doch so funktioniert es nicht, Teil einer Minderheit zu sein. Es gibt kein Payback-Punkte-System. Das erkenne ich erst jetzt.
Zuhause auf meinem Sofa angekommen, schreibe ich wieder eine Notiz nieder, am

04. März 2017

Ich bin nicht wie jeder andere. Ich bin manchmal der Einzige, nicht Teil der großen Gruppe und ich bin deswegen manchmal einsam. Ich sollte mich mehr für meine Rechte und die Rechte der LGBT*-Community einsetzen, weil sie meine ist und weil ich bis heute mit einem Partner keine Kinder adoptieren, sondern nur Labradore züchten könnte. Aber ich bin nicht mehr allein. Das sollte ich mir wie ein Mantra vorsagen. Und: „We’re different. We’re the strong ones. And you can’t break us.“ – The Unbreakable Kimmy Schmidt.
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