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Warum sich manche von uns nach dem Lockdown noch einsamer fühlen werden

Foto: Eylul Aslan
Im Nachhinein betrachtet ist es verrückt, wie schnell sich alles veränderte. Ob du den ersten Lockdown kommen gesehen hast oder er dich völlig überrumpelt hat – die Schnelligkeit, mit der unser Alltag aus den Fugen geriet, ist völlig beispiellos. Es fühlt sich sogar surreal an, darüber zu schreiben. Wie unvorstellbar uns die heutige Realität zu Beginn des Jahres doch noch erschienen wäre. Nach einigen Monaten machen diese noch nie dagewesenen Umstände aber unsere neue Realität aus. Es ist schwierig, sich vorzustellen, dass die Dinge jemals wieder zu einem Normalzustand, wie vor Corona-Zeiten, zurückkehren könnten.
Für viele war diese Zeit mit Einsamkeit, Frustration und oft auch Trauer verbunden. Das hat auch damit zu tun, das wir während der Ausgangssperre nicht die Möglichkeit hatten, Emotionen so zu verarbeiten, wie wir es normalerweise tun würden. Deshalb erwarteten die meisten von uns nicht bloß, sondern sehnten sich nach dem Ende des Lockdowns. „Wenn die Lage anfängt, sich zu entspannen und die Sicherheitsmaßnahmen gelockert werden, werden wir alles und jede:n Einzelne:n mit offenen Armen empfangen“, sagten wir uns. Als es dann soweit war und wir wieder in die Welt zurückkehren konnten, fühlten wir uns alle aber so, als hätte uns jemand aus dem Winterschlaf gerissen. Außerdem waren da ja noch die Sicherheitsregeln, die noch herrschten und es einzuhalten galt.
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Ständig Vorsicht üben zu müssen, war nur einer der vielen Gründe, warum sich viele Menschen nach der Aufhebung der Ausgangssperre noch einsamer fühlten als zuvor. Darum war es wichtig, diejenigen zu unterstützen, die sich mit dem Übergang schwertaten oder gar nicht damit zurechtkamen.
Diese Phase war für uns alle sehr verwirrend und stellte deshalb solch eine Herausforderung für manche von uns dar. Wie Psychotherapeutin Linda Boutet R29 gegenüber erklärte, wurde zu Beginn Massenpanik in den Medien geschaffen und geschürt. Danach wurde in der Öffentlichkeit auf einmal versucht, beschwichtigen und die Wogen zu glätten. Hinzu kam, dass die Hygiene- und Sicherheitsregeln ständig geändert wurden und oft sehr schwammig formuliert waren und so für Verwirrung und Fehlinterpretationen sorgten. Viele kannten sich gar nicht mehr aus, was man denn jetzt eigentlich noch durfte und was nicht. Das führte während der ersten Corona-Welle zu einer Trotzreaktion bei der Bevölkerung: Menschen gingen wieder hinaus, füllten Parks und behandelten den Lockdown selbst so, als sei er vorbei. Aber für jede Person, die ein Picknick im Park machte, gab es diejenigen, die das nicht konnten.
Während der ersten Ausgangssperre im Frühjahr kam deutlich zum Vorschein, dass Frauen bei der Kinderbetreuung immer noch wesentlich viel mehr Verantwortung als Männer übernehmen. Durch die Pandemie verschärfte sich dieses geschlechtsspezifische Ungleichgewicht aber nur noch weiter. Nun waren Mütter die Hauptverantwortlichen für die Erziehung der gemeinsamen Kinder – ganz so, als hätten wir die Zeit weit zurückgedreht. Viele Frauen waren nun mit dieser an sich schon großen Aufgabe auf sich alleine gestellt. Hinzu kam aber, dass sie aufgrund der Corona-bedingten Hygiene- und Sicherheitsregeln keine Hilfe von Familienmitgliedern außerhalb des Haushalts in Anspruch nehmen konnten. Somit waren sie sich aber völlig selbst überlassen. Als sich die Situation entspannte, übernahmen Mütter weiterhin die Hauptverantwortung für die Erziehung der Kinder, während ihre besseren Hälften die wiedereingeführten Freiheiten genießen konnten. Linda berichtet von einem Klienten, der wieder Golf spielen und im Büro arbeiten konnte, während seine Frau, sich um drei Kinder kümmern musste. Wie sollte sie es körperlich überhaupt schaffen, das Haus mit drei Kindern und einem Kinderwagen zu verlassen? Weil ihr Mutter auch weiter weg wohnte, war sie also völlig sozial und räumlich isoliert und musste ohne jegliche Hilfe von anderen auskommen.
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Isolation, in all ihren Formen, sollte nicht unterschätzt werden. „Was ist nämlich, wenn deine Freunde nicht zu Fuß erreichbar sind, du kein Auto zur Verfügung hast oder dich nicht traust, die öffentlichen Verkehrsmittel zu benützen?“, betonte Kayleigh Dray in Stylist. Außerdem wird vorausgesetzt, dass deine Lieben im selben Land leben. Linda teilt ein weiteres Beispiel: Eine 18-jährige Klientin konnte die Schule nicht abschließen, „weil ihre Eltern nicht vom anderen Ende der Welt anreisen konnten“. 
Dann sind da noch die psychologischen Auswirkungen. Routiniertes Verhalten und Kontrolle haben bei vielen psychischen Erkrankungen, von Krankheitsängsten bis zu Zwangsneurosen, einen mindernden Effekt. Das Fehlen von klaren und wohlüberlegten Richtlinien kann da schon einschüchtern und angstauslösend wirken.
Linda erzählt, manche ihrer Patient:innen mit Zwangsstörungen hätten den Lockdown sogar genossen: „Man ist gewissermaßen dazu gezwungen, sich ein neues Verhaltensmuster anzueignen. Einem wird das Gefühl vermittelt, es sei in Ordnung, nicht hinausgehen zu wollen. [Viele denken:] ‚Ich will mich gut aufgehoben und nicht unsicher fühlen. Das kann ich aber nicht, wenn ich Leute sehe, die sich umarmen und die Aufhebung der Ausgangssperre scheinbar völlig sorgenfrei feiern.‘“
Für Menschen mit einer chronischen oder unheilbaren Krankheiten oder einer Behinderung unterschied sich ihr Leben während des Lockdowns nicht besonders von ihrem sonstigen Alltag. Die Geschäfte, Kneipen und öffentlichen Verkehrsmittel, die zwischen Lockdowns wiedereröffnet wurden, waren sowieso nie für alle zugänglich. Diejenigen, die von der Regierung als gefährdete Bevölkerungsgruppe eingestuft wurden, lebten ohnehin bereits gesellschaftlich zurückgezogen. Durch die Erfahrungen, die wir während der Ausgangssperre sammeln konnten, haben wir ein neues Verständnis der sozialen Isolation, ihren Ausprägungen und Folgen gewinnen können. Dieses neuerlangte Wissen kann uns dabei helfen, uns für eine Gesellschaft starkzumachen, die nicht länger einzelne Menschen anderen zuliebe vereinsamen lässt.
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Dazu müssen wir geduldig mit uns selbst sein und freundlich miteinander umgehen. Es ist verständlich, dass so viele von uns sich nach dem Freiheitsgefühl sehnen, das sie vor der Corono-Krise hatten. Mit dieser Ungeduld schaden wir uns aber nur: Wir erwarten unweigerlich zu viel von uns selbst und sind am Ende schon nach relativ kurzen sozialen Interaktionen mit anderen erschöpft.
Stattdessen müssen wir uns daran erinnern, dass Zeit und Geduld nötig sind, um unsere Beziehungen wiederaufzubauen und unsere Fähigkeit, soziale Kontakte zu knüpfen, wiederherzustellen. Linda vergleicht unsere Sozialkompetenz mit dem Ausüben von Sport, nachdem man seine Muskeln wochenlang nicht benutzt hat. „Wir haben uns daran gewöhnt, dass alles sehr eindimensional ist... Wenn wir wieder Kontakt zu anderen Menschen aufnehmen, erwarten wir, dass alles beim Alten geblieben ist. In Wirklichkeit ist das aber nicht der Fall.
Wenn dir der Übergang nach dem Lockdown schwerfällt, du dich erschöpft und desorientiert und ohne jegliche Kontrolle fühlst, bist du alles andere als allein mit diesen Emotionen. Mit etwas Geduld und Selbstfürsorge lässt sich das alles aber wieder regeln. Linda gibt folgende Ratschläge: „Sei dir deiner Gefühle bewusst. Erwarte nicht, vor Glück zu zerspringen, so wie es den Leute im Fernsehen zu ergehen scheint, wenn sie ihre Lieben erstmals wiedersehen und umarmen dürfen. Hör außerdem auf deinen Körper und Geist, wenn du dich müde fühlst: Halte Treffen kurz, mach vielleicht einen kurzen Spaziergang im Park oder begrenz doch vielleicht die Zeit, die du online verbringst.
Wir sollten versuchen, Verständnis für uns selbst aufzubringen und unsere soziale Kompetenz langsam wieder in Gang zu bringe. Gleichzeitig sollten wir uns auch bemühen, freundlich zu anderen zu sein und sie mit Einfühlungsvermögen zu behandeln, damit sie sich nicht wieder einsam fühlen müssen. In der Arbeitswelt können wir auf größere Flexibilität drängen, um so unsere Lebensqualität zu verbessern. Wir können diejenigen Personen in unseren Kreisen, die die Corona-Regeln völlig missachten, daran erinnern, dass sie so andere und auch sich selbst gefährden. Wenn wir all das tun, werden wir uns einander wieder näherkommen, auch wenn wir immer noch voneinander getrennt sind. Wenn wir über unsere Einsamkeit sprechen – ein Gefühl, das so viele von uns im Moment und auch in naher Zukunft noch teilen werden –, wird es uns gelingen, eine positive Veränderung zu bewirken.
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