Ich war drei Jahre alt, als ich meine ersten Schritte machte – ein Erfolg, den ich ausschließlich meinem Trotz zu verdanken hatte. Meine Mutter nennt diesen Meilenstein den Anfang meiner knallharten Sturheit: Ich hatte meinen einjährigen Bruder dabei beobachtet, wie er sich selbst auf sehr wackeligen Beinen am Laufen versuchte, und war daraufhin scheinbar fest entschlossen, es selbst zu schaffen. „Als du deinen kleinen Bruder die ersten Schritte machen sahst, fingen deine Augen sofort an zu funkeln“, erzählt mir meine Mutter. „Das war, als würdest du dir dabei denken: ‚Pff, das kriege ich auch hin!‘“
Als ich diesen überraschenden Wettbewerb mit meinem kleinen Bruder begann, fragten sich meine Eltern schon seit einer ganzen Weile, wieso ihre zweitgeborene Tochter die typischen Kleinkind-Meilensteine einfach nicht zu erreichen schien, die ihre Erstgeborene problemlos abgehakt hatte. Kurz darauf bekam ich die Diagnose Zerebralparese – eine Fehlbildung oder Verletzung des Gehirns, die vor oder während der Geburt entsteht, und die sich bei mir immer deutlicher zeigte, je weiter ich in meiner kindlichen Entwicklung hinter anderen zurückfiel. Damals war niemandem von uns ganz klar, was mir bevorstand: Die Ärzt:innen sagten, dass ich vielleicht würde laufen können, dazu aber vermutlich ein paar Operationen brauchen würde. Sie empfahlen außerdem eine Physiotherapie und eine Mobilitätshilfe. Das Ziel war es, mich „normal“ zu bekommen – und während meiner Jugend hatte ich das Gefühl, es sei meine Verpflichtung, diesem Ideal so nah wie möglich zu kommen.
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Während meiner Kindheit konnte ich dann aber nicht nur gehen, sondern zeitweise sogar rennen. Für alle „Was ich während der Sommerferien gemacht habe“-Aufsätze hatte ich immer genug Material, weil ich viele dieser Ferien mit der Erholung von diversen Operationen verbrachte und lernte, das Gleichgewicht zu halten – gelegentlich mit der Hilfe von Krücken, einem Rollator, Gehstock oder Rollstuhl. Abgesehen von diesen behinderungsbedingten Freizeitaktivitäten hatte ich aber auch einen festen Freundeskreis und brachte gute Noten mit nach Hause. Ich schlummerte bei Pyjamapartys im Schlafsack, durchstreifte an Samstagnachmittagen mit Freund:innen das Shoppingcenter und tanzte mit meinem Date beim Abiball. Ich war ehrgeizig, gutherzig und ein kleiner Nerd. Vor allem aber erreichte ich alle typischen Teenager-Meilensteine.
Natürlich sollte ich daran ein kleines Sternchen setzen: Ich durfte zum Beispiel meine Schulbücher immer im jeweiligen Klassenraum aufbewahren, um sie nicht durch die Gegend schleppen zu müssen, und ich hatte nie Sportunterricht. In der Mittagspause trugen Freund:innen mein Essenstablett für mich, und sie bildeten einen schützenden Ring um mich, wann immer wir zum Beispiel durch einen vollen Schulkorridor oder eine gut besuchte Straße schlenderten, damit ich nicht hinfiel. Trotzdem stolperte ich sehr, sehr oft – und einmal sogar vor dem Jungen, auf den ich stand (ich fragte ihn Jahre später, ob er sich daran erinnerte, und er sagte nein). Ich ignorierte die stechenden Schmerzen in meinen Beinen, wenn ich zu viel gelaufen war, und genauso auch die unangenehm steifen Gliedmaßen, wenn ich mich zu wenig bewegt hatte. Ich hatte immer das Gefühl, dazuzugehören – aber empfand auch den Druck, mithalten zu müssen.
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Es war, als ob ich und meine Beine immer zwischen zwei Welten hin- und herhuschten, und ich versuchte angestrengt, beide zu bewältigen. In einer Welt war ich eine eindimensionale Anomalie: ein Mädchen, das auffiel und auf das andere Menschen mit Mitleid, Wut oder bizarrer Höflichkeit reagierten. In dieser Welt verbrachte ich die meiste Zeit, und in ihr wurde kaum etwas von mir erwartet; ich bekam allein dadurch schon Aufmerksamkeit, dass ich in einem öffentlichen Raum existierte. In meiner anderen Welt rückte meine Behinderung aber irgendwie in den Hintergrund und wurde von anderen meiner Lebensbereiche in den Schatten gestellt. Ich war eine gute Schülerin, weil das Lernen eben gut zu meinem Rumsitzen passte; ich hatte Freund:innen, von denen ich viele glücklicherweise schon seit dem Kindergarten kannte. Und dennoch wurden die Schlupflöcher und Umwege, die es mir während meiner Kindheit ermöglicht hatten, mit Gleichaltrigen mitzuhalten, immer seltener oder verschwanden ganz, als ich schließlich zur Erwachsenen heranwuchs.
Es ist kein Geheimnis, dass sich die Definition vom „Erwachsensein“ drastisch verändert hat. Was macht das Erwachsensein aus? Job, Haus, Ehe, Kinder? Für meine Millennial-Generation und die darauffolgenden zerbröselt die Karriereleiter vor unseren Augen. „Günstige“ Häuser gibt es nirgendwo mehr, und selbst eine Wohnungsmiete wird für viele zur finanziell unüberwindbaren Hürde. Geheiratet wird immer weniger, und Babys stehen für manche außer Frage. Und wenn du dann noch eine Behinderung hast, ist es oft noch unklarer, ab wann du denn eigentlich als „erwachsen“ giltst.
Trotzdem verspüren viele – wenn nicht gar die meisten – Menschen den konstanten Druck, all diese traditionellen Meilensteine auf ihrer Liste abzuhaken. Und das gilt sogar für Menschen mit Behinderungen.
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Zu lernen, meine Behinderung mit den vielen anderen Bereichen meines Lebens zu vereinbaren, hat mir genau vor Augen gehalten, wie ich die an mich gerichteten Erwartungen entweder erfüllt, übertroffen oder verfehlt habe. Mit drei Jahren meine ersten Schritte zu machen, brachte mich zumindest ins Rennen, und mein Erfolg in der Schule – inklusive Freundschaften und Dates! – ließ mich vielleicht sogar herausstechen. Ich machte meine Abschlüsse, ich baute mir eine Karriere auf, ich lebte allein. Aber wie unzählige andere Menschen mit Behinderung weiß ich dennoch, wie es sich anfühlt, für Umstände verurteilt zu werden, die ich überhaupt nicht kontrollieren kann – oder für Dinge, die ich nicht an mir ändern kann, so sehr ich mich auch bemühe. Ich habe gelernt, dass eine Behinderung ansonsten ganz normalen Erfahrungen nochmal eine zusätzliche komplizierte Ebene verleiht. So mache ich mir zum Beispiel nicht nur Sorgen, dass ich mir niemals ein Haus in der Nähe meiner Eltern werde leisten können – sondern auch, dass es für mich unmöglich sein wird, ein wirklich barrierefreies Haus zu finden. Wir alle haben ganz eigene Vorstellungen davon, was zu bestimmten Zeitpunkten in unserem Leben „passieren soll“, und die meisten von uns versuchen, das Beste aus dem zu machen, was wir haben. In einem behinderten Körper ist das alles aber so viel schwieriger.
Als ich Mitte 20 war, bestand mein Vater darauf, mich zu meinem ersten Vorstellungsgespräch bei einer großen Firma zu fahren. Ich glaubte, diese Stelle würde mir diverse Erwachsenen-Meilensteine in greifbare Nähe bringen. Also stellte mir mein Dad während der Fahrt typische Bewerbungsfragen, beruhigte mich und übte mit mir in der Lobby der Firma meinen Handschlag, während ein Sicherheitsbeamter zuguckte. „Du packst das“, sagte er, als ich den Aufzug betrat. Als dann mein potenzieller Chef sein Büro betrat, saß ich bereits vor seinem Schreibtisch, was meine Behinderung kaschierte. Wir verstanden uns super, und er nickte freundlich während jeder meiner Antworten. Als dann auch unser Handschlag zum Abschied genauso gut gelaufen war wie mit meinem Vater, beobachtete ich, wie sich sein Lächeln in eine Grimasse verwandelte, als er sah, wie ich zur Tür lief. Ich weiß nicht, ob es an diesem Blick lag, aber ich bekam den Job nicht. Als ich das meinem Dad erzählte, sagte er: „Du kriegst das schon alles hin. Du weißt, wie du das hinkriegst.“
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Manchmal male ich mir eine Welt aus, in der alles viel leichter ist – aber nicht so, wie du denkst. Ich stelle mich dabei nicht vor, keine Behinderung zu haben… oder zumindest mache ich das schon lange nicht mehr. Meine Behinderung hat mir gezeigt, dass das Leben oft nicht so läuft wie geplant, und das ist okay. Pläne lassen sich anpassen oder auch ganz aus dem Fenster werfen. Das kann sehr befreiend sein, und auch sehr bestärkend.
Vielleicht sind Meilensteine einfach nicht für uns alle gemacht. Vielleicht können einige von uns auch einfach selbst entscheiden, wann wir unsere eigenen Wege einschlagen.
Kelly Dawson ist Autorin, Redakteurin und Medienberaterin und wohnt in Los Angeles. Ihre Texte wurden unter anderem in der New York Times, bei AFAR und Vox veröffentlicht. Folge ihr auf Instagram unter @kellydawsonwrites.
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