Sie weiß nicht einmal, dass ich heiraten werde. Ich habe seit zwei Jahren nicht mit ihr gesprochen. In den letzten 20 Jahren war unsere Beziehung kompliziert und oft angespannt. Ich weiß, dass meine Gäste ihr Fernbleiben bemerken werden. Nur meine Freunde und meine Familie wissen den Grund dafür—die Familie meines Verlobten und sogar ein Teil meiner eigenen wird sich fragen, wo sie ist. Manche werden vermutlich denken, dass die Freundin meines Vaters meine Mutter ist, aber ich werde klarstellen, dass das nicht stimmt. Sie ist weder so schön noch so charismatisch oder warm wie meine Mutter sein kann.
Meine Mutter und ich sprechen nicht miteinander. Das ist so, seit ich mit 13 Jahren aus unserem gemeinsamen Zuhause ausgezogen bin, um bei meinem Vater und meiner Schwester zu leben. Sie hat mir nie verziehen, dass ich sie im Stich gelassen habe.
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Ich werde oft dafür verurteilt, dass ich keine Beziehung zu meiner Mutter habe. Viele halten mich für selbstsüchtig, gefühlskalt, undankbar oder einfach etwas seltsam. Sie können ja nicht wissen, wie oft ich geweint habe, wenn ich einen Film gesehen habe, in dem eine Schauspielerin aussah wie sie. Oder als ich dachte, dass eine Rechnung, die die Mutter meines Verlobten an ihn weitergeschickt hatte, ein Brief von meiner Mutter war. Als er hinter mir die Treppe hochgekommen war, war ich bereits in Tränen aufgelöst.
Mit meiner Mutter aufzuwachsen, war ganz anders. Sie vergötterte uns – sie steckte meine große Schwester und mich in Rüschenkleider, Socken und glänzende Lackschuhe und brachte uns zu unseren Tanzstunden, zum Gesangs- und Klavierunterricht. Sie wollte uns all das ermöglichen, was sie selbst nie hatte. Aber als ihre Ehe in die Brüche ging, litt auch ihre Beziehung zu uns darunter. Sie hetzte uns gegeneinander auf, nach dem Leitsatz „Teile und Herrsche.” Am 13. Geburtstag meiner Schwester waren meine Mutter und ich bis zehn Uhr abends unterwegs. Mein Vater war arbeiten, also verbrachte meine Schwester ihren Geburtstag damit, alleine in der Küche zu sitzen und auf uns zu warten. Das war vermutlich die Strafe dafür, dass sie auf der Seite meines Vaters stand. Ich – neun Jahre alt und unter dem Einfluss meiner Mutter – war der Meinung, sie hätte es verdient. Der Gedanke daran, wie verletzt sie sein musste, machte mich glücklich. Aber jetzt schmerzt es mich, daran zu denken, wie sie in der Küche saß, als wir nach Hause kamen.
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Mein Vater und meine Schwester waren im Urlaub, als meine Mutter unseren gesamten Besitz verkaufte und mit mir in eine Wohnung zog. Ich war ungefähr elf Jahre alt und erinnere mich noch daran, wie traurig diese Zeit war. Besonders deutlich im Gedächtnis geblieben, ist mir ein Neujahrstag, an dem ich krank war und mich ständig übergeben musste. Meine Mutter wollte sich nicht um mich kümmern, aus Gründen, an die ich mich nicht erinnern kann. Und dann gab es die Nächte, in denen ich aufwachte und feststellte, dass sie zu unseren jungen Nachbarn nebenan gegangen war, um mit ihnen zu trinken.
Als mein Papa und meine Schwester zurückkamen, fanden sie ein leeres Haus vor. Sie wussten nicht, wo wir waren oder wie sie uns finden konnten. Erst nach einem Jahr gab eine Freundin meiner Mutter ihnen unsere Adresse und meine Schwester kam mich besuchen. Wir gingen im Park spazieren und lernten uns wieder kennen. Ich beschloss sofort, zu ihr und meinem Vater zu ziehen, unter der Voraussetzung, dass ich abwechselnd sechs Wochen bei jedem Elternteil verbringen würde.
Das war der Beginn eines Kreislaufs aus Machtproben, Entfremdung, und Wiederbelebung unserer Beziehung, den wir in den folgenden fünf Jahren alle paar Monate durchleben würden. Trotzdem ging ich immer zu ihr zurück. Ein Leben ohne meine Mutter war für mich schier unvorstellbar.
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Als ich meinen Verlobten kennenlernte, versuchte ich nach einer längeren Phase der Funkstille noch ein letztes Mal Kontakt zu ihr aufzunehmen. Ich wollte, dass sie wusste, dass ich mich verliebt hatte und zum ersten Mal mit einem Partner zusammenlebte. Ich wollte ihr sagen, dass ich vorhatte, den Rest meines Lebens mit ihm zu verbringen, dass ich glücklich war. Ich ging durch den Park zu ihrem Haus und klingelte. Als sie die Tür aufmachte, ging ich auf sie zu und sie nahm mich in den Arm. Wir standen lange auf der Veranda, hielten uns in den Armen und weinten.
Unser Treffen war emotional. Ich erzählte ihr von meinem Leben, wo ich gewesen war, wo ich arbeitete, wo ich jetzt lebte. Ich erzählte ihr von meinem Freund. Dass er braunes, lockiges Haar hatte und ein wundervoller Mensch war. Sie fragte, ob er mich gut behandelte. Ich sagte, das tue er. Sie sagte, ich hätte abgenommen, ich wäre dünn geworden – das hatte ich schon mein ganzes Leben von ihr hören wollen – und fügte dann hinzu, dass ich so dünn war, dass man nur noch meine Zähne sehen konnte.
Das Wiederaufleben unserer Beziehung war nur von kurzer Dauer. Und jetzt werde ich heiraten und sie weiß nichts davon. Auch diesmal würde ich ihr gerne von diesem Meilenstein erzählen. Ich wünschte, sie wäre bei meiner Hochzeit dabei oder würde zumindest wissen, dass sie stattfindet. Aber es macht keinen Sinn, sie anzurufen und ihr davon zu erzählen, nur um dann wieder aus ihrem Leben zu verschwinden.
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Sie weiß den Namen meines Verlobten, aber sie hat ihn nie getroffen. Das letzte Mal, als unser Kontakt im Sande verlief, beschloss ich, den Kreislauf nicht noch einmal von vorne beginnen zu lassen.
Ich ziehe mich selbst, meine Gesundheit und mein Glück einer Beziehung mit ihr vor, trotz des Preises, den ich dafür zahlen muss. Dafür verurteilt zu werden ist das geringste Problem. Sie bei allen wichtigen Ereignissen in meinem Leben zu vermissen und zu wissen, dass sie alleine ist, ist der wahre Preis.
Die Antwort auf die Frage, ob meine Mutter bei meiner Hochzeit sein wird, lautet also nein. Aber sie ist in meinem Herzen und wird dort auch immer bleiben.
Ellen Burns ist das Pseudonym einer Schriftstellerin aus Großbritannien.