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Ich auch? Wie die aktuelle #MeToo-Debatte mir geholfen hat

Wenn man mich vor einigen Jahren gefragt hätte, ob ich schon mal das Opfer sexueller Gewalt oder irgendeiner Art erniedrigender Übergriffe war, hätte ich noch voller Überzeugung den Kopf geschüttelt. Denn, nein, das war ich nun wirklich nicht, zumindest nicht aus meiner damaligen Sicht. In meiner Vorstellung sahen diese Übergriffe immer ganz anders aus, zumindest dann, wenn sie jemanden zu einem „echten“ Opfer machten. Klar, mir waren im Laufe meines Lebens auch unschöne Dinge widerfahren, aber ich hatte sie ja schließlich irgendwie überlebt und danach gesunde Beziehungen geführt und mein Leben ganz normal gestalten können. Es hätte sich für mich einfach nicht richtig angefühlt, mich auch als Opfer zu sehen. Also bin ich sehr gut im Verdrängen geworden.
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Meine Eltern, die Medien sowie die Warnungen von Erwachsenen im Allgemeinen gingen in meiner Kindheit in den Neunzigern immer in eine ganz andere und mehr spezifische Richtung: Damals spielte körperliche Gewalt eine große Rolle, wenn man von Übergriffen sprach. Die Gesellschaft war weitaus weniger sensibilisiert. Das Wort „Belästigung“ war uns damals nicht wirklich präsent. Es gab nur „Vergewaltigungen“ und vor denen wurden wir Kinder häufig gewarnt. In diesem Selbstverständnis bin ich aufgewachsen. Wir hörten immer wieder die gleichen Schauergeschichten über Opfer, die unter Gewalt zum Geschlechtsverkehr gezwungen wurden. Wir wurden dadurch aber leider nicht auf die unzähligen Zwischentöne vorbereitet, die sexuelle Übergriffe haben können. Diese Tatsache wird mir heute schmerzlich bewusst, so dass ich nun erst die passenden Worte dafür finden kann. Dafür bin ich der #MeToo-Debatte sehr dankbar, denn sie schenkt den Zwischentönen Gehör und weist auf die vielen Facetten sexueller Gewalt auf allen Ebenen hin. Sie gibt all den Frauen ein Instrument an die Hand, die aus den immergleichen Gründen geschwiegen haben. Jahre später erkennen nun viele Betroffene, was ihnen eigentlich widerfahren ist und wie verbreitet sexuelle Gewalt und Machtausübung leider sind.
Auf Twitter kam es in den letzten Jahren immer wieder mehr oder weniger fruchtbaren Debatten. Die jüngste Debatte rund um das Thema Sexismus und Misogynie, die bereits im Oktober auf Twitter ins Leben gerufen wurde, benutzt den Hashtag #MeToo, um die Geschichten der Menschen, die Opfer von Übergriffen und sexueller Belästigung geworden sind, zu erzählen.

In den Geschichten, die mir passiert sind, ging es immer auch um mein eigenes Ohnmachtsgefühl, das ich viele Jahre still mit mir rumgetragen habe.

Hannah Eichmann
In den Geschichten, die mir passiert sind, ging es immer auch um mein eigenes Ohnmachtsgefühl, das ich viele Jahre still mit mir rumgetragen habe. Nicht einmal mit Freundinnen, die bei einem der Übergriffe anwesend waren, traute ich mich, darüber zu sprechen, weil ich Angst hatte, als übertrieben „hysterisch“ oder sensibel wahrgenommen zu werden. Mir fehlte einfach jemand, der eine Einordnung für mich hätte vornehmen und klar sagen können: Das war ein Übergriff! Der Coping Mechanismus des Schweigens, den ich wählte, machte es besonders deutlich.
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Die früheste Erinnerung, die ich an einen solchen Vorfall habe, war als etwa Achtjährige in einem Klamottenladen, wo ich Skiunterwäsche anprobieren sollte und der erwachsene Verkäufer einen unbeobachteten Moment ausnutzte, in dem meine Mutter gerade selbst etwas anprobierte. Der Laden war leer und meine Mutter in einer anderen Kabine, als der Verkäufer mich mit seinen Händen komplett abtastete und immer wieder „diese Größe braucht sie schon!“ sagte, um das Ganze irgendwie vor mir zu rechtfertigen. Ich hatte damals das Gefühl, die Zeit würde stillstehen und kann rückblickend nicht mehr sagen, wie lange das Ganze wohl gedauert haben mag. Ich weiß nur, dass ich da stand und einfach nur wollte, dass es schnell vorbei ist. Vielleicht waren es Sekunden, vielleicht auch Minuten.
Ich verschwieg damals den Vorfall, weil mir die Worte fehlten, um das zu benennen, was sich falsch anfühlte. Klar, ich kannte die Geschichten, die wir Kinder immer erzählt bekamen, aber da ging es um etwas ganz anderes: Kinder, die auf dem Nachhauseweg im Wald vergewaltigt und schlimmstenfalls auch noch umgebracht wurden. Der Mann in dem Laden war zwar unangenehm und bereitete mir ein Gefühl der Hilflosigkeit, aber meine Mutter war ja in der Nähe und irgendwie habe schon alles seine Richtigkeit, sagte ich mir. Ich konnte mich nicht mit Bildern von unbekleideten Mädchenleichen im Wald in Verbindung bringen. Aber durch die anderen Fälle, die nun in der #MeToo-Debatte öffentlich werden, verstehe ich den schrecklichen Mechanismus immer mehr, der dafür sorgte, dass ich erst heute verstehe, was mir überhaupt passiert ist. Über zwanzig Jahre später.
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Ich verschwieg damals den Vorfall, weil mir die Worte fehlten, um das zu benennen, was sich falsch anfühlte.

Hannah Eichmann
Ein anderes Mal war ich auf dem Weg in die Grundschule. Es gab da einen kleinen Fußweg an einem Parkplatz entlang. Ich kann mich noch schemenhaft erinnern, dass ich mit einer Freundin dort entlang lief, als jemand nach uns rief: „Hallo, geht ihr zu Schule? Guckt mal“. Wir brauchten einen Moment, um zu erkennen, wer mit uns redete: Ein Mann in einem Auto mit runtergekurbeleten Fenstern und ganz offensichtlich nackt. Ich sah zum ersten Mal in meinem Leben einen erigierten Penis. Unfreiwillig. Ich zog meine Freundin an der Hand und wir gingen mit schnellen Schritten weiter. Es wurde ein ganz normaler Schultag. Ich fühlte mich zwar nicht gut, weil mir den ganzen Tag übel war, aber niemand fragte nach und ich erzählte nichts. Mit meiner Freundin redete ich auch nicht darüber. Was uns passiert war, konnten wir nicht benennen. Lag der Fehler, weil wir hingeguckt hatten, am Ende gar bei uns? Ich wusste damals weder was eine Erektion ist noch war mir Exhibitionismus ein Begriff. Wenn ich hätte beschreiben müssen, was mir auf dem Schulweg passiert war, wäre ich im Erdboden versunken. Ich wusste, dass es falsch war. Dieses „falsch“ sah ich allerdings bei mir.
Ähnliche Vorfälle ereigneten sich danach im städtischen Schwimmbad, wo ein älterer Herr unter Wasser onanierte, sehr genau wissend, dass wir Schulkinder vor ihm tauchten und alles sehen konnten. Dank der Tatsache, dass der Mann auch danach noch jahrelang regelmäßiger Gast im Schwimmbad war, weiß ich, dass keines der betroffenen Kinder seinen Eltern oder dem Bademeister davon erzählt hat.
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Im Gymnasium hatten wir zwei Jungen in der Klasse, die in den Pausen immer versuchten, mit Mädchen zu „raufen“. Es muss etwa in der sechsten Klasse gewesen sein. Sie pickten sich in den Pausen immer ein Mädchen heraus und drückten sie in eine Ecke, wo sie von den beiden mit viel Körperkontakt festgehalten wurde. Man konnte sehen, dass sie manchmal eine Erektion hatten. Einige Mädchen schienen dieses Spiel sogar mitzumachen und suggerierten, dass alles nur ein Spaß sei. Sie lachten. Mir war es so unangenehm, dass ich beim ersten Versuch, mich festzuhalten, einem der Jungen ins Gesicht schlug. Die Folge war, dass ich einen schriftlichen Tadel von der Schule bekam, den ich meinen Eltern zeigen musste. Natürlich traute ich mich nicht, den Lehrern oder den Eltern von der Erektion zu erzählen, mit der mich die Jungs bedrängt hatten. Ich bekam den Ärger und musste die Konsequenzen dafür tragen, dass ich mich gewehrt hatte.
Ich glaube, wir haben als Gesellschaft ein großes Problem damit, wenn wir die Intensität der Übergriffe vergleichen, es wird uns nirgendwo hinführen. Menschen gehen unterschiedlich mit Gewalt um, die ihnen widerfährt, egal ob diese körperlich oder psychisch ist. Ein kleines Beispiel: Wir fuhren damals gerne mit der S-Bahn aus unserem Vorort in die Stadt. An einem Tag saßen wir zu viert in einem dieser Viersitzer und rauchten cool vor uns hin. Damals durfte man das noch beim Bahn fahren, zwar nicht mit 14, aber es kontrollierte ohnehin nie jemand in den Zügen. Ein Mann stieg ein und holte nach dem Weiterfahren seinen Pimmel raus. Er stand von uns abgetrennt im Mittelteil des Zuges, aber wir konnten ihn genau sehen. Er holte sich dann im Zug einen runter und glotzte uns dabei unentwegt an. Wir waren vier 14-Jährige, von denen sich keine die Blöße geben wollte, nun zu weinen oder wegzugehen. Wir wollten super tough sein, coole Raucherinnen. Frühreif. Also blieben wir sitzen, schielten immer wieder hin, um ihn im Auge zu behalten, damit wir notfalls fliehen konnten, aber taten dabei gleichgültig. Als er fertig war, stieg er aus. Die Lauteste von uns machte dann noch ein paar Witze und suggerierte damit, dass alles kein „großes Ding“ gewesen wäre. Wir anderen lachten, ich fühlte mich dennoch unfassbar schmutzig und benutzt.
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Ähnliche Episoden wiederholten sich in meinem Leben bis heute häufiger. Ich könnte auf Anhieb mindestens zehn weitere Episoden erzählen, in denen Vergleichbares passiert ist, und noch viele mehr, in denen ich es bei anderen beobachten konnte. Sexuelle Belästigung ist wie selbstverständlich ein Teil unseres Alltags. Wenn ich über meine eigene Geschichte nachdenke, verstehe ich immer mehr, wie ich das Gefühl, machtlos zu sein, internalisiert habe, und welche gesellschaftlichen Strukturen dazu führen, dass Frauen leider viel zu oft schweigen.
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