In Sachen Alkoholkonsum hat sich in den letzten Jahren ziemlich viel verändert. Artikel berichten über Millennials, die sich komplett vom Alkohol abgewandt haben, und geben der „Generation Sober“ (Generation nüchtern) die Schuld daran, dass beispielsweise die Bierverkäufe gesunken sind. Und auch eine von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) durchgeführte Studie zum Alkoholkonsum Jugendlicher und junger Erwachsener in Deutschland zeigt, dass Jugendliche und junge Erwachsene weniger Alkohol trinken (Komasaufen ist allerdings leider immer noch ein Thema).
Gleichzeitig scheint das Interesse an alkoholfreien Getränken zu steigen – wie ein Blick auf Google Trends verrät. So werden alkoholfreie Cocktails und Alternativen zu klassischen Biersorten beispielsweise oft gegoogelt. Und weil wir gerade bei Trends sind: Anscheinend ist „Mindful Drinking“ das neue Ding und ist im Deutschen auch als „kontrolliertes Trinken“ bekannt. Es gibt immer mehr Bücher, Hashtags und Gruppen zum Thema, in einigen Ländern finden sogar Mindful Drinking Festivals und andere Events statt.
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Das Prinzip
Aber was genau ist eigentlich Mindful Drinking? „Es ist das Gegenteil von dem, was ich in meinen 20ern und Anfang 30 gemacht habe: trinken ohne nachzudenken“, erklärt Rosamund Dean, Journalistin und Autorin des Buchs Mindful Drinking: How Cutting Down Can Change Your Life. „Damals habe ich aus Gewohnheit zu jedem Dinner Wein getrunken. Wenn mich jemand gefragt hat, ob ich etwas trinken möchte, sagte ich automatisch ja, ohne darüber nachzudenken. Mindful Drinker machen sich solche Automatismen und Verhaltensweisen bewusst und versuchen, gesündere Entscheidungen zu treffen“.
Die ehemalige Politikerin und Businessfrau Laura Willoughby hörte vor sechs Jahren mit dem Trinken auf, weil der Alkoholkonsum negative Auswirkungen auf ihre Arbeit und ihre seelische Gesundheit hatte. Bei der Suche nach Hilfe und Unterstützung fiel ihr das krasse Schwarz-Weiß-Denken auf: „Entweder bist du Alkoholiker*in und musst auf Entzug gehen oder alles ist okay und du kannst einfach so weitermachen wie bisher. Aber ich stand irgendwo dazwischen“.
2015 gründet sie zusammen mit Jussi Tolvi Club Soda – eine Mindful-Drinking-Bewegung, die unter anderem Events organisiert, Guides für die besten Pubs, Bars und Restaurants für Midful Drinker herausgibt und Menschen unterstützt, die weniger oder gar keinen Alkohol mehr, also kontrolliert trinken wollen. „Unser Ziel ist nicht, irgendjemandem etwas vorzuschreiben. Stattdessen möchten wir Personen dabei helfen, ihre selbstgesteckten Ziele zu erreichen – egal, wie diese aussehen“, so Laura.
Warum gerade jetzt?
Dass Alkohol ungesund ist, ist schon lange bekannt. Warum versuchen also gerade jetzt immer mehr Menschen weniger zu trinken?
Laut einer britischen Studie finden es beispielsweise einige Millennials peinlich, sich zu betrinken – weil das etwas sei, das die „ältere Generation“ macht. Es gibt aber noch mehr Gründe, warum sich viele langsam aber sicher vom Alkohol abwenden.
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„Es hat ein kultureller Umbruch stattgefunden”, meint Rosamund. „Als ich in den 90ern ein Teenager war, haben alle ständig überall getrunken. Ich denke da zum Beispiel an Sex and the City oder betrunkene Topmodels in Klatschmagazinen”. Wer getrunken hat, war cool. „Das ist heute nicht mehr so, denke ich“.
Dazu kommt ein größeres Angebot an nichtalkoholischen Getränken, aber auch die Angst vor peinlichen Fotos, die nach dem Rauschtrinken auf Social-Media-Plattformen landen könnten. Außerdem steigt das Interesse an Gesundheit und Wohlbefinden. „Die Wellness-Branche boomt und – ganz allgemein gesagt – versuchen viele Menschen, gesündere Entscheidungen zu treffen“, so Rosamund. Laura ergänzt: „Egal wie oft du ins Fitnessstudio gehst und wie viel Superfood du isst: Wenn du dir jeden Abend eine Flasche Wein hinter kippst, machst du die ganze harte Arbeit zunichte. Das bemerkt vor allem meine Generation – also alle, die 35+ sind – gerade“.
3 Frauen, 3 Geschichten
Als sich die 29-jährige Elena Cresci vor ein paar Monaten für einen Thai-Boxing-Wettkampf anmeldete, verabschiedete sie sich gleichzeitig auch vom Alkohol. „Ich hatte einfach keinen Bock darauf, verkatert trainieren zu müssen“. Auch wenn es ihr ursprünglich gar nicht darum ging, weniger zu trinken, merkte sie schnell, welche positiven Nebenwirkungen der Verzicht mit sich brachte. „Damals ließ ich mich jeden Freitag und Samstag volllaufen und verbrachte die Tage danach damit, auszunüchtern. Das war einfach nur langweilig und unproduktiv“. Aktuell trainiert Elena gerade für ihren dritten Wettkampf. Alkohol ist für sie jetzt zu etwas Besonderem geworden und ihr ist aufgefallen, wie wenig sie ihn im Alltag vermisst – genauso wenig wie dieses traurige, leere Gefühl, das sie manchmal nach dem Trinken hatte.
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Eine andere 29-jährige Frau, die hier anonym bleiben wollte, schränkte ihren Alkoholkonsum ein, weil sie weniger Zucker zu sich nehmen und Geld sparen wollte. „Früher habe ich mir keine Gedanken darüber gemacht, aber heute fühle ich mich richtig schuldig, weil ich so viel Geld für sinnlose Saufnächte aus dem Fenster geschmissen habe“. Sie trinkt zwar immer noch ab und zu ein Gläschen, aber meistens nur, wenn es einen Anlass gibt – wie einen Geburtstag, einen Junggesellinnenabschied oder eine Hochzeit.
Bei Rosamund ist das übrigens ähnlich: „Wenn es etwas zu feiern gibt, gönne ich mir ein Glas Champagner und zu einem schicken Dinner trinke ich auch mal Wein. Ich konsumiere immer noch Alkohol und genieße es auch immer noch. Aber ich trinke nicht mehr, um mit stressigen oder schwierigen Situationen fertig zu werden. Wenn ich zurückdenke, möchte ich mich an glückliche Momente erinnern, in denen ich getrunken habe. Nicht an traurige oder problematische“.
Lou Del Bello litt viele Jahre an einer stressbedingten Gastritis, wodurch die 34-Jährige konstant Schmerzen ertragen musste. Ihre Laune erreichte einen absoluten Tiefpunkt und Kater dauerten gleich mehrere Tage an – selbst, wenn sie nur wenig getrunken hatte. „Das Schlimmste ist, dass es sich auch auf meine Freundschaften und meine Beziehung auswirkte, weil ich ständig kaputt und reizbar war. Obwohl ihre Ärzte ihr geraten hatten, weniger zu trinken, dauerte es eine Weile, bis Lou sich die negativen Effekte des Alkohols auf ihre Gesundheit und ihr soziales Leben eingestand. Es kam einfach nicht in ihrem Kopf an. Mittlerweile trinkt sie weder Bier noch Rotwein, denn das sind die beiden Getränke, die am schlimmsten für ihren Magen waren. Nur zu besonderen Anlässen stößt siemit Alkohol an. „Manchmal vermisse ich es, einfach nur so feiern und trinken zu gehen, aber nur selten. Es ist halt einfach so wie es ist und meine Gesundheit geht vor“. Was sie auf jeden Fall nicht vermisst, sind Hangover. „Ich kann mich schon fast nicht mehr daran erinnern, wie sich so ein richtig schlimmer Kater anfühlt“.
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Nachdem du diese Geschichten gelesen hast, fragst du dich vielleicht, ob du deinen Alkoholkonsum einschränken solltest. Am Ende musst du das natürlich selbst entscheiden, aber eventuell hilft es dir, zu überlegen, ob du dich gesund fühlst. Wenn du körperliche oder seelische Beschwerden hast oder beispielsweise nicht gut schläfst, dann wäre es möglicherweise keine schlechte Idee. Leg vorher fest, wie oft, mit wem und was du trinken möchtest – anstatt einfach jeden Abend aus Gewohnheit beim Netflixen zu trinken.
Tipps & Tricks
Zum Schluss hat Rosamund noch ein paar Tipps für alle, die Mindful Drinking mal ausprobieren wollen:
1. Warum trinkst du Alkohol?
Mal dir aus, wie es dir am Morgen danach geht und überleg, ob du dich mit Freude oder Reue an den Abend zurückerinnern wirst. Freude? Na dann Prost! Reue? Vielleicht dann reiß dich jetzt besser zusammen.
2. Such dir Alternativen
Geh eine Runde joggen, nimm ein Bad, iss einen gesunden Snack, ruf deine BFF an, schau dir ein YouTube-Tutorial an, dreh die Musik auf tanze durch dein Schlafzimmer: Es gibt viele Sachen, die du machen kannst, wenn die Alkohollust zuschlägt. Mach dir am besten gleich mal eine Liste mit Alternativen.
3. Genieße jeden Schluck
Wenn du Alkohol trinkst, dann genieße jeden einzelnen Schluck und kipp nicht einfach nebenbei ein Bier nach dem nächsten rein. So trinkst du am Ende nicht mehr als du dir eigentlich vorgenommen hattest.
4. Halte deine Erfolge schriftlich fest
Untersuchungen zeigen, dass Selbstüberwachung dabeihelfen kann, die eigenen Ziele zu erreichen. Deshalb führen manche Menschen auch ein Essenstagebuch, wenn sie abnehmen oder ein Finanztagebuch, wenn sie sparen wollen. Es geht also (mal wieder) um Awareness.
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5. Setz dir ein klares Ziel
Nimm dir nicht vor, einfach nur weniger zu trinken. Warum? Weil du sonst nie weißt, ob du dein Ziel erreicht hast. Leg stattdessen konkrete Zahlen fest. Ich lebe zum Beispiel nach der „Regel der Drei“: Ich erlaube mir maximal an drei Tagen der Woche Alkohol zu trinken und dann nie mehr als drei Getränke. Aber du kannst dir natürlich eine eigene Regel ausdenken, die du dir gut merken kannst.
Wenn du oder eine Person, die du kennst, ein Alkoholproblem hat, kannst du dich per Email oder Telefon an die Anonymen Alkoholiker wenden