Als die chinesische Fotografin Yushi Li Mitte der 2010er fürs Studium nach Großbritannien zog, meldete sie sich bei Tinder an, um neue Leute kennenzulernen. Dating hatte für sie in China noch anders ausgesehen – zum Beispiel, weil sie dort dazu nie Apps benutzt hatte –, und sie fand diese Plattform gleichzeitig bizarr und faszinierend. „Ich weiß noch, wie komisch es mir vorkam, dass die Leute sich gegenseitig ‚likten‘ und sich ausschließlich durch Fotos präsentierten“, erinnert sie sich.
2016 begann sie dann ihr Master-Studium in Fotografie am Royal College of Art in London. Zu dem Zeitpunkt hatte sie bereits damit angefangen, erotische Fotos von Frauen mit Essen zu sammeln, über die sie im Internet und in Kunstgeschichtsbüchern gestolpert war. Wenig überraschend: Davon gibt es Tausende. Und während sie sich so durch die Bilder blätterte und sich weiterhin halbherzig durch Tinder swipte, kam sie auf die Idee, beide Welten miteinander zu kombinieren.
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Seit Jahrtausenden formt der sogenannte male gaze, der „männliche Blick“, die Kunst, wie wir sie heute kennen – in Gemälden, Skulpturen, Fotos, Filmen, und, und, und, werden Frauen und ihre Körper objektiviert. Als Reaktion darauf wollte Li diesen Blick umdrehen – und ihm Männer unterwerfen. „Ich dachte mir: Warum sollte ich nicht Tinder benutzen, um mir Männer zu suchen und von denen dann ein paar hübsche Bilder für mich selbst zu machen?“, meint sie und grinst. Das Ergebnis ist das provokante, verspielte Fotoprojekt My Tinder Boys.
Stundenlang swipte sich Li daraufhin durch Tinder und suchte nach Leuten, die sich für das Porträt-Projekt bereit erklären würden; am Ende hatte sie um die 1300 Matches. Von denen schrieb sie ungefähr 300 an und fragte, ob sie Lust hätten, mitzumachen. „Die meisten Männer ignorierten mich einfach nur, während andere dachten, das sei irgendeine Betrugsmasche“, erzählt sie. „Andere dachten, das sei meine Art zu flirten.“ Sie erinnert sich noch an einige, die ihr schrieben, dass sie zwar mitmachen würden – aber nur, wenn Li danach mit ihnen schlief. Diese Nachrichten zeigten genau, wie manche Leute an Online-Dating herangehen: wie an einen Handel. Das passte Li aber ganz gut. „Ich wollte diese Männer als schnell austausch- oder wegwerfbar darstellen – wie so vieles im Internet.“ Dazu passend erzählt sie, dass sie auch zu kaum einem der Männer noch Kontakt hat. „Ich bin ohnehin keine sehr gesellige Person.“
Am Ende landeten 15 Männer vor ihrer Kamera, die sie darum bat – passend zur sexistischen Essens-Fotografie, die sie zuvor recherchiert hatte –, nackt in der Küche zu posieren. Dieser Raum gilt als stereotypisch feminin; für Li das perfekte Setting für ihr Projekt. „In den meisten Fällen traf ich die Männer zuerst in der Öffentlichkeit, um sicherzugehen, dass sie nette Leute waren. Danach begleitete ich sie dann zu sich nach Hause und fotografierte sie dort“, erzählt sie. Das Ergebnis sind wunderschöne Bilder mit sehr natürlichem Licht, die Lis Matches nackt zeigen – häufig Obst essend. Die Fotos sind irgendwie amüsant, aber gleichzeitig sehr eindrücklich: Die Männer sind schutzlos, verletzlich, zeigen Lis Kamera alles.
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Li wurde 1991 in Guiyang geboren, einer mittelgroßen Stadt im Südwesten Chinas. Sie spricht ganz offen darüber, wie wichtig es ihr ist – als chinesische Frau, die Fotos von westlichen Männern macht –, das Machtverhältnis auf den Kopf zu stellen, unter dem sie durch ihre Herkunft und ihr Gender litt und leidet. „Ich habe hier schon Männer kennengelernt, die vor allem auf asiatische Frauen stehen, und dabei fühle ich mich ein bisschen wie ein Panda: wie ein exotisches Wesen aus dem Orient – angestarrt von neugierigen, westlichen Augen“, erklärt sie. „Verglichen mit meiner Erfahrung im Westen gibt es in China aber deutlich mehr kulturellen Sexismus und Frauenfeindlichkeit. Diese genderbasierte Ungerechtigkeit macht mich wütend.“ Ihr Fotografiestudium hat ihr dabei geholfen, diese Gefühle zu verstehen, und erlaubt ihr, auf freche Art ihre Meinung zu den gesellschaftlichen Problemen auszudrücken, die ihr Weltbild bestimmt haben.
Und bei My Tinder Boys sollte es nicht bleiben: Li hat ihre Ideen auch in anderen Projekten verwirklicht. In Paintings, Dreams and Love bat sie Männer darum, Szenen aus klassischen Gemälden mit ihr nachzuahmen – und darin in die Frauenrollen zu schlüpfen. Auf einem dieser Bilder sitzt Li also Tee trinkend im Garten, während ein nackter Mann neben ihr die Blumen gießt; auf einem anderen lässt sie sich von einem nackten Mann die Haare kämmen, der neben ihr auf dem Bett kniet. Das wohl eindrucksvollste Foto der Reihe ist aber wohl das, auf dem sie im Schoß eines nackten Mannes sitzt, der auf dem Sofa liegt und seinen Arm hinabbaumeln lässt. Auf den Bildern schaut Li meistens direkt in die Kamera; die Männer hingegen fast nie.
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Gleichzeitig fragt sich Li aber auch, ob die oberflächliche, objektivierende Aufmerksamkeit in unserem digitalen Zeitalter vielleicht nicht mehr nur auf Frauen liegt, sondern auf allen – immer. Dating-Apps spielen in dieser Hinsicht eine große Rolle, findet sie, fügt aber auch hinzu, dass sie sie nicht völlig verteufeln will. „Ich finde, diese Apps sind eine effiziente Art, andere Leute kennenzulernen – vor allem für Menschen, die nicht sehr extrovertiert oder gesellig sind. Ich bin aber der Meinung, dass diese Apps zu zugänglich sind; dadurch verlieren alle Leute dort irgendwie ihren Reiz, und das Ganze wird schnell langweilig“, sagt sie. Fasziniert ist sie dennoch davon, wie Dating-Apps gezielt designt werden, um die Leute weiter zum Swipen und Liken zu motivieren. Genau das müsste sich ihrer Meinung nach ändern: „Ich glaube nicht, dass wir das Verhalten der Leute ändern können – oder sollten“, meint sie, „aber wenn Dating-Apps mit dem Ziel entwickelt würden, dass sich die Leute dann auch tatsächlich treffen, wären die Apps sicher weniger anstrengend und vielleicht sogar erfüllend. Jetzt sind sie aber nur ein Spiel, das die Leute zum Weiterspielen ermutigen will.“ Li persönlich benutzt Tinder jedenfalls nicht mehr. Und selbst wenn sie wollte, könnte sie nicht, lacht sie – weil ihr Account inzwischen gesperrt wurde.