Vor 40 Jahren eröffnete der Arzt John Travis in der wohlhabenden Gegend Marin County nördlich von San Francisco das Wellness Resource Center. Wahrscheinlich war er einer der ersten, der realisierte, „Wellness bedeutet, zu verstehen, dass es mehr im Leben gibt als nur die Abwesenheit von Krankheiten“, wie er in einem Fernsehinterview sagte.
Travis wusste also schon 1979, was viele von uns erst heute wirklich begreifen: wie wichtig Selfcare ist, weil es ein „langfristiger Zustand dynamischen Wachstums ist“. Laut Travis ist es möglich, keine Krankheit zu haben und trotzdem nicht gesund zu sein. Auf Anschuldigungen, Wellness wäre nur ein Kult der Mittelschicht, antwortete einer der Beteiligten, dass man mit Wellness sein eigener Guru sein könnte und die perfekten Voraussetzungen für ein besseres, erfülltes Leben hätte.
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Das mag jetzt alles erst Mal recht positiv klingen, doch es nur der Anfang: Es reicht nämlich nicht aus, regelmäßig zu meditieren, dich gesund zu ernähren und Waldspaziergänge zu machen. Du musst bei jeder Wellnessaktivität – nein, eigentlich bei allem was du tust – auch noch Achtsamkeit praktizieren. Von allen Seiten hören wir, Mindfulness wäre das A und O. Die Lösung für all unsere Probleme. Der Markt ist voll mit Ratgeberbüchern, die die Vorteile von Achtsamkeit anpreisen, wie 365 Wege zur Achtsamkeit: Wertvolle Tipps für mehr Gelassenheit und LebensfreudeoderDas Achtsamkeitstraining: 20 Minuten täglich, die Ihr Leben verändernoder Zeit für mich - 100 Wege zur Achtsamkeit: Meditationen, Anleitungen und mehr, um nur drei Titel der über 20.000 Amazon-Ergebnisse zu nennen.
Mindfulness ist zu einer milliardenschweren Industrie geworden, die neben Büchern auch Workshops, Onlinekurse, Magazine, Dokumentarfilme, Kissenbezüge, Schmuck, Beauty-Produkte und Co. umfasst. Achtsamkeitstrainings werden mittlerweile immer häufiger in Unternehmen, an Schulen und an staatlichen Institutionen durchgeführt. Gefühlt gibt es täglich eine neue Studie, die die zahlreichen gesundheitlichen Vorteile von Achtsamkeitsmeditationen belegt und zeigt, dass simple Übungen neurologische Veränderungen im Gehirn bewirken können.
Vertreter*innen der Achtsamkeitsbewegung sagen, die Ursache für unsere Unzufriedenheit und unseren Kummer liegt im Unvermögen, in der Gegenwart zu leben. Viel zu oft zerbrechen wir uns den Kopf über Sachen, die wir eh nicht ändern können oder machen uns Sorgen über Dinge, die erst in ferner Zukunft passieren werden – wenn überhaupt. Außerdem meinen sie, die gesamte Gesellschaft würde an einer Aufmerksamkeitsdefizitstörung leiden. Wir sind also selbst schuld daran, dass wir uns gestresst fühlen, weil wir uns ablenken, Instagram abhängig sind und es nicht schaffen, achtsam zu sein und im Hier und Jetzt zu leben. Wir kriegen es ja noch nicht mal auf die Reihe, unsere Emotionen unter Kontrolle zu halten. Wir verlieren die Beherrschung, wenn uns jemand kritisiert und sind super gereizt, wenn unser*e Chef*in zu viel von uns abverlangt. Wir kommen einfach nicht mehr mit den Außenreizen klar und reagieren dementsprechend unangemessen – so die Vertreter der Bewegung. Mit anderen Worten: Schuld sind die unangepassten, geistlosen Individuen und nicht etwa die politischen und ökonomischen Umstände. Und das ist natürlich absoluter Quatsch (falls du meinen ironischen Unterton nicht rausgelesen hast).
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Wir schieben dem Einzelnen den schwarzen Peter zu und machen ihm weis, er allein wäre für sein Wohlergehen verantwortlich. Der Fakt, dass wir ständig von außen manipuliert werden, wird vollkommen ignoriert. Die Technologien von Google, Facebook, Twitter, Instagram und Apple tragen natürlich keinerlei Schuld. Kein Wunder, dass genau diese Unternehmen zu den engagiertesten Bewerbern der Achtsamkeitsbewegung gehören…
Unser Wohlbefinden wird als eine Sache des Gehirntrainings abgetan – sprich der Durchführung von Achtsamkeitsübungen. Äußere Einflüsse und soziale Umstände werden außer Acht gelassen. Stress, Kummer, Unwohlsein, an all dem sollen wir selbst schuld sein, ganz gleich, wie die äußeren Umstände sind. Deswegen liegt es auch in unserer Hand, uns DIY-Techniken anzueignen, die uns dabei helfen, runterzukommen und mit den Herausforderungen des modernen Alltags klarzukommen. Mindfulness wird als therapeutisches Hilfsmittel verkauft, das die Gefühle der Angst und Unsicherheit beruhigt. Das Ganze wird auf individueller Ebene betrachtet, statt dass man sich mal Gedanken über die sozialen, politischen und ökonomischen Ungerechtigkeiten macht, durch die die modernen Sorgen und Nöte überhaupt erst entstehen. Statt die Probleme bei der Wurzel zu packen, kleben wir ein buntes Kinderpflaster auf eine klaffende, entzündete Wunde, um es mal bildlich auszudrücken.
Schauen wir uns zum Beispiel mal die Arbeitswelt an. Achtsamkeitsworkshops werden hier gern eingesetzt, um den Angestellten dabei zu helfen, ruhiger, fokussierter und belastbarer zu werden. Das klingt erst mal nicht schlecht, doch meist sind sie einfach nur eine Form des Virtue Signalling – sprich: Das Unternehmen will damit der Außenwelt zeigen, dass es seine Mitarbeiter*innen unterstützt und alles dafür tut, damit es ihnen gut geht. Das wahreZiel der meisten Firmen ist jedoch, die Produktivität zu steigern und krankheitsbedingte Ausfälle und die damit einhergehenden Kosten zu senken. Die Ursachen des im Job erzeugten Stresses werden jedoch gar nicht erst thematisiert.
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Andy Lee, ein selbsternannter Vordenker und Trainer eines Achtsamkeitsprogramms bei Aetna (einem Anbieter von Gesundheitsleistungen für Arbeitnehmer*innen in den USA) ist der Meinung, die Angestellten hätten es selbst in der Hand, auf übermäßig stressige Arbeitsbedingungen aufmerksam zu machen, falls diese auftreten sollten. Erzähl das mal den Fließbandarbeiter*innen, die konstant überwacht werden und nicht gewerkschaftlich organisiert sind…
Stress wurde im Neoliberalismus entpolitisiert, indem er als Resultat einer schlechten Lebensführung und falschen Entscheidungen dargestellt wurde. Diese Ideologie sieht Stress als etwas Omnipräsentes, als eine gegebene Tatsache, die wir mithilfe von Selfcare managen müssen.
Versteh mich nicht falsch: Es spricht natürlich nichts dagegen, in der U-Bahn mithilfe einer App eine Mindfulness-Meditation zu machen, um das Stresslevel (wenn auch nur kurzfristig) zu senken. Jede Art von Selfcare ist und bleibt eine gute Idee. Und wie die verstorbene feministische lesbische schwarze Aktivistin Audre Lorde mal gesagt hat: „Für mich selbst zu sorgen ist kein persönlicher Luxus. Es ist Selbsterhalt und damit ein Akt politischer Kriegsführung.“ Selfcare als Form des Widerstands weist die weitverbreitete Annahme, das Gefühl von Stress würde nur in unseren Köpfen existieren zurück. Dennoch sollten wir Lösungen finden, die über persönliche Belange hinausgehen. Wir müssen realisieren, dass Achtsamkeitsübungen und Selfcare allein auf Dauer nichts an der Gesamtsituation ändern werden, weil sie nur die Symptome, aber nicht die Ursachen behandeln.
Aus Gründen der Lesbarkeit und Verständlichkeit wurde die Übersetzung des englischsprachigen Originalartikels von Ronald Purser, einem Professor an der San Francisco State University und Autor des Buchs McMindfulness: How Mindfulness Became the New Capitalist Spirituality, redaktionell gekürzt und angepasst.
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