Bumsen. Vögeln. Poppen. Wie auch immer du es nennen willst, Sex ist überall: in der Welt der Musik, des Films, des Fernsehens und der Werbung. Dein Lieblingspaar in deiner Lieblingssitcom tut es. Ein früherer Filmstar versucht, dich damit zum Kauf eines überteuerten Parfüms zu verleiten. Vielleicht hast du versehentlich schon einmal deine Eltern dabei erwischt, was dich möglicherweise für immer traumatisiert hat. Da Sex omnipräsent ist, sind wir ihm ständig ausgesetzt – ob will es wollen oder nicht, und so viele von uns tun es. Warum fühle ich mich danach also immer so beschissen?
Meine Beziehung zu Sex ist schon mein ganzes Leben lang seltsam gewesen. Ich bin in einem Umfeld aufgewachsen, wo Jungfräulichkeit als tugendhaft gilt. Das weckte schon früh die Rebellin in mir. Meine Eltern haben mich nie aufgeklärt, denn das Thema war ihnen so unangenehm, dass es meinen (hauptsächlich jugendlichen) Trotz nur noch verstärkte. Schon immer habe ich Sex mit Ungehorsam gleichgesetzt und jede sexuelle Erfahrung als eine verdrehte Form von Ermächtigung angesehen. Allerdings fühlte sich Sex jedes Mal alles andere als ermächtigend für mich an. In der Hoffnung, irgendwann einer sexpositiven feministischen Idealgesellschaft zu leben, in der Frauen frei von gesellschaftlicher Unterdrückung und Tabus existieren können, schlief ich herum. Trotzdem endete ich weinend auf dem Boden meines fensterlosen Zimmers, weil sich Andy, den ich auf Bumble kennen gelernt hatte, nach dem Sex sofort aus dem Staub gemacht und mich daraufhin geghostet hatte.
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Alles fing an, als ich 17 war. In diesem Alter begann ich, feministische Theorien zu entdecken und mich damit auseinanderzusetzen. Sexuelle Promiskuität bedeutete für mich, dass ich eine gute Feministin war und damit die unterdrückerischen Doktrinen früherer Generationen ablehnte. Ich suchte nach potenziellen Sexualpartner:innen mit dem Ziel, die Kontrolle über meinen Körper und meine Geschichte als Frau wiederzuerlangen. Ich hoffte, dass mich jede sexuelle Erfahrung von gesellschaftlichen Zwängen befreien würde und ich dem Patriarchat so den symbolischen Mittelfinger zeigen könnte. Das war ungefähr zur gleichen Zeit, als Sexpositivität begann, Mainstream-Medien und Online-Communities für sich zu gewinnen, und das Internet nur so von sexuell befreiten Frauen strotzte. Viele dieser Frauen wirkten megacool und unbeschwert; ich wollte so sein wie sie. Ich bin mir nicht sicher, ob ich mich wirklich nach Sex sehnte oder es einfach tat, weil ich dachte, dass ich es tun sollte. All die „Yasss Girl“-Tweets in meiner Timeline bekräftigten mich nur noch mehr in meiner Denkweise.
Nachdem die Tat aber vollbracht war, gab es keine solchen sexpositiven Frauen am Spielfeldrand, die mich anfeuerten. Niemand war da. Das ist die Sache mit Sex: Er ist zutiefst persönlich und schließt normalerweise nur eine andere Person ein. Was passiert aber, wenn sich diese andere Person nicht weniger für dich interessieren könnte? „Es geht hier nur um Sex“, sagte ich mir und machte mich auf zum oder zur Nächsten.
Nach einer gewissen Zeit, in der ich mich beim Streben nach sexueller Souveränität verausgabt hatte, begann ich, nach dem Sex negative Gefühle wahrzunehmen. Ich hatte Schuldgefühle und schämte mich in Grund und Boden. Ich fragte mich: „Geht es uns allen so? Alle anderen tun es doch auch, und sie genießen es, oder?“ Anstatt diesen Gefühlen nachzugehen, tat ich sie schnell ab. Ich sagte mir, dass ich wohl zu viel nachdenken würde und mich glücklich schätzen sollte, dass ich überhaupt Sex habe. Die unangenehmen Gefühle verschwanden aber nicht. Sie waren hartnäckig und machten sich mit jeder sexuellen Erfahrung wie ein Parasit, der sich von meinem Selbstwertgefühl ernährt, breit. Ich begann, nach innen zu blicken. Ich fragte mich, ob ich vielleicht zu viel von meinen Partner:innen erwartete. Ich machte mir Sorgen darüber, dass ich möglicherweise das Problem war. Nach einer Weile wurde ich von einem unerschütterlichen, herzzerreißenden Gefühl der Scham überwältigt – alles auf meine eigenen Kosten.
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Eine Zeit lang fühlte ich mich mit meinen Erfahrungen völlig allein. Inzwischen ist mir aber klargeworden, dass ich nicht die einzige Frau bin, die so empfindet. Maz, eine 20-jährige Studentin, erzählt, dass auch sie oft negative Gefühle in Bezug auf Sex hat. „Als ich 18 war, traf ich einen Mann, von dem ich wusste, dass er sich nicht für mich interessierte. Er respektierte meine Grenzen nicht, aber ich sagte mir: ‚Es ist egal, wenn er sich nicht für mich interessiert, denn letztendlich bekomme ich doch das, was ich will!‘ Zumindest dachte ich, dass ich das wollte. Immerhin anderen Leuten und dem Internet zufolge war es das, was ich wollen sollte. Am Ende wurde ich aber nur von ihm ausgenutzt. Mir ging es schlecht und ich fühlte mich schuldig“, sagt Maz.
Der einundzwanzigjährige Rosie*, die in der Werbebranche arbeitet, ist es ähnlich ergangen. Sie erzählt: „Als Frau schäme ich mich oft für meine Sexualität. Ich habe das Gefühl, dass Frauen entweder sexuell frei und sorglos oder mustergültige Jungfrauen zu sein haben. Alles, was dazwischen liegt, wird nirgends wirklich dargestellt, und genau da falle ich rein.“
Ich will nicht schadenfroh klingen, aber es tröstet mich, zu wissen, dass ich nicht die einzige Person bin, die sich so fühlt. Dennoch bin ich ein wenig besorgt darüber, dass es viele anderen jungen Frauen so geht wie mir.
Kim Loliya, Sexualpädagogin und Gründerin des sexpositiven Magazins sex+, erklärt, dass es nicht ungewöhnlich ist, dass Frauen negative Emotionen in Bezug auf Sex verspüren. Das alles habe damit zu tun, wie uns Sex in jungen Jahren präsentiert wird. „Diese Gefühle können auf die Botschaften rund um dieses Thema, die wir zuerst in der Schule oder im Gespräch mit anderen Kindern aufschnappen, zurückgeführt werden. Oft ist die Ursache dafür auch Scham, die von Eltern und auch den Medien, in einem häufig sehr jungen Alter übermittelt werden.“
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„Wir werden noch enorme Fortschritte machen müssen, wenn es darum geht, wie wir Kinder großziehen, bilden und mit ihnen über Sex, ihren Körper und über das Verfechten von für sexuellem Einverständnis und körperlicher Autonomie sprechen. Diese frühen Versäumnisse sind der Grund dafür, warum es später im Leben Traumata gibt“, fährt sie fort.
Kim ist der Meinung, dass Kinder bereits im Alter von drei Jahren über Lust, Einverständnis und Inklusivität aufgeklärt werden sollten. Sie sagt, dass diese Themen in vielen Schulen fast zu spät besprochen werden. Ihrer Meinung nach, sollte das „viel früher“ passieren.
Zukünftige Generationen werden vielleicht in einer sexpositiven feministischen Idealgesellschaft, von der ich einst träumte, leben können. Was zum Teufel sollen aber Frauen wie ich in der Zwischenzeit tun, um diese negativen Gefühle loszuwerden? Kim sagt, dass es wichtig ist, diese Emotionen anzuerkennen und dich um dich selbst zu kümmern. „Sei nachsichtig dir gegenüber, behandle dich gut und distanzier dich von Selbstvorwürfen, strenger Bewertung und Urteilen und manchen Erwartungen. Diese Gefühle kommen aus einem bestimmten Grund hoch. Es ist am besten, sie zuzulassen, anstatt sie zu unterdrücken. Das funktioniert sowieso nie wirklich. Sie sind da, um uns etwas zu lehren, also ist es wichtig, dem Körper und den Emotionen als Teil eines Wachstumsprozesses zu vertrauen.“
Ich bin sicher, dass das leichter gesagt als getan ist. Ich für meinen Teil werde diesen Rat aber auf jeden Fall befolgen. Auf bald, sexpositive feministische Idealgesellschaft.
*Name wurde von der Redaktion geändert
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