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Ich hatte Angst, dass der Alkoholentzug meine Kreativität töten würde

Triggerwarnung: In diesem Artikel geht es um Alkoholismus und Sucht.
Als ich etwa 15 Jahre alt war, entwickelte ich den Wunsch danach, ein „kreatives“ Leben zu führen. Ich hatte auch eine sehr spezifische Vorstellung davon, wie ein sogenannter „kreativer“ Mensch meiner Meinung nach aussehen sollte.
Dabei hatte ich ein ziemlich klares Bild im Kopf – nämlich das von Carrie Bradshaw, die mit einem Glas Wein und einer Zigarette vor ihrem Laptop sitzt, und das von Rotwein und schwarzen Rollkragenpullis in düsteren Bars, von Whisky in schwach beleuchteten Büros, umgeben von riesigen Papierstapeln. In meiner Vorstellung lebten diese kreativen Leute nach dem Motto: „Betrunken schreiben, nüchtern überarbeiten.“
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Über diese vermeintliche Überschneidung von Kreativität und Alkohol wurde schon unzählige Male geschrieben. Die meisten Leute kennen das romantische Ideal vom künstlerischen, unkonventionellen Lifestyle mit langen, tiefgründigen Gesprächen im Zigarettenrauch mit einem Glas Wein in der Hand. Alkohol und Kunst schienen in meinem Kopf (und dem vieler anderer auch) einfach zusammenzugehören.
Dann, vor zwei Jahren, wurde mir aber klar, dass ich unbedingt mit dem Trinken aufhören sollte.
Es war nicht das erste Mal, dass ich über einen Entzug nachgedacht hatte. Tatsächlich hatte ich schon zweimal versucht, nüchtern zu werden – doch hatte das beide Male nur weniger als ein Jahr gehalten. Bei meinem ersten Entzugsversuch wurde ich zur Premiere einer Dokumentation eingeladen. Da war ich also, unter Journalist:innen, Filmmacher:innen und der Fashion-Elite meiner Stadt, völlig nüchtern und sehr schüchtern. Ich stand den ganzen Abend verlegen in einer Ecke, knüpfte keine Kontakte und fuhr direkt nach dem Ende des Films nach Hause.
Nur ein weiteres Beispiel dafür, dass Nüchternheit in der Kunstwelt einfach nichts zu suchen hat, dachte ich mir damals.
Trotzdem: Bei diesem dritten Versuch eines Entzugs war ich fest entschlossen, es diesmal wirklich durchzuziehen – nur wusste ich einfach nicht wie. Bei meinen ersten beiden erfolglosen Versuchen hatte ich mich erst mit Selbsthilfebüchern belesen und dann eine Therapie gemacht. Ich hatte versucht, den Wurzeln meines Alkoholproblems auf die Spur zu kommen, und wirklich alles „richtig“ gemacht, wie ich fand. Demnach fragte ich mich jetzt, was ich denn sonst tun sollte, damit es diesmal wirklich klappte.
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Worüber im Zusammenhang mit einem Entzug niemand wirklich zu sprechen scheint, ist, wie du deine Zeit jetzt verbringst, da du nicht mehr trinkst. Wenn doch jemand drüber redet, dann immer nur auf positive Art, so à la: „Ich habe jetzt so viel mehr Zeit, weil ich nie verkatert bin!“ Und diese neue Freizeit ist ja auch super, wenn du seit fünf Jahren nüchtern und ein viel erfüllterer Mensch bist als die unsichere Hülle einer Person, die erst seit vier Tagen keinen Alkohol mehr trinkt.
In diesen ersten Tagen und Wochen war meine neue „Freizeit“ für mich nämlich furchtbar. Plötzlich lagen mehrere leere Stunden, ganze leere Abende, vor mir, und ich hatte keine Ahnung, wie ich sie füllen sollte. Wann immer ich mir die Zeit normalerweise mit Nachmittagsdrinks oder einem Kater vertrieben hätte, der mir vor lauter Schlaf und Übelkeit einen ganzen Tag geraubt hätte, hatte ich jetzt einfach nichts zu tun.
Während meiner ersten beiden Entzüge verbrachte ich einen großen Teil dieser neuen Freizeit mit Schlaf. An den Samstagen und Sonntagen, an denen ich meinen Haushalt um 10 Uhr morgens erledigt hatte und planlos in meiner Wohnung rumsaß, legte ich mich aus Langeweile auf die Couch und machte die Augen zu.
Diesmal wusste ich aber: Wenn ich wirklich nüchtern bleiben wollte, musste ich dringend sicherstellen, dass mein neues nüchternes Leben nicht ganz so… langweilig war.
Also fing ich damit an, Kurzgeschichten zu schreiben. Ich ließ mich online zu spezifischen Themen inspirieren und schrieb einfach drauflos, um mir die Zeit zu vertreiben. Die Storys waren nicht besonders gut; ich hatte das Schreiben schon immer geliebt, es aber seit Jahren nicht mehr versucht. Ich war viel zu sehr damit beschäftigt gewesen, zu trinken und meinen Kater auszukurieren. Jetzt, da ich das aber nicht mehr machte, konnte ich dem Schreiben endlich mehr Zeit widmen. Und das tat ich auch! Ich schrieb eine Kurzgeschichte nach der anderen, und als ich allmählich besser darin wurde, fing ich sogar einen Roman an, für den ich jeden Tag 1.000 Wörter oder mehr zu Papier brachte.
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Ich kaufte mir Ton und fing an zu malen. Aus dem Ton formte ich Ohrringe (16 Paar sehr, sehr hässliche Ohrringe, um genau zu sein) und ließ sie in der Sonne trocknen, bevor ich sie bemalte und Haken hinzufügte – und dann direkt in einem Schrank verstaute, weil sie nicht wirklich für die Öffentlichkeit geeignet waren.
Zum ersten Mal seit meiner Teenagerzeit sprühte ich nur so vor Kreativität, und meine Leidenschaft für schöne Worte, komplizierte Absätze, strahlende Farben und das Gefühl von Ton unter meinen Fingern bestärkte meinen Wunsch, weiterhin nüchtern zu bleiben.
Ich hatte immer Angst davor gehabt, dass mir ein Entzug meine Kreativität rauben würde. Stattdessen verlieh er mir aber eine völlig neue.
Ich kann heute mit Sicherheit sagen, dass ich es ohne diese kreativen Beschäftigungen der ersten nüchternen Monate vermutlich nicht so weit gebracht hätte wie heute. Indem ich meiner Fantasie freien Lauf ließ, füllte ich die ansonsten leeren Stunden meines Lebens; noch dazu war diese Kunst für mich eine Art Meditation. Ich füllte mich davon gestärkt, und es war zutiefst befriedigend, ein neues Werk abzuschließen. Ich freute mich jede Woche aufs Wochenende, weil ich meine Freizeit mit Dingen verbringen konnte, die mich mit Freude erfüllten – so sehr, dass mir allein schon die Vorstellung Angst machte, ich könnte Alkohol trinken und damit auch nur eine Sekunde meiner neugewonnenen Freiheit an einen Kater verlieren.
Rückblickend finde ich all das überhaupt nicht überraschend. Wenn du schon mal von einer Kunsttherapie gehört hast, weißt du vermutlich, dass Kreativität oft als Achtsamkeitsübung verwendet wird, um Angststörungen, Depressionen und, ja, sogar Süchte zu behandeln.
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Eine Studie von 2016, die die Senkung des Cortisolspiegels (also des Stresspegels) der Teilnehmenden nach einer künstlerischen Betätigung untersuchte, ergab, dass die Kunst zu einem „statistisch signifikanten Absinken des Cortisolspiegels“ führte.
Das liegt daran, dass es dir die kreative Aktivität ermöglicht, angestaute Gefühle rauszulassen und eine Art „Flow“-Zustand zu erreichen, in dem die Zeit vergeht, ohne dass du es mitbekommst. Ungefähr so, wie es mir ging, als ich mit dem Weintrinken anfing.
Ich bin nicht die Einzige, die nach einem Entzug eine verbesserte Kreativität bemerkt. Chris Raine von Hello Sunday Morning (einer wohltätigen Organisation, die Leuten dabei helfen will, ihre Beziehung zum Alkohol zu verändern) sagte gegenüber Arts Hub, die Nüchternheit habe auch ihn zu einem kreativeren Menschen gemacht. „Als ich ein Jahr lang keinen Alkohol trank, verbrachte ich jeden Sonntagmorgen mit Schreiben. Am Ende hatte ich fast ein ganzes Buch voller Storys fertig“, erzählte er.
Eine aktuelle Studie der Essex University und der Berliner Humboldt-Universität wollte den Mythos widerlegen, dass Drogen und Alkohol die Kreativität verstärken könnten. Dazu untersuchten die Forschenden Hunderte wissenschaftlicher Arbeiten und kamen zu dem Schluss: „[Alkohol und Drogen] helfen der Kreativität überhaupt nicht“, erklärte Dr. Paul Hanel gegenüber dem Guardian. „Sie bringen nichts Gutes. Tatsächlich haben sie gar keinen Effekt.“
Natürlich sind wir alle verschieden, und die Entscheidung zum Alkoholverzicht ist eine ganz persönliche. Ich selbst hatte große Angst davor, meine Fantasie an die Nüchternheit zu verlieren. Heute bin ich seit 621 Tagen nüchtern – und weiß, dass ich früher nicht wegen des Weins kreativ war, sondern trotz des Weins. 
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