Es fing alles mit einer Elster an. Ich war vorher nie besonders abergläubisch gewesen, aber als ich letztens wenig enthusiastisch durch einen Londoner Park spazierte – wie jeden Dienstagmorgen –, versperrte mir plötzlich eine fette Elster den Weg. Ich schenkte ihrem frechen Schnabelgesicht nur einen kurzen Blick und schlurfte weiter. Erst bei meiner zweiten Runde durch den Park bemerkte ich, dass sich meine Jackentaschen – die sonst vor lauter Krimskrams fast aus allen Nähten platzten – ungewöhnlich leer anfühlten. Panisch tastete ich mich ab und stellte fest: Mein Portemonnaie und meine Schlüssel waren weg.
Nachdem ich daraufhin einige Male durch den Park gerannt war, unter Bänke geguckt und Hundebesitzer:innen beim Gassigehen belästigt hatte, fand ich mich mit der Wahrheit ab: Ich hatte meinen Geldbeutel und meine Schlüssel verloren – oder war vielleicht sogar beklaut worden. Und dann fiel sie mir wieder ein, die Elster. Die verdammte Elster. Ein uraltes Omen für Pech. War das hier so eine Art gefedertes Karma?
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Das Ganze war im Januar, mitten im Lockdown. Während der tristen Monate, die darauf folgten, ist mein sonst so logisches Hirn zu einem salbeigetränkten Brei verkommen. Ich habe mir schon immer gerne mein Horoskop durchgelesen – aber seit diesem Jahr lese ich es direkt nach dem Aufstehen und klammere mich an jede noch so neblige Smartphone-Vorhersage, als käme sie direkt vom Orakel in Delphi. Das Internet sagte mir, das Sternbild Zwillinge stehe in meinem 12. Haus des Wohlbefindens, also würde ich womöglich Schlafprobleme haben; klar, dass ich mich danach eine Woche lang schlaflos im Bett wälzte. Ich hatte keine Ahnung, was mit mir los war, aber das Universum wollte mich eindeutig verarschen.
Mein tägliches Horoskop-Hobby öffnete schnell einer ganzen Menge anderer Aberglauben die Tür. Quasi über Nacht glaubte ich plötzlich an eine Vielzahl von Omen und Ammenmärchen, an die ich mich schwammig aus alten Charmed-Episoden erinnerte. Voller Existenzängste umgab ich mich ab Januar mit Kristallen und räucherte mich so oft mit Salbei ein, dass ich einen trockenen Husten entwickelte. Um den Park von damals machte ich einen weiten Bogen, weil ich Angst vor weiteren Elster-Begegnungen hatte. Stattdessen schlich ich durch die grauen Straßen der Innenstadt und hüpfte dabei wie eine Besessene über sämtliche Gitter, Risse und Furchen im Bürgersteig.
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Seit Wochen fühlte ich mich wie gelähmt – zu müde, um das Haus zu verlassen, aus Angst, damit irgendeine launische höhere Macht zu provozieren.
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Mein zunehmend wahnsinniges Verhalten erreichte vor ein paar Wochen einen Höhepunkt, als ich ausdruckslos meinen Laptop anstarrte und bemerkte, dass ich seit über 24 Stunden kein einziges Wort mehr gesprochen hatte. Was passierte hier mit mir? Ich hatte schon vorher an Angststörungen gelitten, die sich meistens in Form von Druckgefühlen in meiner Brust und einer sprunghaften Nervosität äußerten. Seit Wochen fühlte ich mich jetzt aber wie gelähmt – zu müde, um das Haus zu verlassen, aus Angst, damit irgendeine launische höhere Macht zu provozieren.
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Genau an diesem Tiefpunkt piepte mein Handy. Eine neue Benachrichtigung: Merkur ist jetzt rückläufig – das kannst du tun. Das war’s. Ich hatte die Schnauze voll. Ich hatte unheilvolle Elstern, Wetter-Omen, Vollmonde, Leitern und schwarze Katzen überlebt, aber der rückläufige Merkur war der Tropfen, der mein Fass zum Überlaufen brachte. Ich hatte plötzlich das Gefühl, kochendes Wasser würde mir durch die Adern pumpen, und verkroch mich im Bett, zog mir die Decke über den Kopf und kam erst wieder hervor, als das Rauschen in meinen Ohren mehrere Stunden später endlich aufhörte.
Irgendwas in mir war zersplittert. Was mal als beiläufiges Interesse an Astrologie angefangen hatte, hatte sich im Laufe der Zeit in etwas Toxisches entwickelt, das ich nicht mehr im Griff hatte. Am nächsten Morgen unterdrückte ich den Instinkt, mein Tageshoroskop zu checken. Stattdessen öffnete ich meinen Browser und googelte „Aberglauben“. Nach minutenlangem Scrollen wurde mir klar: Mein Verhalten in letzter Zeit war überhaupt nichts Ungewöhnliches. Besessener Aberglaube wird meist durch einen Kontrollverlust oder ein Gefühl der Unberechenbarkeit ausgelöst, las ich. Sprich: durch einen Lockdown. Das hätte mir eigentlich selbst klar sein müssen.
Ich bin nicht die Einzige, die auf unsere momentanen Einschränkungen so reagiert. Laut Majella Cogan, Psychotherapeutin im Londoner Nightingale Hospital, neigen aktuell sogar die Vernünftigsten unter uns zu merkwürdigem Verhalten. „Wir haben momentan keinen Zugang zu unseren normalen Bewältigungsstrategien“, erklärt mir Cogan am Telefon. „Wir können nicht ins Fitnessstudio oder mit unseren Freund:innen in eine Bar, daher geraten viele Leute gerade ein bisschen ins Wanken. Das äußert sich auf komische Weise – zum Beispiel durch komische Träume oder spontanes Weinen. Und das betrifft nicht nur die Menschen, die ohnehin schon in klinischer Behandlung sind.“
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Es gibt einen Grund dafür, dass sich dieser nicht enden wollende Lockdown so stark auf uns auswirkt: seine schiere Länge. Dabei sind wir Menschen eigentlich darauf angewiesen, zusammen zu sein. Die Daten aus zahllosen Studien mit Säugetieren zeigen, dass uns unser gesellschaftliches Umfeld tiefgreifend beeinflusst und wir darunter leiden, wenn diese Verbindungen gekappt werden. Studien haben bewiesen, dass Ratten, wenn sie voneinander getrennt und ihnen alle Stimuli entzogen werden, Gewicht verlieren und anfälliger für tödliche Krankheiten werden. Bei Menschen ist das genauso. Eine Studie ergab, dass ein Mangel sozialer Verbindungen zu Depressionen, schlechtem Schlaf, geistigem Abbau, schlechter kardiovaskulärer Funktion und einem geschwächten Immunsystem führen kann, und das in jedem Alter.
Im März 2020, als sich Corona in unserer Welt immer breiter machte und sich ein Land nach dem anderen in den Lockdown verabschiedete, untersuchte eine Gruppe Epidemiolog:innen am Londoner University College in einer wöchentlichen Studie, wie sich die Selbstisolation auf die britische Bevölkerung auswirkte. Die zeigte, dass sich Unruhe- und Depressionsraten über den Sommer zwar verbesserten, im Dezember aber wieder zunahmen. Die Teilnehmer:innen betonten, dass sich der erneute Lockdown schwerwiegender auf ihre Leben ausgewirkt habe als der im Frühjahr; eine:r von fünf sei demnach depressiv oder leide unter Angststörungen, insbesondere unter Frauen, jungen Menschen, ethnischen Minderheiten oder Leuten aus armutsschwachen Haushalten.
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Glückshosen, Klopfen auf Holz und eine Angst vor der 13 sind Arten eines völlig normalen, kulturell verwurzelten Aberglaubens – für Menschen, die unter Zwangs- oder Angststörungen leiden, können sie aber belastend werden.
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Laut Emily Balcetis, Professorin für Psychologie an der New York University, leiden wir aktuell besonders stark unter dem Lockdown, weil wir von Natur aus ein Bedürfnis nach Kontrolle haben. „Selbst die Spontansten von uns wünschen sich, ihre eigenen Umstände vorhersehen zu können. Wenn wir das Gefühl haben, nicht genug Kontrolle zu haben, konstruieren wir uns eben eigene Möglichkeiten der Kontrolle – oder zumindest des Glaubens an Kontrolle –, selbst wenn wir unsere Zukunft dadurch nicht zusätzlich beeinflussen können. Das hilft uns dabei, die Angst vor dem Chaos und der Unsicherheit zu verarbeiten.“ Eine dieser Bewältigungsstrategien ist das Vertrauen in Rituale und Aberglauben – oder magisches Denken, wie es in der Psychologie heißt.
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Im Lockdown entwickelte die 31-jährige Emma wie ich eine Abhängigkeit vom Mystischen. Sie war wie besessen von Numerologie, vor allem der Zahl 2. „Im November sah ich die 2 plötzlich überall. Ich hatte in einer Dating-App diesen Typen kennengelernt und fühlte mich total zu ihm hingezogen. Als ich ihn traf, wartete er vor einer blauen Tür auf mich, auf der die Zahl 222 stand. Ich fragte ihn nach seinem Geburtsdatum – er sagte, er sei am 22. Februar geboren. Ich dachte sofort: ‚Oh mein Gott, schon wieder die 222.‘ Danach war ich wie besessen von Zahlensequenzen und redete mir selbst ein, er sei mein Seelenverwandter, bevor wir uns überhaupt wirklich kannten. Im Januar musste ich mit ihm Schluss machen, weil ich langsam wahnsinnig wurde.“
Auch die 26-jährige Frankie hatte eine ähnliche Reaktion auf die Unsicherheit des Lockdowns. „Ich würde mich nicht als sehr abergläubische Person bezeichnen, aber ich achte gerade definitiv viel mehr darauf, nicht auf die Spalten im Bürgersteig zu treten, was mich selbst nervt. Bei einigen Dates habe ich mich deswegen schon irre gefühlt, aber ich kann es nicht lassen.“ Trotz dieser neuen Angewohnheit kann Frankie ihr abergläubisches Verhalten noch objektiv betrachten. „Im Moment passiert so viel Negatives, was wir nicht kontrollieren können. Ich schätze, mein Kopf sucht einfach eine eigene Möglichkeit, Positivität zu ermutigen und abzusichern.“
Und an und für sich ist dieser Aberglaube natürlich nicht schädlich; schließlich kann er in Stresssituationen sogar tröstend wirken. Problematisch wird es aber, wenn sich die Leute darauf verlassen, anstatt auf ihre Logik zu setzen. Professor Balcetis hat dafür ein Beispiel: Während des Golfkriegs zerrissen Israelis aus Angst vor Raketen aus dem Irak Fotos von Saddam Hussein, um sich zu schützen. „Das könnte ein Gefühl der abergläubischen Kontrolle verleihen“, erklärt Balcetis, „aber wenn die Leute auf dieses Ritual setzten, anstatt sich vor den Raketen in Sicherheit zu bringen, standen die Chancen gegen sie. Es geht dabei darum, Preis und Nutzen gegeneinander abzuwägen.“
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Glückshosen, Klopfen auf Holz und eine Angst vor der 13 sind Arten eines völlig normalen, kulturell verwurzelten Aberglaubens – für Menschen, die unter Zwangs- oder Angststörungen leiden, können sie aber belastend werden. Die meisten Leute sehen eine Leiter, laufen außen drumrum und vergessen sie dann wieder; Betroffene einer Zwangsstörung zerbrechen sich hingegen womöglich den Kopf darüber, in welcher Richtung sie herumgelaufen sind, und reden sich ein, dass jetzt sicher bald etwas Schlimmes geschehe. „Aberglaube unterscheidet sich von Kultur zu Kultur“, erklärt Cogan, „aber sein Zweck ist es, das Gefühl zu vermittelt, beschützt und sicher zu sein – er ist eine Reaktion auf Angst.“
Wie kannst du dein Hirn also davon abhalten, abergläubisch durchzudrehen? Cogan, die auf kognitive Verhaltenstherapie spezialisiert ist, bringt ihren Patient:innen als Allererstes bei, objektiver zu denken. „Stell dir vor, du hast eine Kamera und zoomst immer weiter raus, bis du das ganze Motiv sehen kannst. Was in deinem Kopf so los ist, solltest du genauso betrachten – von einer klinischen, nicht einer persönlichen Perspektive aus“, sagt sie. Die Idee dahinter: Sobald wir unser Verhalten aus einiger Entfernung untersuchen, können wir uns emotional davon lösen und unsere Angst rationaler verarbeiten.
Das Ziel ist es, mit unserer Unsicherheit entspannter umzugehen, so unangenehm das vielleicht auch klingt. Cogan zufolge sehnen sich viele ihrer Patient:innen, die unter abergläubischen Gedanken oder einer Zwangsstörung leiden, nach Ordnung und Kontrolle – die wiederum den Angst-Kreislauf aufrechterhalten. „Es heißt schließlich nicht umsonst, dass im Leben nur der Tod und die Steuer wirklich sicher sind“, lacht sie. „Immer nach dem nächsten Omen Ausschau zu halten, hält dich in einem Teufelskreis gefangen, der dich vielleicht kurzfristig beruhigt – stattdessen solltest du dich aber selbst beruhigen können.“
Nachdem ich unseren Anruf beende, hängen ihre Worte noch lange in der Luft – wie der Salbei, den ich seit Monaten verbrenne. Ich schließe die Augen und zoome mental raus: In meinem Kopf spielen sich die letzten Monate meines Lebens ab. Das ist kein schöner Film, aber als ich die Augen öffne, fühle ich mich irgendwie erleichtert.
Obwohl die Impfungen langsam wirklich ins Rollen kommen, ist unsere Realität in dieser Pandemie weiterhin voller Ungewissheiten. Werden uns die Impfstoffe vor neuen Mutationen schützen? Wann werde ich jemals wieder ins Büro fahren? Wird das Social Distancing irgendwann enden? Das alles weiß niemand so genau – aber eins steht fest: In den Sternen werde ich die Antwort darauf sicher nicht finden.