Wenn es um COVID-19 geht, sind wir nicht alle gleich gefährdet. Zu den gesundheitlichen Faktoren, die mit einem höheren Corona-Infektionsrisiko zusammenhängen, gehören unter anderem fortgeschrittenes Alter, Diabetes, Lungen- oder Herzkreislauferkrankungen und Übergewicht. Ein Risikofaktor, der aber nicht so bekannt ist, ist das polyzystische Ovarsyndrom (PCOS), eine weit verbreitete endokrinologische Erkrankung, die jeden zehnten Menschen mit Eierstöcken im „geburtsfähigen“ Alter betrifft.
In einer Studie vom Mai 2021 fanden Forschende der University of Birmingham heraus, dass PCOS-Betroffene ein deutlich größeres Risiko (52 Prozent) als Nicht-Betroffene haben, an COVID-19 zu erkranken.
Die Allgemeinmedizinerin Dr. Christina Papadopoulos erklärt gegenüber Refinery29, dass dabei viele der Begleiterscheinungen von PCOS eine große Rolle spielen. „PCOS ist eine komplexe Störung, die mit einem höheren Risiko für Herzkreislaufprobleme, Typ-2-Diabetes, Übergewicht, nichtalkoholische Fettlebererkrankung und Bluthochdruck einhergeht. All das sind ebenfalls eigenständige Risikofaktoren für COVID-19.“
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Als die Forschenden aber in ihrer Studie auch den Body Mass Index (BMI) und Diabetes als eigenständige Faktoren berücksichtigten, stellten sie immer noch ein erhöhtes Corona-Risiko für PCOS-Betroffene fest. „In unserer Studie verglichen wir deren Erkrankungsrisiko mit dem von [nicht von PCOS betroffenen] Frauen [bzw. Menschen mit Eierstöcken] mit einem ähnlichen Körpergewicht“, erklärt die Professorin Wiebke Arlt, Leiterin des Institute of Metabolism and Systems Research an der University of Birmingham. „Die Studie ergab, dass [PCOS] das COVID-Risiko deutlich erhöht.“ Konkret fanden die Forschenden heraus, dass PCOS-Betroffene ohne andere Erkrankungen wie Diabetes immer noch ein um 28 Prozent größeres Risiko haben, sich mit Corona zu infizieren.
Wie lässt sich das erklären? Die Theorie macht dafür Androgene verantwortlich (die „männlichen“ Hormone). „PCOS zeichnet sich durch einen Überschuss an Androgenen aus“, erklärt Papadopoulos. „Es gibt schon starke Indizien dafür, dass Männer für COVID-19 anfälliger sind als Frauen, und obwohl der genaue Mechanismus dahinter noch immer untersucht wird, ist es wahrscheinlich, dass männliche Sexualhormone bei der Anfälligkeit für das Virus eine Rolle spielen.“
Dazu erwähnt Arlt außerdem die Verbindung zwischen einem Androgen-Überschuss und einer Insulinresistenz, die ebenfalls als COVID-19-Risikofaktor gilt. „Das heißt, dass ein:e PCOS-Betroffene:r eine höhere Insulinresistenz hat [als gleichgewichtige Menschen ohne PCOS], weil die Androgene im Körperfett die Resistenz erhöhen. Das ist ein zusätzlicher Risikofaktor. Daher ist es für uns völlig logisch, warum PCOS-Betroffene ein höheres Erkrankungsrisiko haben als Nicht-Betroffene mit ähnlichem Gewicht oder ähnlichem Diabetes.“
Arlt ergänzt, dass das erhöhte COVID-19-Risiko proportional zum Gewicht verläuft. Wenn du also an PCOS erkrankt bist, hast du vermutlich ein leicht erhöhtes Risiko, dich mit Corona zu infizieren, als jemand ohne PCOS in derselben Gewichtsklasse. Dieses Risiko erhöht sich deutlich, je mehr du wiegst.
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Als diese Studie erschien, setzten sich Arlt und ihre Kolleg:innen dafür ein, PCOS als selbstständigen COVID-19-Risikofaktor anerkennen zu lassen. Das ist bisher nicht passiert. „Das Interesse an unserem [Paper] war groß, und natürlich haben wir die Ergebnisse mit relevanten Behörden geteilt. Bisher gelten PCOS-Erkrankte aber weiterhin nicht als besonders gefährdet.“ Sie ergänzt: „Das passt zu den Erfahrungen, die wir schon kennen: Das Gesundheitswesen interessiert sich nur mäßig für frauenspezifische Erkrankungen.“
Zu einem gewissen Grad liegt das schlicht und ergreifend an Sexismus, meint sie. „Frauen machen mehr als 50 Prozent der Weltbevölkerung aus, aber ihre Probleme werden generell weniger ernst genommen, würde ich sagen.“ Die Tatsache, dass PCOS-Betroffene meist zu einer Altersklasse und einem Geschlecht gehören, die ein geringeres Risiko einer schweren COVID-19-Infektion haben, spielt hier aber auch eine Rolle, schätzt Papadopoulos. Doch obwohl „die meisten PCOS-Patient:innen in ihren 20ern oder 30ern die Diagnose bekommen, kann das auch in jedem anderen Alter zwischen Pubertät und Menopause passieren“.
Die größte Hürde, die dem Fortschritt im Weg steht, ist Arlt zufolge der Name der Erkrankung. „Der Name [polyzystisches Ovarsyndrom] lässt fälschlicherweise vermuten, es sei eine Krankheit der Eierstöcke und würde sich nur darauf beschränken. Das ist aber komplett falsch.“ Die Auswirkung auf die Eierstöcke ist ein Symptom vom PCOS, aber nicht der Auslöser: Die Eierstöcke reagieren auf die Insulinresistenz und die vielen Androgene im Blut und arbeiten daher nicht so, wie sie sollen.
Arlt wünscht sich, der Name würde widerspiegeln, dass das PCOS eine Stoffwechselstörung ist, die den ganzen Körper betrifft. Das würde nicht nur dem öffentlichen Image der Krankheit helfen, sondern auch bei der Anerkennung und Behandlung in der Medizin. „Wegen des Namens werden die meisten PCOS-Patient:innen von Gynäkolog:innen betreut, nicht aber von Endokrinolog:innen oder Stoffwechsel-Expert:innen.“
Eine Verbindung zwischen PCOS und Long COVID oder besonders schweren Krankheitsverläufen wurde bisher nicht festgestellt; mit diesen Studien warten die Forschenden noch, bis sie genügend Testsubjekte zusammenbekommen. Und um auf Nummer sicher zu gehen, wenn du selbst vom PCOS betroffen bist, gilt: Behalte das Risiko im Kopf, trage eine Maske, halte Abstand und lass dich impfen, falls du es nicht schon getan hast. Wie Arlt selbst sagt: „Mach dich nicht verrückt, aber sei ein bisschen vorsichtiger als andere – denn du bist auch ein bisschen stärker gefährdet.“
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