Stimmungsschwankungen. Akne. Wenig Lust auf Sex. Wie jede Person weiß, die schon mal ein hormonelles Verhütungsmittel (und vor allem die Pille) genommen hat, sind das nur einige der Nebenwirkungen, mit denen wir klarkommen sollen, um eine ungewollte Schwangerschaft zu verhindern. (Oder man betet darum, dass das beim Sex verwendete Kondom nicht gerissen ist – falls überhaupt eins benutzt wurde.)
Beinahe jede zweite Schwangerschaft rund um den Globus ist ungewollt, laut einem Bericht des United Nations Population Fund (UNFPA) von 2022. Angesichts dieser Statistik erscheinen aktuelle Angriffe gegen die Selbstbestimmung über die eigene Fortpflanzung – wie in den USA, wo der Zugang zu Abtreibungen immer schwerer wird – umso dramatischer. „Diese Zahlen zeigen: Es läuft eindeutig einiges schief“, meint Dr. Melanie Balbach, Fortpflanzungsbiologin und Postdoktorandin am medizinischen Institut der New Yorker Cornell University.
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Ein Teil des Problems könnte die Tatsache sein, dass nur die Hälfte der menschlichen Bevölkerung überhaupt die Möglichkeit hat, medizinisch zu verhüten. Obwohl Kondome und Vasektomien für cis Männer zwar eine Option sind, haben hormonelle Medikamente für den weiblichen Körper doch die höchste Wirksamkeit. Trotz der furchtbaren Nebenwirkungen dieser hormonellen Mittel sollen wir daher einfach damit „klarkommen“ – zum Teil, weil es aktuell eben keine anderen Optionen gibt.
Das könnte sich allerdings bald ändern. In diversen Ländern werden gerade Dutzende Studien und Tests zu männlichen Verhütungsmitteln durchgeführt. Die sind genau genommen keine neue Entwicklung; schon seit den 1990ern wird Testosteron (mit vielversprechenden Ergebnissen) als Verhütungsmittel getestet. Diese Versuche wurden jedoch oft frühzeitig gestoppt. Erst 2012 wurde eine Studie früher als geplant abgebrochen, weil die Nebenwirkungen des Medikaments einfach zu stark waren – Nebenwirkungen, die dabei aber sehr ähnlich aussehen wie die von hormonellen Verhütungsmitteln für die Frau.
NES/T (Nestorone®/Testosterone) ist das erste Verhütungsmittel für den Mann, das es über die ersten Stufen der klinischen Prüfung hinaus geschafft hat. Es wird derzeit am Menschen getestet, um es auf seine Sicherheit und verhütende Wirksamkeit zu untersuchen; die Forschenden sind dahingehend sehr optimistisch. Bei dem Medikament handelt es sich um ein Hormon-Gel, das täglich auf die Schulter aufgetragen wird. Es hat zwei Aufgaben: Es soll (vorübergehend) die Spermienproduktion hemmen und dabei den Sexualtrieb und die -funktion erhalten.
Obwohl NES/T die Option sein könnte, die als Erste in unseren Apotheken ankommt, wird aktuell auch eine andere Methode geprüft. Obwohl sich das Medikament noch in seiner frühen Testphase befindet, wies eine Studie von Weill Cornell Medicine die Möglichkeit eines nicht-hormonellen Enzymhemmers nach, der Männer vorübergehend unfruchtbar machen könnte. Der große Unterschied zu den hormonellen Medikamenten, die bisher in Arbeit sind: Dieser Hemmstoff müsste nur eine halbe Stunde vor Bedarf eingenommen werden und lediglich 24 Stunden lang wirken. Beides könnte weniger Nebenwirkungen bedeuten.
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Eine bald veröffentlichte Studie von DESIRELine, gegründet von der Bill & Melinda Gates Foundation und der Male Contraceptive Initiative, hat über 13.000 Männer aus aller Welt zu männlichen Verhütungsmitteln befragt und ergab eine enorme Nachfrage. Okay, also würden sich Männer diese Mittel zumindest wünschen. Aber würden sie sie auch tatsächlich einnehmen? Dazu haben wir mal nachgefragt.
Michael ist 27 Jahre alt und lebt mit seiner Partnerin zusammen. Er sagt, er würde die „Pille für den Mann“ probieren, wenn die Spirale seiner Freundin nicht mehr die beste Option für die beiden wäre. Obwohl das Potenzial reduzierter Nebenwirkungen des nicht-hormonellen Mittels zwar reizvoll klingt, macht er sich aber dennoch Sorgen wegen der „spontanen“ Anwendung von nur einer halben Stunde zuvor. „Da besteht das Risiko, dass du es in dem Moment vergisst, oder? Das hätte dann aber natürlich riesige Konsequenzen. Es wäre also ein bisschen unheimlich.“ Für Michael wäre die Verlässlichkeit eines hormonellen Verhütungsmittels (trotz eventueller Nebenwirkungen) daher die bessere Wahl.
Der 27-jährige Joseph sieht das ähnlich: Er würde ein Verhütungsmittel in Form einer Pille oder eines Gels verwenden, sofern es gründlich untersucht wurde. „Ich glaube, ich würde eher das nicht-hormonelle Mittel nehmen. Ich weiß, dass die Pille (für die Frau) ziemlich heftige Nebenwirkungen haben kann. Die würde ich gern vermeiden.“ Weil er aktuell Single ist, würde ein kurzfristig anwendbares, nicht-hormonelles Mittel für ihn am meisten Sinn machen. Dr. Balbach zufolge ist das eine der stärksten Motivationen hinter der Suche nach nicht-hormonellen Optionen: „Warum solltest du jeden Tag etwas einnehmen, wenn du gar nicht weißt, wann du das nächste Mal Sex hast? Das ist das Problem mit hormonellen Optionen: Man muss sie eben durchgehend einnehmen. Wir wünschen uns aber ein Mittel für jede:n.“
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Die Sorgen der Männer vor eventuellen Nebenwirkungen sind völlig berechtigt. Dennoch werfen sie die Frage auf, wieso von Frauen erwartet wird, mit genau diesen Nebenwirkungen zu leben. Männer genießen offenbar das Privileg, wählerisch sein zu dürfen; das ist auch dem 26-jährigen Conner bewusst. „Ich höre immer wieder, dass Typen auf die Frage ‚Würdest du eine Pille nehmen?‘ mit ‚Nein‘ antworten – ‚wegen der ganzen Nebenwirkungen‘. Dabei ist ihnen gar nicht klar, dass [diese Nebenwirkungen] auch die aktuellen Pillen betreffen, die viele Frauen täglich nehmen.“ Aber ist es wirklich so, dass ihnen das nicht klar ist? Oder wird von Frauen einfach erwartet, mit sämtlichen Nebenwirkungen klarzukommen, weil es als ihre „Aufgabe“ angesehen wird, eine Schwangerschaft zu verhindern?
Alex aus Schottland verwendet selbst seit einem Jahr das NES/T-Verhütungs-Gel. Er ist Teilnehmer einer klinischen Studie des MRC Centre for Reproductive Health der University of Edinburgh. Das Beste an dem Mittel (abgesehen von der verhinderten Schwangerschaft seiner Freundin, natürlich)? Er hat bisher keine Nebenwirkungen bemerkt. „Mir wurde erklärt, dass ich alle möglichen Nebenwirkungen erleben könnte – wie Haarausfall, stärkeres Haarwachstum, Gewichtsverlust, Gewichtszunahme, eine geschwächte oder gestärkte Libido… Ich würde aber nicht sagen, dass ich irgendwas dergleichen festgestellt habe.“
Abgesehen vom klaren Ziel der Verhütung – wieso entschied sich Alex für die Teilnahme an der klinischen Studie? „Wie viele Frauen hatte meine Freundin schon Probleme mit verschiedenen Verhütungsmitteln“, erzählt er. Bei wiederholten Gesprächen darüber, welches Mittel sie einnehmen sollte, fand es Alex seltsam, dass der Druck der Verantwortung immer auf ihren Schultern lastete. „Sie ist jetzt sehr glücklich darüber, keine Mittel mehr einnehmen zu müssen und einfach ihr normales Ich sein zu können, ohne dass wir uns um die Verhütung Sorgen machen müssen. Es ist alles so einfach.“ Das Gel muss er jeden Tag auf seine Schulter auftragen. Er sagt: „Mit der Zeit ist das wie Zähneputzen. Du brauchst ja auch keine Motivation, um dir jeden Tag die Zähne zu putzen.“
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Die Leute müssen verstehen, dass die Verhütung nicht nur die Sache derjenigen sein sollte, die selbst schwanger werden können.
Dr. Melanie Balbach, Fortpflanzungsbiologin
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Alex gefällt diese Option also sehr gut und betrachtet sie einfach als Teil seiner morgendlichen Routine. Aber können wir uns wirklich darauf verlassen, dass alle damit so verantwortungsbewusst umgehen würden? Wenn Alkohol und Lust mitspielen, weiß man schließlich nie, was im Eifer des Gefechts vielleicht geschwindelt wird. Natürlich kann es auch passieren, dass jemand vergisst, die Pille zu nehmen oder das Gel aufzutragen (schließlich haben nicht ohne Grund viele von uns einen „Pillen-Wecker“ auf dem Handy eingerichtet); es wäre allerdings naiv, das Risiko der Täuschung und Lügen zu ignorieren. Schließlich ergab eine australische Studie, dass ganze 32 Prozent der befragten Frauen schon einmal Stealthing seitens eines männlichen Partners erlebt hatten (das heißt, dass er sich heimlich das Kondom abzog). Es besteht also durchaus das Risiko, dass manche Männer fälschlicherweise behaupten könnten, ein Verhütungsmittel genommen oder benutzt zu haben.
Von den Zweifeln an der Vertrauenswürdigkeit mal ganz abgesehen, lässt es sich dennoch nicht leugnen, dass eine größere Auswahl an Verhütungsoptionen längst überfällig war. „Für manche Menschen kann das eine echte Rettung sein. Manche Frauen reagieren negativ auf hormonelle Verhütungsmittel. Es wäre also toll, die Option auch für Männer zu haben“, meint Michael.
Dr. Balbach ergänzt: „Letztlich ist damit allen geholfen, weil die Last der Verhütung dann nicht nur auf der Person liegt, die schwanger werden kann. Und wer jemanden schwängern kann, hat aktuell kaum Auswahlmöglichkeiten. Diese neuen Optionen könnten ihnen wirklich dabei helfen, ihre eigene Fruchtbarkeit besser bestimmen zu können.“
Auch Josephs ehemalige Partnerinnen wurden durch die Nebenwirkungen ihrer Verhütung enorm beeinträchtigt. „Dadurch wurde mir klar, wie wichtig es ist, worüber wir hier reden. In diesen Situationen konnte ich nämlich nie etwas tun. Ich würde mir auch sehr wünschen, dass diese Mittel angemessen von den Krankenversicherungen mitbezahlt würden und für wenig Geld oder auch umsonst verfügbar wären. Das kann bei der Verhütung nämlich prinzipiell ein großes Problem sein.“
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Wegen der Risiken körperlicher oder finanzieller Auswirkungen kann es sein, dass sich viele Männer prinzipiell dagegen entscheiden, ein Verhütungsmittel zu verwenden. Schließlich sind die Konsequenzen für sie auch nicht so drastisch wie für die Frauen. Dadurch gilt nicht nur die Frage, ob Männer diese Mittel überhaupt einnehmen würden – sondern auch, ob Menschen, die schwanger werden können, denen überhaupt vertrauen können, die vor ungewollten Konsequenzen vom Sex theoretisch einfach davonlaufen könnten.
Leicht verfügbare, erschwingliche Verhütung für den Mann ist daher genauso wichtig wie die Diskussion darüber. „Wir sollten dringend darüber reden, damit es für Männer eine Option ist, die sie in Betracht ziehen würden, sobald sie denn verfügbar ist“, meint Dr. Balbach. „Wir brauchen dahingehend nämlich eine Veränderung in den Köpfen: Die Leute müssen verstehen, dass die Verhütung nicht nur die Sache derjenigen sein sollte, die selbst schwanger werden können.“
Nachdem er uns erzählt hat, dass sich sein Leben nicht wirklich verändert hat und das Auftragen des Verhütungs-Gels für ihn jetzt einfach zum Alltag gehört, entschuldigt sich Alex dafür, dass seine Erfahrung so „langweilig“ sei. Vielleicht lässt sich das aber auch aus einem anderen Blickwinkel betrachten: Wenn sichere und effektive Verhütung für den Mann verfügbar wird, sollte das keine Sensation sein – sondern ein willkommener Schritt in Richtung der Geschlechtergerechtigkeit in der Fortpflanzungsmedizin.
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