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Aus dem Anstehen ein Event machen – In Berlin wird das Warten zelebriert

Foto: Hal Gatewood via Unsplash.com
Ich wohne direkt neben einem Freibad. Was fantastisch ist, schließlich hat man nicht immer Zeit für einen Ausflug an den See, und manchmal ist ein Sprung ins kalte Wasser nach der Arbeit um 19 Uhr so wichtig, dass es in dem Moment egal ist, um welches Wasser es sich dabei handelt. Gegen Freibad-Pommes habe ich außerdem auch nichts. Eine Freundin von mir wartete bereits, und ich wollte spontan dazu stoßen: „Bin in einer Stunde da“, schrieb ich, denn ich wusste, worauf ich mich einlassen würde.
Als ich zum ersten Mal in meinem neuen Nachbar-Schwimmbad anstand, ging ich noch ganz münchnerisch-naiv der Annahme nach, die Wartezeit beschränke sich allerhöchstens auf fünfzehn Minuten. Falsch gedacht. Aus fünfzehn Minuten wurden zwanzig, aus zwanzig fünfundvierzig, bis ich mich der Erfrischung hingeben durfte. Und nicht nur die Freibadschlange brachte mich an den Rande des Wahnsinns! Geduld ist eine Tugend, die mir in Berlin gelehrt wird. Denn in Berlin muss man anstehen. Viel. Und lange.
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Ich dachte, ich hätte in München bereits in einer Großstadt gelebt, aber nach nunmehr vier Monaten in der neuen Stadt, werde ich eines Besseren gelehrt. Man sagt nicht umsonst, dass München ein Dorf sei, denn ich kann mich nicht entsinnen, jemals länger als eine Stunde auf einen Sitzplatz im Restaurant gewartet zu haben, für den Eintritt ins Schwimmbad, Supermarktkassen, Sparkassenautomaten, einen Falafel oder eine Pizza. Die einzige Menschenschlange, der ich mich in München stellte, war stets die am Reichenbachkiosk – einen der wenigen Spätis in der Stadt, der an lauen Sommerabenden nach 20 Uhr eine gewisse Menge an Menschen anzieht.
Ich würde mich zur ungeduldigen Fraktion zählen und dementsprechend ist die Masse an Menschen, der ich vor allem in Neukölln und Kreuzberg – also den Vierteln, in denen ich mich am meisten bewege – ausgesetzt bin, eine große Herausforderung für mich. Denn diese Masse weiß genau, was sie will: ziemlich genau alles, was ich auch will.
Zähneknirschend stellte ich mich ungewollt der Herausforderung, mich von der Menschenschlange nicht provozieren zu lassen. Ich probierte es mit Meditation, die Atemübungen und entspannende Gedanken mit einschließt. Lange Zeit hat nichts geholfen. Ich hasse warten, und während ich früher Schweißausbrüche von dem Gedanken der Flughafenschlange an der Handgepäckskontrolle bekam, verzehnfachte sich jenes Stresssymptom massiv. Denn egal, wohin ich ging: Ich musste warten.
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Das Warten zelebrieren

Meine Freundin Trang, Mitgründerin des Lokals Klub Kitchen und gebürtige Berlinerin, stand dem Ganzen deutlich entspannter gegenüber: „Du musst aus dem Anstehen ein Event machen“, erklärte sie mir. „Du musst es einkalkulieren, wie den Aperitif vor dem Essen“. Bei dem Anstehen einfach davon ausgehen, dass man Anstehen wird. Wer sich der Tatsache hingibt, dass es passieren wird, bleibt entspannt – und irgendwie ist diese Herangehensweise ziemlich zen. Mehr Menschen erfordern nunmal mehr zeitaufwendiges Warten, und seit ich mich ergeben habe, geht es mir dabei besser.
Wurde der Aperitif nicht genau für das Warten vor dem Essen erfunden? Dieser Drink ist das Symbol des Wartens und irgendein schlauer Mensch hat ihn erfunden, um das Warten en vogue zu machen. Vielleicht war es Candace Bushnell, die Autorin des Buchs Sex and the City, die mit dem Cosmopolitan und dem Lebensgefühl der New Yorkerin einen Drink sexy gemacht hat, der meist während des Wartens zu sich genommen wird (aber selbstverständlich auch zu vielen anderen Gelegenheiten). Und ich bin fasziniert, mit welcher Geduld die Berlinerin oder der Berliner anstehen können, ohne sich zu beschweren. Die Schlangen sind manchmal so lange, dass man meinen könnte, es würden limitierte Yeezys verschenkt werden, in der Realität handelt es sich aber nur um beispielsweise einen Burger. Also mache ich das jetzt auch so.
Manchmal, wenn ich an schwachen Tagen keine Energie für Menschen habe und die 38 Grad den letzten Funken Geduld aus mir herausgekitzelt haben, bleibe ich einfach zu Hause. In den meisten Fällen aber übe ich mich darin, das Warten zu zelebrieren. Denn mit Drängeln und Nörgeln fühlt sich die Zeit noch viel länger an. Stattdessen hilft ein gutes Buch in der Tasche, ein Hörbuch auf dem Handy oder innerer Frieden, um entspannt ans Ziel zu kommen.
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