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Warum du keine Angst davor haben solltest, unproduktiv zu sein

Photographed by Kate Anglestein
Das einzige Bild mit einem motivierenden Spruch, das mich jemals dazu veranlasst hat, ein Meme auf Social Media zu teilen, hat eigentlich keinen motivierenden Spruch, sondern eher das Gegenteil. Darauf ist eine Kaffeetasse abgebildet, auf welcher der Satz „Dein Wert bemisst sich nicht danach, wie produktiv du bist“ steht. Als ich das Bild zum ersten Mal sah, war es, als ob mir jemand beruhigend den Kopf streicheln würde. Endlich hatte das mal jemand ausgesprochen.
Ich habe in meinem Leben schon viel Zeit damit verbracht, mich schlecht zu fühlen, weil ich nicht hart genug arbeitete. Im Anschluss daran habe ich mich dann schlecht gefühlt, weil ich so viel Zeit damit verbracht habe, mich schlecht zu fühlen. Denn in der Zeit hätte ich schließlich hart arbeiten können. Oft habe ich das Gefühl, mit mir stimmt irgendwas nicht. Ich schaffe es einfach nicht, die geheime Tür zu einer Schatzkammer voller Energie zu finden, die es anderen erlaubt, mehreren Jobs gleichzeitig nachzugehen oder neben ihrem 9-to-5 noch eigene Projekte zu verwirklichen, die ihnen am Herzen liegen. Mir fehlt sogar die Willenskraft, mein Laptop nach zwanzig Uhr auszuschalten oder morgens vor der Arbeit zum Sport zu gehen. Ich schäme mich, dass ich all diese Bücher nicht gelesen, diese Filme nicht gesehen habe. Und dass ich auf Twitter nach der Zusammenfassung des siebenseitigen Artikels gesucht habe, der durch die Decke ging, weil ich einfach keinen Bock mehr hatte, so lang zu lesen. Da ich befürchte, man könnte mich für einen Menschen ohne Ambitionen halten, sage ich deshalb schon mal vorsichtshalber „Ich bin einfach sehr faul“, um all den Fleißbienen da draußen zu zeigen, dass ich mir meines Defekts durchaus bewusst bin. Aber ehrlich gesagt geht es mir damit ganz gut. Ich verdiene okay und habe sogar so etwas wie eine Karriere vorzuweisen. Wieso also schreit mein innerer Kritiker mich die ganze Zeit an und findet, ich würde „nicht genug“ machen? Wann ist denn genug?
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Wenn Hyperproduktivität die moderne Form der Religion ist, dann könnte man mich mit einem Kommunionskind vergleichen, das nicht jeden Sonntag in die Messe gehen möchte. In Zeiten, in denen #MondayMotivation und Urlaube, in denen die Leute weiterarbeiten (Working Vacation genannt – bin ich die einzige, die das paradox findet?), zur Regel werden, passiert es schnell, dass wir glauben, wir würden bessere Leben führen, je mehr wir machen. Wir werden quasi dazu gezwungen, „unser Leben voll auszuschöpfen“, und genauso sehen unsere Kalender dann auch aus. Selbst kreative Hobbys machen die Leute nicht mehr nur zum Spaß an der Freude, sondern um die Ergebnisse auch ja auf Social Media zu teilen. Vielleicht lässt sich damit noch ein bisschen Geld verdienen? Kaum postet jemand einen Schal, den er oder sie für die Oma gestrickt hat, regnet es Kommentare wie „Du solltest deine Sachen auf Etsy verkaufen!“ Wenn sich zwei auf der Rückbank eines Taxis besoffen die Welt erklären, schreit früher oder später eine*r von beiden voller Überzeugung: „Daraus sollten wir einen Podcast machen!“
Was sich zunächst wie eine gute Sache anhört. Denn so werden Leute motiviert, Projekte zu starten, aus denen sich echte Jobs und Karrieren entwickeln können. Auf der anderen Seite steigt die Gefahr, tausend Projekte zu jonglieren, die sich zu rein gar nichts außer einem Burnout entwickeln. Diese Erfahrung hat auch die 28 Jahre alte Autorin Amy Jones gemacht. „Lange Zeit war ich der Überzeugung, dass alles, was ich einfach nur aus Spaß mache, Zeitverschwendung sei. Für mich war es normal, jedes neue Hobby in einen Job zu verwandeln, egal ob es Kochen, Schreiben oder Musik waren. Es ging darum, alle meine Fähigkeiten zu Geld zu machen oder zumindest für meine Karriere zu nutzen. Wenn ich schon nichts verkaufte, wollte ich wenigstens Bilder davon auf Instagram posten, um ‚meine Marke aufzubauen‘.“ Mittlerweile hat sich ihre Einstellung jedoch geändert. In Großbritannien erscheint nächstes Jahr ihr Buch The To-Do List and Other Debacles. Darin beschreibt sie, wieso die Kultur der Hyperproduktivität zum Scheitern verurteilt ist. „Es ging so weit, dass ich gar nicht mehr entspannen konnte. Ich machte aus allen Hobbys Projekte und fühlte mich konstant schuldig, wenn ich nicht an ihnen arbeitete.“
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France Corbel ist die Illustratorin des Memes, von dem ich am Anfang sprach. Als ich sie frage, was sie dazu inspiriert hat, sagt sie, dass sie oft das Gefühl hatte ihre Zeit zu vertrödeln – ähnlich wie ich. „Ich habe mich irgendwann ständig schuldig gefühlt, wenn ich nichts gemacht habe, was nicht wenigstens wie Arbeit aussah“, ergänzt sie im Gespräch.
„Etwas, das wie Arbeit aussieht“ fasst es ganz gut zusammen, oder? Denn schon lange richtet sich unser Zwang zur Produktivität nicht mehr nur auf die Arbeit, sondern hat alle möglichen Aspekte unseres Alltags fest im Griff. Essen, Sport, kleine perfekte Sukkulenten kaufen: All das dient schon lange nicht mehr der persönlichen Zufriedenheit, sondern ist zu einer Art Performance geworden. Wenn du nicht jede Nachricht, auf die du natürlich viel zu spät antwortest, mit „Sorrysorrysorry, meine Woche war einfach nur viel zu krass“ beginnst, besteht mittlerweile schnell die Gefahr, dass du von deinem Umfeld für einen uninspirierten Hänger gehalten wirst.
Hinzu kommt, dass unser Sozialleben und unsere Wohnung mittlerweile einen größeren Verwaltungsapparat hinter sich haben als jedes Bürgeramt. Meine To-Do-Liste beinhaltet beispielsweise gerade folgende Punkte: Eine lange Antwort-DM auf Twitter schreiben, meinen Eltern eine E-Mail mit meinen Weihnachtswünschen schicken und mir bei Ebay einen neuen Teppich kaufen.
Werfen wir einen Blick nach Skandinavien, sieht es schon anders aus. Der Sechs-Stunden-Tag wird vielerorts getestet und die Resultate sprechen für sich. Die Arbeitnehmer*innen sind glücklicher, gesünder und nicht weniger produktiv. Natürlich bedeutet das nicht, dass harte Arbeit der Feind ist. Vielmehr sollten wir lernen, unsere harte Arbeit so zu gestalten, dass sie effizient ist, damit wir den Rest des Tages auch mal nichts machen können.
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„Wir leben in einer Welt konstanter Ablenkung“, sagt auch die Soziologin Dr. Anna Akbari. „Das führt dazu, dass es immer schwieriger wird, sich zu konzentrieren und produktiv zu sein, weil sich im Zuge dieser Ablenkung immer mehr kleine Aufgaben ergeben – jemandem auf Social Media zu antworten oder ein Update zu installieren oder was auch immer. Diese Ablenkungen führen dazu, dass wir uns, zusätzlich zu unseren täglichen Aufgaben, schnell überfordert fühlen und geschlagen geben.“ Kurzum: Es gibt einen Unterschied zwischen „einen Berg erklimmen“ und „in einem Hamsterrad gefangen sein“. Es ist erfüllend, einen Gipfel zu erreichen. Und es ist unglaublich unbefriedigend, sich in Richtung eines weit entfernten Horizonts abzuplagen, der niemals näherkommt.
Amy hat mittlerweile angefangen, mit Wasserfarben zu malen. Damit verfolgt sie aber keinerlei Zwecke. „Ich erlaube mir mittlerweile, Sachen auch einfach nur zu machen, weil ich Freude daran habe. Mir ist es wichtiger, glücklich zu sein als krass produktiv.“ In unserer Generation scheint es inzwischen normal zu sein, dass wir uns gegenseitig ständig bestätigen, dass wir alles erreichen können. Da wäre es fast ein radikaler Akt, hinzuzufügen: „musst du aber nicht“. Anstatt noch eine weitere Story über jemanden zu hören, der mit Hilfe von harter Arbeit seinen Traum erfüllt hat, würde ich gerne mehr Geschichten von Leuten hören, die das Büro um fünf Uhr nachmittags verlassen, um zu Hause zu puzzlen. Ganz besonders von Frauen. Denn das Patriarchat hat uns auch hier fest im Griff. Wie oft haben wir schon gehört, dass man als Frau doppelt so hart arbeiten muss wie die Männer, um erfolgreich zu sein?
Die Illustratorin France Corbel sagt: „In einem kapitalistischen System führt Arbeit zu Erfolg und Erfolg wiederum zu Zufriedenheit. Aus meiner Sicht ist es aber ungesund, Zufriedenheit als ein weiteres Ziel zu betrachten, an dem man arbeiten muss. Um kreativ zu sein, müssen wir Langeweile zulassen. Wir müssen uns ausruhen um Energie zu haben für die Dinge, die wir machen wollen. Wir müssen Zeit finden, Bilanz zu ziehen, um uns entwickeln zu können.“ Dem stimmt auch Dr. Akbari zu: „Nicht alles, was inspiriert, verlangt nach Produktivität. Das bedeutet jedoch nicht, dass es nicht wertvoll ist, sondern meist eher das Gegenteil. Wir alle müssen selbst bestimmen, was Erfolg für uns bedeutet.“
Ich bin gerade dabei, das für mich zu definieren. Wenn ich hart genug arbeite, um mir einen Kaffee kaufen zu können, ist das für mich genug, glaube ich.

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