An manchen Tagen hat dich die Prokrastination fest im Griff: Du wachst auf, denkst an ein Arbeitsprojekt oder den Papierkram, den du dringend erledigen musst, und schon schnürt sich deine Brust ein bisschen zu. Du weißt genau, dass du dich heute um all das kümmern solltest – und dann geht die Trödelei los. Plötzlich schrubbst du den Mülleimer, anstatt auf wichtige E-Mails zu antworten, oder schaust dir Sitcom-Outtakes auf YouTube an, anstatt in deine Laufschuhe zu schlüpfen und endlich mal wieder joggen zu gehen. Dieses ewige Verschieben wichtiger Aufgaben ist Zeitverschwendung und effektiv sinnlos – aber manchmal kannst du einfach nicht anders.
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Die Bedeutung des Begriffs „Prokrastination“ fasst das ganze Dilemma ganz gut zusammen. Seinen Ursprung hat er im lateinischen Wort „procrastinare“, was so viel heißt wie „auf morgen verschieben“; gleichzeitig spielt hier aber auch das altgriechische Wort „akrasia“ mit, das „entgegen des eigenen Verstands handeln“ bedeutet. Beim Prokrastinieren wissen wir also sehr genau, was wir da gerade tun – und sind uns der negativen Konsequenzen der Verzögerung absolut bewusst. Und trotzdem tun wir’s immer wieder. Aber warum?
Wieso wir überhaupt prokrastinieren, fragt sich die Menschheit schon seit Jahrhunderten. Oft wird dabei angenommen, das Verhalten sei ein Anzeichen für fehlende Selbstkontrolle, schlechtes Zeitmanagement und Faulheit. In anderen Worten: Wer prokrastiniert, gibt sich in den Augen vieler einfach nicht genug Mühe. Dieser Glaube ist nicht bloß kulturell weit verbreitet, sondern diente auch als Grundlage für zahlreiche Studien. Diese der Universität von Valencia zum Beispiel fand heraus, dass Student:innen unabhängig davon, wie viel Zeit sie für eine Aufgabe bekommen, höchstwahrscheinlich zwischendurch prokrastinieren.
Inzwischen gibt es aber auch eine ganze Menge an Forscher:innen, die dieser Ansicht widersprechen. Dr. Timothy Pychyl ist einer davon; er ist der Autor des Selbsthilfebuchs Solving the Procrastination Puzzle: A Concise Guide to Strategies for Changeund widmet der Prokrastination in Psychology Today eine eigene Kolumne namens Don’t Delay(z. Dt.: „Verschieb’s nicht“). Er ist davon überzeugt, dass die Prokrastination noch viel tiefer in uns verwurzelt ist, als wir vielleicht glauben – und sogar durch unsere Biologie, unser Zeitempfinden und unsere Fähigkeit beeinflusst wird, unsere Gefühle zu managen.
If you often procrastinate, open this
— BIG DADDY (@Daddyvinz1) May 17, 2021
Und da ist was dran: Aus biologischer Sicht haben wir die Prokrastination einer fortlaufenden Spannung zwischen dem limbischen System und der frontalen Hirnrinde in unserem Gehirn zu verdanken, meint jedenfalls die Neurochirurgie im University of Pittsburgh Medical Center.
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Und jetzt nochmal auf Deutsch: Das limbische System ist eines der wichtigsten, ältesten und dominantesten Netzwerke im Gehirn und erfüllt diverse Funktionen. Unter anderem regelt es unsere Gefühle – insbesondere die, die zum Überleben wichtig sind. Dazu gehören zum Beispiel die Motivation, das Belohnungsbedürfnis, das Gedächtnis, unser Lernwille, Hunger, Durst und die Kampf-oder-Flucht-Reaktion. Außerdem reguliert es die Produktion von Hormonen, die das autonome Nervensystem mitsteuern.
Die frontale Hirnrinde (auch „präfrontaler Cortex“) hingegen ist für die Planung komplexer kognitiver Verhaltensmuster, den Ausdruck unserer Persönlichkeit, unsere Entscheidungsfähigkeit und soziales Benehmen verantwortlich. In diesem Bereich des Gehirns spielen sich also unsere Vorausplanung und die rationale Verarbeitung der reizbasierten Impulse des limbischen Systems ab. Da die frontale Hirnrinde der neuere, weniger weit entwickelte (und daher etwas schwächere) Teil des Gehirns ist, gewinnt die instinktive limbische Reaktion oft über die rationale Entscheidung der Hirnrinde.
All das fließt in der Psychologie der Prokrastination zusammen: Was uns im Hier und Jetzt ein gutes Gefühl gibt (wie zum Beispiel das Verschieben oder Vermeiden von Aufgaben), hat uns stärker im Griff als alles, wovon wir langfristig profitieren könnten. Wie Dr. Pychyl gegenüber der New York Times erklärte, ist die „Prokrastination ein Problem mit der Gefühlsregulierung, nicht mit dem Zeitmanagement“.
Das ist ein Beispiel des „present bias“ (z. Dt.: „Gegenwarts-Vorurteil“), erklärt der NYT-Artikel: Wir neigen dazu, kurzfristige Bedürfnisse und Wünsche über langfristige zu stellen – selbst dann, wenn die Kurzzeitbelohnung viel kleiner ausfällt. Unser jetziges und zukünftiges Ich rücken dadurch noch weiter auseinander; es fällt uns schwer, uns unserem zukünftigen Selbst verbunden zu fühlen (sprich: der Person, die davon profitieren würde, wenn wir den Müll jetzt gleich rausbringen) und es als Teil von uns zu sehen, wenn unser heutiges Ich doch so viel dringendere Sorgen hat.
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Dr. Pychyl und seine Kollegin Dr. Fuschia Sirois sind sich sicher, dass die Prokrastination prinzipiell mit einer Unfähigkeit zusammenhängt, unsere Emotionen zu regulieren. Das erkennen sie unter anderem daran, wie wir kurzzeitige Entlastung über langzeitige Befriedigung stellen. Eine Aufgabe zu verschieben, gibt dir kurzzeitig ein gutes Gefühl, weil es dir währenddessen größtenteils negative Emotionen erspart – wie zum Beispiel Stress, Panik, Ekel, Angst oder Selbstzweifel. Die Langzeitkonsequenzen beeinflussen dabei kaum, wie gut es sich anfühlen kann, dich mit etwas abzulenken, das nichts mit der angsteinflößenden Aufgabe zu tun hat, vor der du dich drückst. Wie alle Prokrastinator:innen aber bestätigen können, ist dieses Gefühl der Erleichterung nur vorübergehend; irgendwann fängt der Teufelskreis von vorn an.
Was kannst du also tun, wenn du zur Prokrastination neigst? Weil du mit diesem Bewältigungsmechanismus deine eigenen Gefühle zu regeln versuchst, kannst du nicht einfach damit aufhören. Zumindest nicht, ohne zu lernen, deine Emotionen anderweitig (und weniger selbstmanipulativ) in den Griff zu bekommen.
Zuallererst solltest du einsehen, dass deine Prokrastination kein Beweis deiner Faulheit ist – sondern deine Art, mit deinen Gefühlen klarzukommen, meint Dr. Pychyl. Verzeihe dir deine Tendenz zum Verschieben und entwickle Selbstmitleid. Beides hat sich in Studien als hilfreich erwiesen; wie zum Beispiel bei diesem Versuch 2010, bei dem Forscher:innen herausfanden, dass Student:innen, die sich selbst bei der Prüfungsvorbereitung das Prokrastinieren verziehen, vor folgenden Prüfungen weniger prokrastinierten. Eine andere Studie von 2012 untersuchte die Verbindung zwischen Prokrastination, Stress und Selbstmitleid und ergab, dass ein geringes Selbstmitleid zum Stress der Prokrastination beitragen könnte. Dein Selbstmitleid – also das Verständnis und die Nachsicht für die eigenen Fehler – kannst du mit geführten Meditationen trainieren, wie zum Beispiel mit diesen vom Center for Mindful Self-Compassion von Dr. Kristin Neff (Achtung, die Meditationen sind nur auf Englisch verfügbar). Alternativ kann es auch helfen, dir vorzunehmen, jeder Herausforderung mit Selbstliebe und Verständnis zu begegnen.
Wenn du lernst, deine Tendenz zur Prokrastination aus diesem Blickwinkel zu betrachten, entwickelst du mit der Zeit womöglich auch einen besseren Umgang mit dem Impuls, immer zu warten, bis du für eine Aufgabe „bereit“ bist, sagte Dr. Pychyl gegenüber der Washington Post. Sobald du begreifst, wie sehr deine Gefühle deine Reaktion auf eine Aufgabe bestimmen, ist es leichter, dir nicht mehr von ihnen befehlen zu lassen, wie und wann du damit anfangen solltest. Du musst nämlich gar nicht in der „richtigen Stimmung“ sein, um mit der Arbeit, dem Hausputz oder Lernen anzufangen. Anstatt dich dabei von deinen Emotionen leiten zu lassen, empfiehlt Dr. Pychyl, eine Aufgabe in kleinere Teile zu splitten, die du ganz leicht hinbekommst. Das ist so simpel, wie es klingt: Vielleicht schreibst du erstmal nur den ersten Satz einer Hausarbeit, wischst nur eine Arbeitsfläche oder schließt alle Browser-Tabs, die dich ablenken.
Fakt ist: Die Prokrastination gehört zum Leben dazu. Ihr Einfluss kann dezent nervig sein – oder dein Leben ernsthaft behindern. Wichtig ist, dass du dabei im Hinterkopf behältst, dass Selbstgeißelung auch nicht weiterhilft. Indem du lernst, dir selbst im Hier und Jetzt dein Verhalten zu verzeihen und es mit deinem zukünftigen Ich gut zu meinen, kannst du aber Schritt für Schritt an deiner selbstmanipulativen Tendenz arbeiten.