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Nein, du musst in der Selbst-Isolation kein Buch schreiben

Photographed by Eylul Aslan
Wenn die Selbst-Isolation ein Mensch wäre, dann wäre sie eine junge erfolgreiche Frau mit etwa 300,000 Instagram-Followern. In ihren Posts würde sie davon erzählen, wie sie es endlich geschafft hat, den Roman zu schreiben, den sie schon seit sie 19 Jahre alt ist im Kopf hat. Darüber, dass sie vorhat, einen Karrierewechsel zu machen, wenn alles vorbei ist – von Marketing zu Reiseblogging. Und darüber, dass sie jetzt regelmäßig meditiert, eine komplette spirituelle Transformation durchläuft, Italienisch lernt, ihr Bananenbrotrezept perfektioniert und jeden Tag Sport mit YouTube-Videos macht, um ihren Body schon mal summer-ready zu machen.
Siehst du sie vor deinem inneren Auge? Auf jedem einzelnen Foto lächelt sie. Ab und zu postet sie auch mal ein Throwback-Pic, auf dem sie an einem verlassenen Strand oder auf einem übertrieben fotogenen Berggipfel steht.
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Alles an ihr wurde optimiert, aber das ist noch nicht genug. Es gibt immer etwas, das sie noch verbessern kann. Der Prozess der Perfektionierung ist ihre Lebensaufgabe. Sie schläft nie aus. Sie geht jeden Tag ohne Ausnahme an der frischen Luft joggen. Sie macht alles richtig. Immer und überall.
In der Caption unter dem Foto, das sie und ihren festen Freund beim Sonnenuntergang im Indienurlaub letztes Jahr zeigt, schreibt sie, dass William Shakespeare und Isaac Newton einige ihrer besten Arbeiten kreiert haben, als die Pest ihr Unwesen in England trieb.

Wir werden von allen Seiten dazu ermutigt, während der Corona-Pandemie Optimierungen vorzunehmen. Statt den Verlust von Menschenleben und unserer Freiheit zu betrauern, sollen wir die Krise als Chance zur Selbstverbesserung sehen.

Wir werden von allen Seiten dazu ermutigt, während der Corona-Pandemie Optimierungen vorzunehmen. Statt den Verlust von Menschenleben und unserer Freiheit zu betrauern, sollen wir die Krise als Chance zur Selbstverbesserung sehen. Selbst unsere Homewear hat dringend ein Update nötig, wenn wir den unzähligen Emails und Werbungen auf Insta glauben.
Heute morgen rief mich eine Freundin an, die aktuell unter ernsthaften COVID-19-Symptomen wie Kopf- und Gliederschmerzen leidet, und sagte zu mir, sie hätte Schuldgefühle, weil sie unproduktiv ist.
„Du bist nicht unproduktiv“, sagte ich. „Du bist krank.“
„Ich weiß, ich weiß“, antwortete sie, „aber ich wollte diese Zeit nutzen um, du weißt schon, meinen Haushalt zu organisieren und darüber nachzudenken, eine eigene Firma aufzubauen… Ich lasse mich so gut wie nie krankschreiben.“
Dabei wird sie sicher noch genügend Zeit für all diese Dinge haben.
Es fühlt sich so an, als würde die Selbst-Isolation das Phänomen des toxischen Uhr-im-Blick-Behaltens fördern, das man oft in Büros beobachten kann. Obwohl viele von uns aktuell durch die äußeren, nicht kontrollierbaren Umstände gar nicht produktiv sein können, fühlen wir uns immer noch dazu gezwungen, uns dafür zu rechtfertigen, wie und womit wir unsere Zeit verbringen. Und das geht im Übrigen besonders Frauen so.
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Studien zeigen, Frauen fühlen sich im Schnitt häufiger schuldig als Männer. Wenn wir arbeiten, haben wir ein schlechtes Gewissen, weil wir uns nicht um Haushalt, Kinder und Partner*in kümmern. Wenn wir uns um Haushalt, Kinder und Partner*in kümmern, haben wir ein schlechtes Gewissen, weil wir nicht arbeiten. Diese Schuldgefühle tragen wir mit uns herum, seit Eva in den verbotenen Apfel gebissen hat; wir leben mit einer starken mentalen Belastung seit sie in Ungnade gefallen ist.

Das Überraschende ist, Corona ändert daran nichts. Viele von uns haben jetzt sogar noch mehr mit Schuldgefühlen zu kämpfen als vor der Pandemie.

Frauen werden mit Schuldgefühlen geboren. Und als ob das nicht schon schlimm genug wäre, macht uns obendrein auch noch die Gesellschaft Druck. Mitten auf dem Marktplatz, den wir Social Media nennen, steht die #GirlBoss-Kultur, die uns – in all ihren unterschiedlichen Varianten – sagt, je mehr wir in allen Lebensbereichen gleichzeitig (!) leisten, desto schneller steigen unsere Aktien. Oder anders gesagt: Du bist nur etwas wert, wenn du 60 Stunden die Woche arbeitest und gleichzeitig die perfekte Freundin, Frau, Mutter, Schwester, Tochter und Enkelin bist – und zwar ausnahmslos zu jeder Zeit. Wir machen das alles bereitwillig mit, nur um am Ende festzustellen, dass wir null wie die Hochglanz-Influencerinnen aussehen, denen wir auf Insta folgen. Stattdessen sehen wir eher aus wie das personifizierte Cruella de Vil-Meme – du weißt schon, dieses “Ich, wie ich versuche, meine Karriere zu rocken, ein Sozialleben zu haben, genug Wasser zu trinken, Sport zu machen, allen zurückzuschreiben, mental gesund zu bleiben, zu überleben und glücklich zu sein“-Meme, das vor ziemlich genau zwei Jahren viral ging.
Das Überraschende ist, Corona ändert daran nichts. Viele von uns haben jetzt sogar noch mehr mit Schuldgefühlen zu kämpfen als vor der Pandemie. Weil die meisten Menschen, die keinen systemrelevanten Beruf ausüben aktuell zuhause festsitzen, haben sie zwar mehr Zeit, aber sie sind nicht automatisch entspannter. Sie scrollen sich durch die sozialen Medien, sehen, was andere mit der neu gewonnenen Zeit anfangen und vergleichen sich direkt mit ihnen. Sie fragen sich: Wenn ich kein Pulitzer-würdiges Buch schreibe und am Ende der großen Coronavirus-Pandemie von 2020 kein Sixpack habe, habe ich die Zeit der Selbst-Isolation dann überhaupt richtig und sinnvoll genutzt?
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Was, wenn wir jetzt gar nichts machen müssen? Was, wenn es ein Geschenk ist, das wir nicht annehmen müssen? Wir haben es uns nicht verdient und wir verdienen es auch nicht – und wir haben es uns erst recht nicht gewünscht. Also tue das, was dich glücklich macht. Ich bin eine Autorin und deswegen werde ich mich vielleicht wirklich endlich mal an mein Buch setzen. Aber wenn du kein*e Autor*in bist, fühl dich bitte nicht dazu gezwungen, in der Selbst-Isolation mit dem Schreiben anfangen zu müssen. Und selbst wenn du ein*e Autor*in bist, heißt das noch lange nicht, dass du jetzt etwas schreiben musst. Wenn es auf dich beruhigend wirkt, dich durch Instagram zu scrollen, dann tu es. Wenn es Balsam für deine Seele ist, Nudeln mit Butter und Salz zu essen, go for it. Aber vielleicht nicht jeden einzelnen Tag. Du musst keine neuen Rezepte ausprobieren und täglich ein Bild von deinem fancy Mittagessen posten. Wenn du das Glück hast, mit deinem Freund oder deiner Freundin zusammen zu wohnen, habt richtig viel Sex – wenn ihr beide Bock darauf habt. Wenn nicht, ist das weder schlimm noch ungesund oder noch etwas, wofür ihr Schuldgefühle haben solltet. Wenn du jede wache Minute mit Video-Calls verbringen willst, tue es. Und wenn dir grade nicht nach lächeln und smalltalken zumute ist, ist das auch okay. Deine Familie, Freund*innen und Kolleg*innen werden es dir sicher nachsehen.

Von klein auf wird uns eingetrichtert, dass es nichts Schlimmeres gibt, als faul und nutzlos zu sein. Aber die Corona-Krise zwingt viele dazu, die Arbeit niederzulegen und zuhause zu bleiben.

Bei den Selbstverbesserungen, die wir in unserer kapitalistischen Gesellschaft erleben, geht es immer um Produktivität und nie um echte Erfüllung oder Vergnügen. Herauszufinden, wie wir besser darin werden, eine Frau zu sein, ist ein richtiges Projekt geworden und wir alle fühlen uns genötigt, uns daran zu beteiligen. Wenn du dir mal einen Moment nimmst, darüber nachzudenken, wird dir bewusst, dass es mehr darum geht, dein Geld auszugeben, um besser in einem kapitalistischen System zu performen. Jetzt wurde eben diese Wirtschaft, die das System antreibt, größtenteils auf Eis gelegt.
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Von klein auf wird uns eingetrichtert, dass es nichts Schlimmeres gibt, als faul und nutzlos zu sein. Aber die Corona-Krise zwingt viele dazu, die Arbeit niederzulegen und zuhause zu bleiben. Und sie zeigt uns, dass es einem Krankheitserreger komplett egal ist, wie viel du gearbeitet oder erreicht hast.
Die Zukunft, die wir uns ausgemalt hatten und auf die wir hingearbeitet hatten, liegt auf Eis. Wenn du nicht darüber postest, weiß niemand, womit du deine Zeit verbringst. Also kannst du den Rest der Selbst-Isolation auch dafür nutzen, dich auszuruhen und so viel zu relaxen, wie du willst. Tue das, was sich für dich gut und richtig anfühlt.
Du fühlst dich immer noch schuldig wegen einer Situation, für die du absolut nichts kannst und hast das dringende Bedürfnis, jede Minute so sinnvoll und produktiv verbringen zu müssen wie irgendwie möglich? Dann mach dir Folgendes bewusst: Isaac Newton hat die Zeit der Pest in der Isolation auf dem Familienlandsitz verbracht. Weder er noch Shakespeare mussten Zoom-Calls führen oder gleichzeitig Kinder bespaßen. Und ich bin mir ziemlich sicher, keiner von beiden hat sich parallel auch noch Sorgen darum gemacht, ob er, wenn alles vorbei ist, noch einen Job haben wird und seine Rechnungen bezahlen kann. Also gönn dir mal eine Pause und sei nicht so hart zu dir.
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