Mein ganzes Leben lang musste ich mir anhören, ich solle leiser sprechen. Jedes Zeugnis enthielt die Worte „muss aufhören, ständig mit der Banknachbarin zu quatschen und andere abzulenken“. Und ich verbrachte einen Großteil meiner Teenie-Jahre in einer Impro- und Theatergruppe, in der wir uns regelmäßig gegenseitig anschreien als würden wir gerade eine Szene aus Marriage Story nachspielen. Kurz gesagt: In meinen 24 Lebensjahren musste meine Stimme nicht nur ganz schön viel mitmachen, sie nahm auch immer eine wichtige Rolle ein. Deswegen war ich auch direkt neugierig als ich zum ersten Mal von Sprech- und Stimmtherapie hörte und wollte es auf jeden Fall ausprobieren.
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Wenn sie den Begriff Sprech- und Stimmtherapie hören, denken viele, es handle sich um ein Mittel, das ausschließlich zur Behandlung körperlicher Symptome, wie Heiserkeit, eingesetzt wird – oder vielleicht noch zum Training von Menschen, die beruflich viel sprechen müssen. Doch diese Form der Therapie kann noch viel, viel mehr! In den letzten Jahren fingen Stimmtherapeut*innen an, die Übungen einzusetzen, um Stress abzubauen und die physische Gesundheit ihrer Patient*innen zu stärken.
Weil ich mich in letzter Zeit wegen … na ja allem (Corona, Rassismus, Klimakrise...) oft gestresst fühle, habe ich beschlossen, es einfach mal auszutesten. Also habe ich eine kostenlose Beratungsstunde bei Maartje Monné gebucht, einer Logopädin, die ihre eigene Praxis in Frankreich betreibt. Sie erzählte mir, dass Stimmtherapie nicht nur bei gereizten Stimmbändern helfen kann, sondern auch bei gereizten aka blankliegenden Nerven – und zwar indem es den Vagusnerv (auch „Entspannungsnerv“) stimuliert. Der längste Hirnnerv im menschlichen Körper verläuft vom Gehirn bis hin zum Bauch und ist für die Kommunikation zwischen Körper und Geist verantwortlich. So signalisiert er zum Beispiel dem Gehirn, den Puls herunterzufahren und die Atmung anzupassen, wenn wir uns bedroht fühlen. Als Teil des Parasympathikus folgt er der Maxime „Rest and Digest“, während der Sympathikus eher nach dem Motto „Fight and Flight“ handelt. Oder anders gesagt: Der Vagusnerv sorgt dafür, dass wir uns wieder beruhigen, wenn uns das sympathische Nervensystem mal wieder in Panik versetzt hat.
Weil der Vagusnerv mit der Kehlkopfmuskulatur verbunden ist, können wir ihn laut Monné bewusst durch den Einsatz unserer Stimmbänder stimulieren. Wir können ihn dazu bringen, ein Signal an das Gehirn zu schicken, dass es sich wieder beruhigen soll. Und wie genau geht das, fragst du? Nun, die effektivste Methode ist, einfach zu summen, zu singen oder zu chanten, denn dadurch bringen wir die Stimmbänder zum Vibrieren. Vereinfach gesagt können wir also unser eigenes Nervensystem hacken, wenn wir uns nach innerer Ruhe sehen.
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Diese Methode kannst du in besonders stressigen Momenten benutzen, also zum Beispiel vor einem Bewerbungsgespräch oder einem wichtigen Meeting. Du kannst es aber auch als eine Art Vorsorge sehen. Monné empfiehlt, jeden Morgen etwa fünf bis 10 Minuten zu üben, wenn du deine Grundstimmung und dein Wohlbefinden verbessern willst.
Also setzte ich mich am Morgen nach der Beratungsstunde aufrecht hin, stellte die Füße fest auf den Boden und trank einen Schluck Wasser. Dann versuchte ich, das zu wiederholen was sie mir am Tag zuvor gezeigt hatte. Ich schloss meine Augen und began damit, gleichmäßig zu summen. Ich erlaubte meiner Stimme, ganz natürlich die richtige Tonhöhe zu finden, die meine Stimmbänder nicht zu sehr beansprucht. Am Anfang fand ich das Geräusch ehrlich gesagt ein bisschen nervig und laut in meinen Ohren; aber irgendwann hörte ich es gar nicht mehr richtig und konnte meine Aufmerksamkeit stattdessen auf die Empfindungen in meinem Hals richten. Während ich so vor mir her summte, realisierte ich, dass ich diese Methode deutlich einfacher finde als traditionelles Meditieren: Weil ich mich komplett auf das Gefühl der Vibration konzentrierte, konnten meine Gedanken nicht so oft abdriften. Um noch einen Schritt weiterzugehen, legte ich dann sanft eine Hand auf den Hals und eine auf die Brust – so konnte ich die Vibration noch besser fühlen. Als nach fünf Minuten mein Wecker klingelte, fühlte ich mich merklich entspannter in dieser normalerweise für mich angespannten Position. Ich war ruhig, ausgeglichen, fast schon schläfrig. Mein Experimentpartner (mein Freund) meinte, er spürte eine „ganzheitliche, tiefe Verschwommenheit“ und verglich den Effekt mit dem Zustand nach einer wohltuenden Nackenmassage.
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Wie jede Form der Therapie sollte natürlich auch die Stimmtherapie wiederholt werden, wenn du davon profitieren willst. Was ich persönlich raten würde ist, die Übung allein zu machen, denn dann kannst du dich wirklich komplett auf dich konzentrieren. Die Stärkung des Vagusnervs (oder die Verbesserung des „Vagotonus“) wird in der Wellness-Community als extrem hilfreich eingeschätzt. Viele glauben, die Methode kann depressive oder ängstliche Gedanken reduzieren. Es gibt auch Studien, die zu ähnlichen Schlüssen kommen, wie beispielsweise eine vom American Journal Of Psychiatry. Hier wurde bei einer Gruppe von Patient*innen mit Depressionen zusätzlich zur klassischen Therapie und den Medikamenten auch noch mit einer Vagusnerv-Stimulation gearbeitet. Die Vergleichsgruppe erhielt dagegen nur eine „normale“ Behandlung. Das Ergebnis: Der Zustand der Teilnehmer*innen der ersten Gruppe war nach Beendigung des Experiments deutlich besser als bei den Teilnehmer*innen der zweiten Gruppe.
Zwar gibt es auch noch andere Möglichkeiten, den Vagusnerv zu stimulieren (wie beispielsweise einen Sprung ins eiskalte Wasser zu wagen), doch das Schöne am Summen ist, du brauchst dafür nichts außer einen bequemen Stuhl und einen Ort, an dem du für ein paar Minuten ungestört bist.
Nach meinem kurzen Selbsttest glaube ich, die Stimmtherapieübung könnte ein gutes Hilfsmittel für alle sein, die oft gestresst sind oder einfach mal den Kopf frei bekommen wollen. Vielleicht fühlt es sich am Anfang komisch an, aber mit der Zeit gewöhnst du dich dran. Und wenn dir die Übung hilft, dich zu entspannen oder sogar deine Depressionen, Ängste und Sorgen in den Griff zu kriegen, dann ist es das ja wohl sowas von Wert, oder?
Wenn du selbst an einer Angststörung leidest oder eine Person kennst, die eventuell Hilfe brauchen könnte, kannst du die Hotline der TelefonSeelsorge unter 0800 111 0 111 oder 0800 111 0 222 anrufen oder den Chat der TelefonSeelsorge nutzen.
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