Wenn etwas toxisch ist, ist es giftig. Wer etwas Giftiges verschluckt oder einatmet, kann erkranken oder sogar sterben. Giftige Dinge sind mit äußerster Vorsicht zu behandeln – mit schwarz-gelbem Klebeband versiegelt und roten Dreiecks-Warnschildern versehen. Giftige Abfälle werden weit weg von Menschen abgeladen, mitten im Nirgendwo, oder sie werden für immer versiegelt.
Das chemische Element Radon, Blei im Trinkwasser, Autoabgase: Das sind nur ein paar Beispiele für giftige Stoffe.
Doch wenn du dich durch Instagram oder TikTok scrollst, wirst du feststellen, dass keines der oben genannten Dinge als „toxisch“ getaggt wird. Und auch nicht Menschen, die Verbrechen wie Vergewaltigung, Mord oder körperliche Gewalt begangen haben (die natürlich auch gefährlich sind). Es sind dein:e Ex, deine Beziehung, deine Mutter, dein Vater und vielleicht sogar einige deiner Freund:innen, die dich derart „vergiften“ könnten.
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Der Hashtag #toxicpeople hat auf TikTok 429,6 Millionen Aufrufe, Tendenz steigend. Auf Instagram sind es 660.413 Beiträge.
Jetzt, wo sie so allgegenwärtig sind, lohnt es sich, einmal innezuhalten und zu fragen, woher diese ‚toxischen‘ Menschen kommen. Das meine ich nicht wörtlich. Ich meine das Konstrukt der „toxischen Person“, das impliziert, dass es eine universelle Kategorie für alle gibt, für alle, die jemals einer anderen Person Unrecht getan haben, die jemals etwas getan haben, das eine andere Person als schmerzhaft empfunden hat.
Die Kalifornierin Lillian Glass sagt, sie habe den Begriff „toxische Menschen“ geprägt. und zwar in ihrem 1995 erschienenen Buch Toxic People – Toxische Menschen: Weichei, Lügner, Quasselstrippe – 10 Wege gegen 29 Typen, die uns den Tag zur Hölle machen. Glass ist keine Psychologin. Sie ist die selbsternannte „First Lady der Kommunikation“, eine „Körpersprache-Expertin und Kommunikationsberaterin“.
In ihrem Buch beschreibt Glass eine „toxische“ Person als „jede Person, die dein Leben vergiftet hat, die dich nicht unterstützt, die sich nicht freut, wenn du wächst, wenn du Erfolg hast, die dir nicht alles Gute wünscht. Im Grunde genommen sabotiert er oder sie deine Bemühungen, ein glückliches und produktives Leben zu führen“.
Jede:r, wirklich jede:r, hat sich irgendwann im Leben von jemandem, der oder die ihm wichtig ist, nicht unterstützt gefühlt. Ebenso hat jede:r schon einmal Eifersucht erlebt. Wenn das die Definition einer „toxischen Person“ ist, ist es kein Wunder, dass sie überall zu finden sind. Menschen sind unvollkommen, sie werden dich enttäuschen und selbst diejenigen, die du liebst, haben mit negativen Gefühlen zu kämpfen. Sie wollen vielleicht nicht immer nur das Beste für dich. Und du willst vielleicht auch nicht immer das Beste für sie. Es kann sein, dass dir von Zeit zu Zeit hässliche Gedanken durch den Kopf gehen und du gezwungen bist, ihre Herkunft zu hinterfragen. Wenn das passiert, macht dich das dann „toxisch“?
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Laut Glass, ja. In ihrem Buch gibt es sogar „toxische Kinder“, für die, wie sie schreibt, nicht die Eltern verantwortlich sind, sondern stattdessen äußere Einflüsse wie „die Medien, Gruppendruck, Leistungsdruck, Drogen, Gangs, Gewalt in den Schulen und willkürliche Gewalt“.
„Ich kenne viele vorbildliche Eltern, deren Kinder als Drogensüchtige, alleinerziehende Mütter oder Gangmitglieder endeten“, schreibt Glass. Das widerspricht der modernen Psychologie, die davon ausgeht, dass wir alle das Produkt unserer Kindheitserfahrungen sind und uns von dort aus weiterentwickeln.
Laut der Psychologie von Glass und den unzähligen Instagram-Memes, die ihre Ideen aufgreifen, wird es immer „toxische Menschen“ in deinem Leben geben. Vielleicht hast du sie sogar in die Welt gesetzt. Aber du wirst niemals für sie verantwortlich sein. Du spielst in deiner Beziehung zu ihnen keine Rolle.
In diesen Geschichten über „toxische Menschen“ gibt es nur zwei Figuren: den Bösewicht (die ‚toxische Person‘) und ihr Opfer. Dieses binäre Denken kann reduzierend und einschränkend sein, sagt Eleanor Morgan, eine angehende Psychotherapeutin, die in Kürze eine mehrjährige Ausbildung in integrativer Therapie absolvieren wird.
Morgan ist außerdem Autorin von zwei Büchern: Hormonal: A Conversation About Women's Bodies, Mental Health and Why We Need to Be Heard und Anxiety For Beginners.
„Ich verstehe, wie tröstlich es sein kann, wenn jemand echten Schmerz erlebt hat in einer Beziehung zu jemand anderem, sei es ein Familienmitglied, ein:e Freund:in, ein:e Liebhaber:in, ein:e Kolleg:in oder ein:e Partner:in“, sagt Morgan am Telefon von ihrem Londoner Zuhause aus. „Worte wie ‚toxisch‘ oder die Aussage, dass man ein ‚Opfer‘ von jemandes ‚toxischem‘ Verhalten war, können Trost spenden.“
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Abschließend fügt Morgan hinzu: „Ob eine Person als ‚toxisch‘ wahrgenommen wird, hängt davon ab, wie eine andere Person sie erlebt hat. Das ist von Natur aus subjektiv.“
Natürlich gibt es auch hier Situationen, in denen Menschen einander missbrauchen, wie z. B. häusliche Gewalt und sexuelle Übergriffe.
„Das Wort ‚toxisch‘ scheint in den sozialen Medien weiter verbreitet zu sein als an einigen der Orte, an denen ich arbeite, wo es sehr reale Traumata gibt“, fügt sie hinzu.
Morgan möchte, dass die Menschen die Gründe hinterfragen, warum sie jemanden als „toxisch“ empfinden.
„Ich interessiere mich sehr für die Geschichten, die wir über uns selbst und über andere Menschen erzählen, und ich glaube, dass Menschen süchtig werden können nach dem Gefühl der Kränkung oder dem Gefühl, Opfer eines ‚toxischen Verhaltens‘ zu sein. Das kann zu einer wirklich überzeugenden Erzählung werden, nach der man lebt“, erklärt sie. „Wenn wir uns durch das Verhalten von jemandem verletzt, zurückgewiesen oder verängstigt fühlen, ist es eigentlich ganz normal, Wörter wie ‚toxisch‘ zu verwenden, denn das bedeutet, dass wir nicht nach innen schauen und prüfen müssen, ob wir Teil des Musters sind.“
Die Schattengestalt der „toxischen Person“ ist natürlich der:die Narzisst:in: ein weiteres Etikett, das geschrien werden kann, wenn das „Opfer“ die Hände in die Luft wirft und jede Verantwortung für die Beziehung, die es mit dem vermeintlichen „Bösewicht“ eingegangen ist, abgibt.
„Wenn du das Wort ‚toxisch‘ in den Mund nimmst, hat das fast etwas Beschützendes“, sagt Morgan. „Es ist, als würde man zu jemandem sagen: ‚Du bist absolut schrecklich, aber mit mir ist alles in Ordnung!‘ Und ich vermute, dass sich dahinter oft Scham und Verletzlichkeit verbergen. Jemanden als ‚toxisch‘ zu verurteilen, ist eine ziemlich unverrückbare Aussage. Das kann man nicht korrigieren.“
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Wir sind heute so schnell dabei, Menschen als „toxisch“ abzustempeln und sie in den Mülleimer zu werfen, dass wir dabei unsere eigene Entwicklung riskieren. Jede Beziehung ist eine Dynamik, die aus der Interaktion zwischen zwei oder mehr Menschen entsteht. Alle spielen eine Rolle.
Hast du jemals etwas getan, das man als „toxisch“ bezeichnen könnte? Ich weiß, dass ich das habe. Ich hoffe, dass das immer unwahrscheinlicher wird, je älter ich werde. Aber ich kann ohne jeden Zweifel sagen, dass ich in meiner Jugend bei Auseinandersetzungen und Meinungsverschiedenheiten Dinge gesagt habe, die ich heute bereue und sicher nicht so gemeint habe – vor allem in meinen frühen Liebesbeziehungen. Ich bin mit Schwierigkeiten nicht so umgegangen, wie ich es mir heute wünsche. Die Fähigkeit zur Selbstreflexion ist ein Muskel, den wir regelmäßig trainieren müssen, genauso wie das Einfühlungsvermögen.
Niemand – nicht einmal das ewige „Opfer“, dem immer Unrecht widerfährt und das nie im Unrecht ist, und auch nicht die vermeintliche „Bösewichte“ – kann wachsen oder sich weiterentwickeln, wenn wir jedes Verhalten, das uns nicht gefällt, als „toxisch“ abtun, anstatt es zu untersuchen.
Überlege dir, wo du sonst auf der Welt eine „toxische“ Substanz finden könntest. Viele Tiere produzieren giftige Substanzen, um sich vor Fressfeinden zu schützen.
Obwohl es natürlich keine Entschuldigung für körperliche Misshandlung, Beschimpfungen oder sexuelle Übergriffe gibt, ist es möglich, dass eine vermeintlich „toxische“ Person in weniger ernsten Situationen ausrastet, weil sie Schmerzen hat und nicht weiß, wie sie damit umgehen soll. Das macht ihr Verhalten nicht richtig oder weniger verletzend, aber es bedeutet auch nicht, dass sie „toxisch“ ist und für immer gecancelt werden muss.
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Wenn wir Menschen als „toxisch“ abtun und an ihrer Wut festhalten, meint Morgen, könnten wir letztendlich etwas unglaublich Wertvolles verlieren: Frieden.
„Es kann emotional sehr befriedigend sein, anderen Menschen die Schuld für unsere Gefühle zu geben“, fügt sie hinzu. Ich kann mir vorstellen, dass es sich sehr befriedigend anfühlt, in einem Streit oder bei der Beschreibung eines Streits zu sagen, dass jemand ‚toxisch‘ ist, aber dadurch, dass man jemand anderen verurteilt, vernachlässigt man die Selbstreflexion.
Es gibt viele kulturelle Narrative, in denen Frauen (vor allem Frauen) „Opfer“ und Männer „Bösewichte“ sind. Anstatt Menschen als „toxisch“ zu bezeichnen, wäre es hilfreich, diese Narrative zu hinterfragen, damit wir das Gift aussaugen und über sie hinauswachsen können.
Jemand hat dich verletzt? Sei verletzlich, sag es. Jemand hat dir das Gefühl gegeben, dass du nicht respektiert wirst? Sag es. Jemand hat dir das Gefühl gegeben, einsam zu sein, oder dich verunsichert? Sag es.
Wenn du das tust, wirst du vielleicht nicht nur feststellen, dass du heilen kannst – sondern auch, dass du nie wieder in eine Situation gerätst, die dir so viel Leid zugefügt hat.
Nur extrem wenige Menschen sind von Natur aus schlecht, böse oder „toxisch“. Die derzeitige Vorliebe, diejenigen zu verurteilen, die uns Schmerzen zufügen, ist definitiv toxisch.
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