Warum es für trans* Frauen so wichtig ist, wirklich als Frau wahrgenommen zu werden
Das Aussehen ist für viele trans* Personen, die auf der Schwelle zu ihrem eigentlichen Geschlecht stehen, mehr als nur eine Oberflächlichkeit. Es bedeutet Bestätigung von außen, Erleichterung und Akzeptanz.
Northern Virginia, Freitagabend: Die 21 Jahre alte Nicole ist gerade im Club angekommen und tanzt sich ihren Weg vom Eingang bis zur Bar. Sie hat sich aufwendig zurechtgemacht, ihre höchsten High Heels und einen Push-up-BH unterm eng anliegenden Kleid angezogen. Den Menschen, denen sie an diesem Abend begegnet, stellt sie sich mit der superfemininen Stimme, die sie die letzten Monate geübt hat, als Nicole vor. Es ist das erste Mal, dass sie als Frau ausgeht und für sich selbst bewusst das Pronomen „Sie“ anstelle von „Er“ verwendet. Was sie überrascht: Die Leute nehmen es ihr wirklich ab.
Die Geschichte ist also nicht ganz wahr. „Nicole“ ist zu diesem Zeitpunkt die 16jährige Transfrau und YouTube Make-up-Artist Nikita Dragun. Es ist dieser Moment im Club, in dem sie merkt, dass Leute glauben, sie gehöre dem Geschlecht an, mit dem sie sich selbst identifiziert. Für viele Menschen, die auf der Schwelle zu ihrem eigentlichen Geschlecht stehen, ist diese Phase des Übergangs von Isolation und Angst geprägt. Umso mehr bedeutet die Bestätigung von außen Erleichterung und Akzeptanz. Vor allem aber bedeutet sie das nackte Überleben. Allein im Jahr 2017 wurden bereits 300 Transpersonen weltweit aus Hass umgebracht, die meisten von ihnen waren Frauen.
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„Die Leute haben oft Angst vor Sachen, die sie nicht verstehen. Deswegen greifen sie sie an.“, sagt Gabrielle Hermosa, eine Transfrau, die in der Öffentlichkeit als Rednerin und Menschenrechtsanwältin auftritt. „Wenn andere Menschen dir dein Geschlecht nicht „abnehmen“, kann das stressig und extrem kräftezehrend sein. Es ist ein Privileg, von deiner Umwelt mit deinem gefühlten und nicht mit deinem biologischen Geschlecht identifiziert zu werden. Diejenigen von uns, die dieses Privileg nicht haben, ziehen in der Öffentlichkeit ungewollte Aufmerksamkeit und Verurteilungen durch Fremde auf sich.“
Deswegen war der Schritt, sich öffentlich als Nicole zu zeigen, auch für Nikita Dragun so schwierig. „Ich habe eine Zeit gebraucht, bis ich bereit dazu war. Ich hatte Angst, dass es anderen auffällt. Dass sie mir das falsche soziale Geschlecht zuordnen oder mich „outen“. Irgendwann habe ich akzeptiert, dass es sehr wahrscheinlich ist, dass das irgendwann sicher auch mal passieren wird. Das hat mir einiges an Druck genommen.“
Das ist mehr als nur eine vorübergehende Phase
Für Transfrauen geht es um weit mehr, als nur weibliche Kleidung und Schminke zu tragen. Viele lassen sich die Körperhaare per Laser entfernen, die Brüste anpassen, ihr Gesicht femininer operieren, den Adamsapfel verkleinern und führen eine Hormonersatztherapie durch. Viele Krankenkassen in den USA übernehmen nicht alle Kosten einer kompletten Geschlechtsangleichung, sodass viele Transpersonen den Großteil selbst finanzieren. Hermosa betont, dass es sich hierbei um eine Investition in Höhe von bis zu 100.000 US Dollar handeln kann, sodass der Prozess sich für viele über Jahre hinweg zieht und mit einer großen privaten Verschuldung einhergeht.
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In unserer durchgegenderten Welt ist der erste Schritt zur eigenen Identität für viele Transfrauen, Make-up zu verwenden. Aber einfach in die nächste Drogerie zu laufen und Schminke zu kaufen, ist nicht so einfach, erklärt Jessica Blackler, die die Kosmetikmarke Jecca gegründet hat. „Make-up ist mit einem großen Stigma belegt, und zwar dem, dass nur ein Geschlecht es benutzen darf. Viele meiner Kund*innen fühlen sich unwohl damit, Schminke im Laden zu kaufen, weil sie nicht dem stereotypen Bild von Menschen entsprechen, die dekorative Kosmetik verwenden.“ Beim Entwickeln ihrer Make-up-Linie hat sie deswegen versucht, speziell auf die Wünsche und Bedürfnisse von Transpersonen einzugehen.
Aber damit nicht genug, sind die meisten Schminktutorials und –tipps so konzipiert, dass sie weibliche Attribute hervorheben, die bereits vorhanden sind. Brooke Dangler ist eine Transfrau im ersten Jahr ihrer Hormonersatztherapie. „Für mich war Make-Up aufzutragen zunächst eine entmutigende Erfahrung, weil mein Gesicht so maskulin war. Aber mit der Therapie werden meine Gesichtszüge immer weicher, und so konnte ich nach und nach meinen eigenen Look mit Make-up kreieren.“
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Ich wollte anfangs sehr deutlich machen, dass ich eine Frau bin. Mir konnte nichts feminin genug sein. Ich habe damals so viel Make-up getragen, ich war eigentlich eine Drag Queen.
Mikita Dragon
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Eines der größten Probleme für Transfrauen ist Gesichtsbehaarung, und wie man sie vor und während der Hormonersatztherapie entfernt und abdeckt. Selbst nach mehreren Laserbehandlungen und Sitzungen bei der Elektro-Epilation bleiben bei vielen noch Stoppeln oder ein Bartschatten zurück. Nicole beispielsweise nutzt unter ihrer Foundation orangefarbenen Concealer im Bartbereich, der den Farbunterschied ausgleichen soll. Die Transfrau Erin Kettl, Geschäftsführerin bei TRANScending Barriers Atlanta, erzählt:„Ich bin ständig mit einem Rasierer durch die Gegend gelaufen, weil ich Angst hatte, die Barthaare „verraten“ mein biologisches Geschlecht. Deswegen finde ich es so toll, mich mittlerweile nicht mehr damit herumschlagen zu müssen. Bisher hat jeder Mann, mit dem ich jemals intim geworden bin, über meine Wangen gestrichen. Ich glaube, dass das unterbewusst passiert, um zu sehen, wie weich meine Haut in diesem Bereich ist.“
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Mit dem „Dazwischen“ konfrontiert werden
In der Phase nach dem Make-Up und vor den chirurgischen Eingriffen lassen sich viele Transpersonen diverse Filler und Botox injizieren, um ihre Gesichtszüge femininer oder maskuliner wirken zu lassen. Der Schönheitschirurg Dr. Alexander Rivkin erklärt: „Viele Transgenderpersonen wollen nicht wie im Übergang zwischen zwei Geschlechtern aussehen. Wir verwenden Botox, um die Kiefermuskulatur und eine ausgeprägte Brauenpartie zu reduzieren, und Filler um die Wangen-, Nasen- und Kinnform zu verändern und eine flache Stirn runder erscheinen zu lassen. All diese kleinen Justierungen machen einen riesigen Unterschied.“
Brooke unterzieht sich aktuell einer nicht-chirurgischen Feminisierung bei Dr. Rivkin. Erst seit kurzen sieht sie, wie all die winzigen Veränderungen Stück für Stück das Gesamtbild formen. „Manchmal erkenne ich mein Gesicht kaum wieder. Dann muss ich immer reflexartig anfangen zu lachen, und dieses Glücksgefühl ist mit nichts in der Welt zu vergleichen. Weil ich weiß, dass ich das tue, was für mich das richtige ist.“
Ein Gefühl für sein eigenes Ich entwickeln
Die Hürde zwischen den traditionell als „männlich“ oder „weiblich“ wahrgenommenen Identifizierungsmerkmalen zu überwinden, bedeutet für viele Transpersonen immer wieder eine besonders frustrierende Erfahrung auf dem Weg zur richtigen Identität. Wenn die Schwelle einmal überschritten ist, fühlen sich deswegen viele von ihnen von einem unglaublichen Gewicht befreit, das zuvor auf ihren Schultern gelastet hat. Brooke sagt: „Ich bin seit zehn Monaten in einer Hormontherapie und kleide mich ziemlich androgyn an. Die Leute sprechen mich noch mit ‚Sir‘ an, aber ich bemerke immer mehr fragende Blicke. Das macht mich glücklich.“
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Die Leute sprechen mich noch mit ‚Sir‘ an, aber ich bemerke immer mehr fragende Blicke. Das macht mich glücklich.
Brooke Dangler
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Nach unzähligen schmerzhaften Unterhaltungen, Arztterminen, Operationen, Tabletten und Injektionen, bedeutet dieser Wendepunkt für viele Transpersonen, dass sie endlich anfangen können, ihre Wahrheit zu leben und sogar ein bisschen Spaß dabei haben dürfen. Nachdem für so lange Zeit so viele Frisuren, Kleidungsstücke und Kosmetikprodukte quasi verboten waren, werden sie nun zu einer Möglichkeit, sich selbst auszudrücken und seine neue Freiheit zu leben.
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Nicole erzählt: „Ich wollte anfangs sehr deutlich machen, dass ich eine Frau bin. Das bedeutete in meiner Welt damals, extrem aufreizende Outfits zu tragen. Ich habe mit Perücken experimentiert, mit Push-ups und verschiedenen Stimmen. Die längsten Wimpern, der auffälligste Lippenstift, die höchsten High Heels – mir konnte nichts feminin genug sein. Ich habe damals so viel Make-up getragen, ich war eigentlich eine Drag Queen.“
Mit dieser Art von Selbstfindung und der Entwicklung des eigenen Stils durch Experimente können sich sehr viele Menschen identifizieren, unabhängig davon ob sie mit 15 oder 30 stattfindet. Erin hat irgendwann aufgehört, „Unisex“-Klamotten zu tragen. „Ich stellte fest, dass alles, was nicht feminin war, schlichtweg gegen mich arbeitet.“ Stattdessen entwickelte sie einen „Weniger ist Mehr“-Ansatz beim Make-up. Zu dieser Erkenntnis kam irgendwann auch Nicole. „Jetzt, wo ich weiß, dass ich von meinem Umfeld als Frau wahrgenommen werde, kann ich auch nur mit etwas Tagescreme vor die Tür gehen, und es ist auch okay.“
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Deine geschlechtliche Identität nach außen kenntlich zu machen ist nur dann ein Ziel, wenn du es selbst zu einem machst. Transgender zu sein bedeutet für mich aber in erster Linie, sich selbst zu kennen, anzunehmen und zu lieben.
Erin Kettl
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Nach vorne blicken
Von der Gesellschaft mit seinem Geschlecht identifiziert zu werden, macht den Alltag um einiges leichter. Aber das ist nicht der einzige Grund, wieso sich so viele Transpersonen danach sehnen. Gabrielle Hermosa erklärt: „Die Außenwelt sieht uns ja nur eine bestimmte Zeit am Tag. Wir selbst müssen aber 100% unserer Zeit mit uns selbst verbringen. Man kann vor sich selbst nicht davonlaufen.“
Die körperliche Wandlung und die chirurgischen Eingriffe sind bloß die Spitze des Eisbergs. Die Veränderung vollzieht sich aber genauso im Inneren wie im Äußeren. Erin sagt: „Deine geschlechtliche Identität nach außen kenntlich zu machen ist nur dann ein Ziel, wenn du es selbst zu einem machst. Transgender zu sein bedeutet für mich aber in erster Linie, sich selbst zu kennen, anzunehmen und zu lieben.“
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