Triggerwarnung: In diesem Artikel geht es unter anderem um Depression und Selbstverletzung.
Als ich sieben Jahre alt war, brachte meine Mutter einen süßen Jungen namens James zur Welt. Er war das niedlichste Wesen, das ich je gesehen hatte – dicke Backen, verbeulter Kopf, einfach die Unschuld in Person. Aus diesem Baby wurde mit der Zeit ein Junge mit tollen blonden Locken, strahlend blauen Augen und einer herzensguten Seele. Ich vergötterte ihn. Meine Freund:innen und ich zogen ihm gerne meine Kleider an und kicherten darüber, wie perfekt er als Mädchen aussah.
Meinem älteren Bruder war James überhaupt nicht ähnlich. Der stand auf Batman und Nintendo und liebte es, mit mir zu raufen. James hingegen spielte mit kleinen Tierfiguren und kümmerte sich liebevoll um unsere Kaninchen im Garten. Zum dritten Geburtstag wünschte er sich ein rosafarbenes Puppenhaus, das ihm mein Dad selbst baute.
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Als James älter wurde, hatte er es in der Schule immer schwerer, weil er von seinen Mitschüler:innen gemobbt wurde. Und so fies Kinder auch sein können – sie sind meist sehr intuitiv. Sie hatten irgendwie gespürt, dass James einfach „anders“ war; dass er nicht ihren Vorstellungen einer Gender-Identität entsprach, die die Gesellschaft von uns allen erwartete. Und in einer britischen Kleinstadt waren diese Vorstellungen eben nicht sonderlich divers. Von „transgender“ hatte dort jedenfalls niemand je gehört.
Mit 18 zog ich dann nach London und stürzte mich in einen Mix aus Partys und Vorlesungen. Nach Hause fuhr ich nur noch selten – und verpasste daher die prägenden Teenagerjahre meines kleinen Bruders. Ich war nicht für ihn da, um ihm die Unterstützung zu geben, die er so dringend brauchte. Er wurde schwer depressiv und verletzte sich selbst, um mit den seelischen Schmerzen fertig zu werden, die seine Körperdysphorie mit sich brachte. Gleichzeitig war er auch mir gegenüber unheimlich schüchtern, und so entfernten wir uns immer weiter voneinander.
Ein paar Jahre später, als ich 24 war, rief mich meine Mum an. „Ich muss dir etwas über James erzählen“, warnte sie mich vor. „Ich weiß, was du sagen willst, Mum“, erwiderte ich sofort. „Wir wissen doch alle schon längst, dass James schwul ist.“ Ist es nicht merkwürdig, dass Gender und Sexualität so schnell miteinander verwechselt werden? „Nein, das ist es nicht“, sagte Mum direkt. „James hat das Gefühl, im falschen Körper geboren worden zu sein, und möchte sich als weiblich identifizieren. Also nennen wir sie jetzt erstmal Jay.“
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Und plötzlich hatte ich eine Schwester.
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Ich vermisste meinen Bruder nicht. Stattdessen war ich unheimlich stolz auf meine neue Schwester.
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Das zu akzeptieren, war das Einfachste auf der Welt. Bei einer so starken Verbindung wie der zwischen Geschwistern spielen Gender-Identitätsfragen gar keine Rolle. Du liebst diese Person, du akzeptierst sie – ganz egal, wie sie sich selbst identifiziert. Das ist ein völlig nebensächlicher Teil dieser Beziehung. Natürlich dauerte es trotzdem eine Weile, bis ich mein Gehirn so umprogrammiert hatte, dass ich „sie“ statt „er“ und „Schwester“ statt „Bruder“ sagte. Gender-Pronomen sind ziemlich hartnäckig im Hirn verankert.
Eine Trauerphase hatte ich aber nie. Ich vermisste meinen Bruder nicht. Stattdessen war ich unheimlich stolz auf meine neue Schwester. Ich zelebrierte sie von Kopf bis Fuß und erzählte all meinen Freund:innen von ihrer Entscheidung, als Frau zu leben. Unsere Beziehung wurde stärker, und auch unsere Freundschaft immer tiefer. Es war, als hätte meine Schwester während ihrer Kindheit immer dieses schmerzhafte Geheimnis mit sich herumgetragen und war jetzt endlich frei davon; sie konnte ihre Wahrheit endlich ausleben.
Ihre Transition ist immer noch nicht abgeschlossen. Sie geht das Ganze ruhig an, in einem Tempo, das sich für sie und ihren Körper richtig anfühlt. Heute ist sie rechtlich gesehen eine Frau, hat ihren Namen auf dem Ausweis ändern, sich Brustimplantate einsetzen und das Gesicht operieren lassen. Noch immer kämpft sie damit, was es für sie überhaupt bedeutet, weiblich zu sein, und wie diese weibliche Identität aussehen soll.
Der Weg einer trans Person ist oft ein schwerer. Arbeitslosigkeit, Obdachlosigkeit, Sucht und Probleme mit der geistigen Gesundheit sind dabei weit verbreitet, und davon ist auch meine Schwester nicht ausgenommen. Obwohl wir ihr als Familie so viel Unterstützung und Liebe zusichern, wie wir nur können, ist unsere Gesellschaft dazu noch nicht genauso bereit. Meine Schwester lebt inzwischen am Rand der Gesellschaft – natürlich nicht freiwillig. Sie wurde dorthin gedrängt.
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Wenn ich daran denke, dass eine so gutmütige, sanfte Person wie meine Schwester von der Gesellschaft als Außenseiterin gesehen wird, als Freak, oder – noch schlimmer – als Perversling, werde ich unheimlich wütend. Manche finden, sie verdiene weniger Respekt. Andere sind der Meinung, sie habe kein Recht darauf, mit cis Frauen eine öffentliche Toilette zu teilen, weil sie dort deren Sicherheit gefährde.
Dabei ist meine trans Schwester nirgendwo in Sicherheit. Nirgendwo.
In den letzten vier Monaten fiel sie zwei transphoben gewalttätigen Angriffen zum Opfer. Als Konsequenz lebt meine ganze Familie in Angst. Wir fürchten uns rund um die Uhr davor, dass eines Tages ein Anruf kommt, dass es an der Tür klopft, dass die Polizei mit uns sprechen muss. Und diese Angst ist nicht unbegründet: Trans Menschen sterben oft deutlich früher. Die durchschnittliche Lebenserwartung einer trans Frau in den USA schwankt zwischen 30 und 35 Jahren. Und das liegt nicht nur an den schockierenden Zahlen der Morde an trans Menschen (2019 waren es offiziell weltweit 331, doch ist die Dunkelziffer vermutlich unvorstellbar hoch), sondern insbesondere auch daran, dass das Suizidrisiko unter trans Jugendlichen fast sechsmal so hoch ist wie bei ihren cis Altersgenossen. Diese Zahlen lassen sich mit einer anderen erklären: Selbst in Deutschland gaben 58 Prozent aller befragten trans Personen in einer Studie der EU-Grundrechteagentur an, in den letzten zwölf Monaten diskriminiert oder belästigt worden zu sein. Kurz gesagt: Eine trans Identität sorgt in mehr als der Hälfte aller Fälle für Nachteile im Alltag – und kann manchmal sogar tödliche Konsequenzen mit sich ziehen.
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Und trotz alldem ist die Genderpolitik immer noch ein Chaos aus Aggressivität, Panikmache und Missverständnissen. Immer noch fürchten sich zu viele Leute vor dem Neuen, dem Unbekannten, allem, was den Status Quo verändern und damit womöglich negativen Einfluss auf das eigene Leben nehmen könnte. Diese Angst vor dem „Anderen“ haben wir fehlender Bildung zu verdanken. Dabei verliert das Unbekannte alles Furchteinflößende, wenn wir es uns nur mal genauer ansehen und offen darüber sprechen. Mit der Zeit würde sich die Gesellschaft als Ganzes dann bestimmt weniger vor trans Menschen – und vor allem trans Frauen – fürchten, und sogar begreifen: Das sind Menschen wie du und ich, die Respekt und Akzeptanz verdienen. Das sind Menschen, Punkt.
Ich wünschte, jede:r, der oder die meine Schwester jemals völlig grundlos beleidigt, geschlagen, verarscht oder angespuckt hat, würde in den Garten unserer Kindheit zurückversetzt und könnte dort unsere Kaninchen sehen, unsere Tierfiguren, die Unschuld in den sanften Augen meiner Schwester. Ich wünschte, sie könnten mit uns zusammen aufwachsen und mitansehen, was meine Schwester alles durchmachen musste. Ich wünschte, sie würden dadurch begreifen, was meine Schwester dazu gebracht hatte, sich ihre Transition zu wünschen.
Ich hoffe, dass wir eines Tages alle in einer Gemeinschaft leben, in der die Gender-Entscheidungen jeder Person akzeptiert und respektiert werden. Ich hoffe, dass meine Schwester irgendwann das Leben ihrer Träume genießen kann, ohne sich davor fürchten zu müssen, auf offener Straße angegriffen zu werden. Ich hoffe, dass trans Frauen und sexuelle Gewalt irgendwann nicht mehr im selben Satz erwähnt werden.
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Bis heute hängt dieses Bild an meiner Wand. Es ist ein Selbstporträt von James mit 14 Jahren: eine Kohlezeichnung eines Gesichts, das an den Rändern verwischt ist und in etwas völlig Neues verschwimmt. Es hängt an meiner Wand, um mich an die Kraft der menschlichen Verwandlung zu erinnern – und daran, wie wichtig es ist, im Kampf um Veränderungen niemals aufzugeben.
Solltest du selbst akut psychologische Hilfe brauchen oder kennst jemanden, der oder die es tut, wende dich an die Hotline der TelefonSeelsorge unter 0800 111 0 111 oder 0800 111 0 222 oder den Chat der TelefonSeelsorge.
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