„Jeden Tag ein Foto zu machen ist für mich eine Art, für mich selbst da zu sein. Das gehört für mich zur Selbstverantwortung und Selbstliebe dazu“, erzählt der:die 27-jährige Fotograf:in Laurence Philomène. Als nichtbinäre transgender Person dokumentiert Philomène schon seit Anfang 2019 den Alltag während seiner:ihrer durch eine Hormontherapie eingeleiteten Transition. Dieses Projekt heißt Puberty, also „Pubertät“.
Die strahlenden, kunterbunten Bilder sind intime Einblicke in Philomènes Privatleben. Die Mischung aus Selbstporträts und lockeren Schnappschüssen zeigt dabei die allmählichen körperlichen Veränderungen der Transition im Umfeld des ganz normal weiterlaufenden Alltags. „Es geht um das Verstreichen der Zeit“, erklärt Philomène, „sowohl in meinem Körper als auch meinem direkten Umfeld.“ Auf den Fotos sehen wir Philomène beim Baden, beim Schlafen, beim Scrollen am Handy, beim Abwasch, beim Frühstück und beim Entspannen im Sonnenschein, der durch die Fenster fällt. Die Bilder sind eine rührende, stille Dokumentation des Alltags einer Transition. Das war eine bewusste Entscheidung: Philomène wünscht sich, mit diesem Projekt die trans Erfahrung zu normalisieren, weit über deren medizinische Aspekte hinaus. „Ich glaube, dass viele Leute denken, wir seien komplett andere Menschen – als würden wir ein völlig anderes Leben führen als sie“, erklärt Philomène. „Dabei sind wir am Ende des Tages doch alle nur Menschen. Das Leben ist oft total alltäglich, und das gilt für uns alle.“
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Philomène fing im April 2018 mit seiner:ihrer medizinischen Transition an, aber erst im folgenden Januar kam ihm:ihr die Idee zu diesem Projekt. Weil sich die Bilderreihe so um persönliche Erfahrungen dreht, musste sie gut vorbereitet sein. „Sechs Monate, bevor ich damit anfing, wusste ich, dass ich den ganzen Prozess gern dokumentieren würde – war mir aber nicht ganz sicher, wie. Damals spielte ich mit verschiedenen Ideen, aber im Januar nahm dann vieles langsam Form an. Ich hatte gerade eine Trennung durchgemacht, litt durch Nonstop-Arbeit unter einem Burnout, hatte meine Testosteron-Dosis erhöht und brauchte insgesamt einfach eine Pause. Also nahm ich mir Urlaub. In dieser Zeit verbrachte ich viel Zeit allein zu Hause und wollte mich mir selbst ein bisschen näher fühlen, indem ich mich um mich kümmerte.“ Philomène nahm sich vor, jeden Tag Fotos zu machen, und nach etwa einem Monat fing er:sie an, die Bilder auf einem Finsta (einem Fake-Instagram-Account) zu posten. Die Reaktion von Freund:innen und Followern war so positiv, dass Philomène klar wurde: Hier entstand gerade ein Projekt. „Danach ließ ich mich einfach davon treiben und machte so weiter.“
Philomène wurde in Montreal geboren und interessierte sich schon früh für Fotografie. In der Jugend verbrachte er:sie nach der Schule Stunden im Internet und tauschte sich mit anderen Foto-Künstler:innen rund um den Globus aus. „Als Teenager fing ich an, Selbstporträts und Fotos von meinen Freund:innen zu machen. Die stellte ich dann auf ähnliche Art wie heute online“, erzählt er:sie. „Auf diese Zeit blicke ich sehr gerne zurück, weil ich finde, das war einfach eine andere Ära des Internets – man schlachtete seine eigene Web-Präsenz noch nicht so aus. Es ging einfach nur darum, Kunst zu teilen, und das war wundervoll.“ Sobald die Beliebtheit von Seiten wie Flickr langsam zurückging, teilte Philomène seine:ihre Fotos auf Tumblr und später in sozialen Netzwerken wie Instagram. Philomènes Followerzahlen stiegen schnell, und er:sie postete fleißig – bis kurz vor der Transition. „Für eine Weile hörte ich mit den Selbstporträts auf, weil es sich irgendwie zu überwältigend anfühlte, mein Leben so mit anderen zu teilen. Als ich die Transition anfing, erzählte ich online davon auch nichts. Ich hatte echt Angst davor, mich dadurch verletzlich zu zeigen.“
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Tagsüber durch das natürliche Licht, nachts durch vielfarbige Lampen spielt Farbe in Philomènes Foto-Welt eine große Rolle. „Farbe ist einfach so eine effektive Möglichkeit, eine Stimmung oder ein Gefühl zu vermitteln, was ich mit diesen Bildern oft tun will; darüber hinaus macht mich Farbe aber auch einfach glücklich, also umgebe ich mich gerne damit.“ Welche Farbe Philomènes Favorit ist, wechselt sich dabei immer ab. „Jetzt gerade stehe ich voll auf Neonpink“, sagt er:sie fröhlich, und dieser Einfluss ist leicht auf Bildern aus dem Schlafzimmer oder Badezimmer zu erkennen, auf denen die Räume in ein kühles Fuchsia getaucht sind, während einige Selbstporträts durch ein sattes Magenta das gewisse Etwas bekommen. Auch Orange und Himmelblau, Sonnengeld und Limettengrün tauchen immer wieder auf.
Handgeschriebene Notizen ergänzen Philomènes Fotos und gewähren kleine Einblicke in seine:ihre Gefühlswelt. „Ich weiß noch, dass ich am Tag der ersten [Testosteron-]Dosis dachte: Ich bin heute ein bisschen gestorben. So werden das andere sehen“, steht auf einem Zettel; „Ich finde, ich lasse mich jeden Tag ein bisschen mehr in mein echtes Ich fallen“, steht auf einem anderen. All diese kleinen Nachrichten drücken dasselbe Gefühl der verstreichenden Zeit aus, das Philomène auch mit den Bildern darstellen möchte: Die Veränderungen ergeben sich schrittweise und ganz langsam. „Ein großer Teil der trans Repräsentation dreht sich um diese Transition, und viele glauben, das sei ein schneller Prozess“, erklärt Philomène. „Dabei denke ich vor allem an prominente Beispiele wie Caitlyn Jenner. Die sehen dann einfach plötzlich anders aus, als sei das über Nacht passiert. Das entspricht bei vielen von uns aber überhaupt nicht der Realität – es ist ein langer Prozess, und den wollte ich verlangsamen und genau so darstellen. Wenn du als Teenager die Pubertät durchmachst, ist das auch keine plötzliche Veränderung, oder? Nein, das ist ein circa fünf Jahre dauernder Prozess. Also wollte ich meinen ebenfalls über lange Zeit hinweg dokumentieren.“ Die Fotos zeigen diese Langsamkeit, zum Beispiel durch Schnappschüsse aus dem Fenster zu verschiedenen Tages- und Jahreszeiten.
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Dieser Akt der Selbstdokumentation war für Philomènes Entwicklung entscheidend – sowohl in persönlicher als auch kreativer Hinsicht. „Es ist so stark, wenn Leute aus Randgruppen ihre eigene Geschichte mitschreiben, und ich finde, die Fotografie ist dafür so ein tolles Werkzeug“, meint Philomène. „Dieses Projekt hat mir ermöglicht, mir selbst das Leben zu gestalten, das ich mir wünsche – und ich finde, das ist so eine starke Sache, die jede:r tun kann. Ganz egal, ob du trans bist oder nicht: Versuche, die Schönheit in deinem Alltag zu entdecken und diese Momente zu finden.“
Das Fotobuch zum Puberty-Projekt erscheint diesen Sommer. Für Philomène war die Zusammenstellung des Bildbands die Gelegenheit, innezuhalten und die Fotos selbst noch einmal aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten; für den:die Künstler:in ist das Projekt aber noch nicht vorbei. Philomène will die tagebuchartigen, autobiografischen Aspekte davon in seiner:ihrer Arbeit beibehalten. „Ich sehe dieses Buch als Kapitel einer längeren Geschichte“, meint er:sie. „Wenn ich Fotos mache, denke ich dabei nicht nur daran, was sie in diesem Moment bedeuten, sondern auch, was sie in zehn, 15 oder sogar 20 Jahren bedeuten könnten. Mein ursprüngliches Ziel war es, eine Art historisches Archiv für mein zukünftiges Ich und folgende Generationen zu erstellen; gleichzeitig ist das aber auch meine Art, eine Beziehung zu anderen Menschen aufzubauen und sie in mein Leben einzuladen. Natürlich ist jede trans Erfahrung eine andere. Ich denke aber, dass unsere Gesellschaft prinzipiell viel Angst vor dem Anderssein hat. Das führt dann oft zu Gewalt – insbesondere für trans und gender-nonconforming Personen of color. Ich will mit meiner Arbeit diese Angst abbauen und ein Gefühl von Gemeinschaft fördern. Ich wünsche mich, dass wir einander besser verstehen können.“ Jetzt gerade macht Philomène diese Arbeit Spaß und ist erfüllend; dabei geht es ihm:ihr aber auch darum, greifbare Spuren seiner:ihrer Existenz zu hinterlassen – ein visuelles Erbe, sozusagen. „Ich kann mir keinen sinnvolleren Zeitvertreib vorstellen“, sagt Philomène.
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