Im letzten Jahr habe ich Lena kennengelernt. Lena heißt eigentlich anders und ich will ihre Geschichte nicht im Detail erzählen, denn es ist ihre Geschichte, ihr Leid, nicht meines. Aber durch ihre Tränen, ihre Schreie, kam mir ihr Schmerz sehr nahe. Und zwar in einer Umgebung, in dem ich ihn nicht erwartet hatte. Musik, bunte Laser, Menschen, die Barfuß laufen.
Es hätte ein schönes Wochenende werden sollen, Lena hätte mit ihren Freunden getanzt. Den Tag, die Nacht. Stattdessen sitzt sie im Krankenhaus und wartet auf die Polizei, die ihr Fragen stellt, die sie sich selbst nicht alle beantworten kann, die ihr Mitschuld geben, an dem, was passiert ist. Lena kann sich nur noch schemenhaft erinnern, die Spuren zeichnen ihren Körper. Lena wurde vergewaltigt.
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„Sexuelle Gewalt ist in unserer Gesellschaft immer noch tabuisiert und gerade in der bunten Glitzer-Partywelt will man nichts mit ihr zu tun haben.“ Das sagt Anne Roth vom LARA Krisen- und Beratungszentrum für vergewaltigte und sexuell belästigte Frauen in Berlin. „Dabei gab es auf Festivals und Partys schon immer Übergriffe.“
Jeden Sommer finden mehr Festivals statt, versprechen Spaß und Freiheit. Aber unübersichtliche Situationen, in denen man die Bezugsgruppe verliert, Momente, in denen man über Grenzen gehen möchte, Drogen, Alkohol, machen nicht nur Spaß, sondern manchmal auch schutzlos. Langsam reagieren auch Veranstalter mit Gegen- oder Notfallmaßnahmen darauf.
Regelmäßig liest man in Foren und auf Facebook von Fällen. Auf Veranstaltungen selbst verbreiten sie sich meist wie ein Lauffeuer. In den Zeitungen steht es oft nur, wenn es so viele sind wie beim Oktoberfest. Besoffene Männer, klar, die Küssen bestimmt die Kollegin auch wenn sie nicht will. Aber Menschen, die unter Konfetti tanzen, die wissen doch, dass „Nein“ „Nein“ heißt, oder?
„Die meisten Täter sind ganz „normale Männer“. Heißt es beim Weißen Ring e.V. „Vergewaltigungen werden nicht – wie allgemein vermutet – überfallartig in der Nacht an „unheimlichen Orten“ verübt.“
Ende Mai sind auf einem Musik-Open-Air-Fest in Darmstadt 18 Anzeigen aufgrund von sexuellen Übergriffen eingegangen. Wie nach Silvester in Köln stehen wieder die Geburtsorte der Verdächtigen im Fokus und nicht die Opfer. So wird suggeriert, dass es um ein Problem zwischen Nationalitäten geht und nicht zwischen Menschen. Auch das führt dazu, dass in vielen Kreisen Sexismus und sexuelle Gewalt eher selten thematisiert werden, weil man sie sich nicht vorstellen kann oder will. Gina-Lisa feierte schließlich in einer ganz anderen Disco, wo sogenannte Promi-DJs zur Promi-Big-Brother-Aftershave-Party Bumsbuden-Sound auflegen, oder?
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„Bei uns hat es in den letzten 15 Jahren keinen solchen Fall gegeben,“ sagt Tommy Nick, der für das Melt! Festival arbeitet, am Telefon. Auch beim Splash! gab es bisher keine Anzeige von Sexualdelikten, sagt er und das bestätigt auch die zuständige Polizeidirektion. „Vielleicht liegt es an der Zielgruppe, an die wir uns wenden.“ Versucht Nick eine Erklärung für die positive Bilanz.
„In 15 Jahren kein Fall, das könnte auch stutzig machen", sagt Frederike. Sie kennt Fälle von sexueller Belästigung auf Musikfestivals und Partys und hat eine Ahnung davon, wie hoch die Dunkelziffer sein könnte, weil Opfer sich Übergriffe, die nicht selten aus dem Bekanntenkreis kommen, klein reden, aus Scham, aus Unwissenheit, weil sie fälschlicherweise denken, da sie Alkohol oder Drogen konsumiert haben, trifft sie eine Mitschuld. Aber es sind nicht Drogen, nicht der Alkohol, der eine Straftat begeht, es ist der Täter.
Auch deswegen wird Frederike in diesem Sommer das zweite Mal Teil eines Teams auf dem Festival Nation of Gondwana in der Nähe von Berlin sein, das Aufmerksamkeit auf ein Problem richten möchte, das überall existiert und sich – so könnte man generell sagen - dem Konsensprinzip verschrieben hat. Nein heißt Nein.
Markus Ossevorth ist einer der Veranstalter des Techno-Festivals. Warum ihm das Team wichtig ist, erklärt er am Telefon: „2014 hat sich eine Frau bei uns gemeldet und uns von einem sexuellen Übergriff berichtet. Danach war klar, wir müssen was tun.“ Also haben sie Klos, die nur für Frauen geöffnet sind an den Dancefloor gestellt, halten einen Raum bereit, in den sich mögliche Opfer zurückziehen können, und haben das Security Team instruiert, auf orientierungslose Menschen zu achten und auf dem Zeltplatz sichtbar zu sein. Das Sicherheitsteam wurde erweitert, mit Friederike sind noch 30 weitere Helfer im Spezialeinsatz.
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Die haben einen sogenannten Safer Space eingerichtet, wo sie ansprechbar sind, Infomaterial verteilen, zuhören. Friederike sagt: „Durch unsere Anwesenheit, machen wir auf das Thema aufmerksam.“ Dadurch ist viel erreicht. Oft kämen Leute und seien verwundert, dass "sowas hier passieren könne". In mobilen Teams sind sie aber auch an unübersichtlichen Orten präsent. Im letzten Jahr wurde so ein Spanner im Wald gestellt und ein Mann der pinkelnde Frauen begrabschte der Polizei übergeben.
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Sexuelle Übergriffe sind leider auch in unserer Szene keine Seltenheit
Markus Ossevorth
”
Und wie sieht es bei den großen Festivals aus? Ein Anruf bei der DRK-Stelle, die das Rock am Ring betreut: 9.400 Einsätze gab es 2015. Wie viele davon mit Sexualdelikten im Zusammenhang standen darf und will der Sprecher des Roten Kreuzes nicht sagen. Nur soviel: Es habe in den letzten Jahren Fälle gegeben. Die Veranstalter vom Rock im Park haben mit geschulter Security und weiblichen Medizinern reagiert, die auch psychologische Hilfe leisten können. Und die Festival-Apotheke hält die Pille danach bereit, sagten sie im letzten Jahr auf Nachfrage des Bayerischen Rundfunks.
So ist auch das DRK-Team beim Melt! vorbereitet. „Natürlich ist unsere Security auch gebrieft“, sagt Tommy Nick vom Melt!-Team. Er glaubt, dass die Musiker, die das Festival bucht, für ein offenes und emanzipiertes Publikum stehen. Und dass die Kinofilme und Workshops, die neben dem Musikprogramm laufen, dafür sorgen, „dass die Leute nicht auf dumme Ideen kommen. Wir wollen die Strategie zur Verstärkung der Sicherheit für Frauen nicht in den Vordergrund rücken. Wir arbeiten aber hinter den Kulissen daran.“
Und welche Wirkung hat es auch öffentlich klarzustellen, dass man keine Gewalt duldet?„Die sogenannte Awareness-Arbeit ist auf jeden Fall hilfreich“ antwortet Anne Roth von der Opfer-Beratungsstelle. „Von betroffenen Frauen weiß ich, wie wichtig es für sie ist, dass das Thema adressiert wird, dass sie einen Ansprechpartner haben. Und auch potentielle Täter müssen wissen, dass es ein Ort ist, an dem darauf geachtet wird." Und das muss für viel mehr Orte gelten.
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Die Berliner Charite bietet Betroffenen eine kostenlose rechtsmedizinische Dokumentation etwaiger Verletzungen an, hat aber auch Schweigepflicht gegenüber der Polizei. Wenn man also noch nicht weiß, ob man sich für eine Anzeige entscheiden möchte, ist man hier richtig.
Diese Broschüre sammelt auf 40 Seiten wichtige Informationen zum Thema.
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