Es gibt einen Grund dafür, dass wir uns kaum durch unsere Social-Media-Kanäle scrollen können, ohne früher oder später über irgendein zuckersüßes, motivierendes, inspirierendes Zitat zu stolpern: Positivität ist etwas Mächtiges.
Oft hilft es uns schon durch die größten Krisen, uns am dünnsten Strohhalm der Hoffnung festzuhalten – selbst in einer globalen Pandemie. Es ist schließlich ein tröstender Gedanke, dass auf ein paar Regentage letztlich immer Sonnenschein folgt. Vielleicht, denkst du dir dann, ist ja gar nicht alles so schlimm, wie es mein Hirn mir heute weismachen will. Vielleicht ist das Leben gar nicht so furchtbar, wie es sich gerade anfühlt.
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Dabei ist diese Einstellung gar nicht das beste Mittel, um dir selbst und anderen zu helfen – und kann sogar Schaden anrichten. Dieser Fokus auf vermeintlich positive Gefühle und die gleichzeitige Ablehnung all dessen, was womöglich negative Gefühle hervorrufen könnte, nennt sich dann „toxische Positivität“. Die ist eine Form von unabsichtlichem Gaslighting und sorgt dafür, dass sich jemand gehemmt fühlt, die eigenen Gefühle ehrlich auszudrücken, ob nun wissentlich oder nicht.
Das kennt auch Natalie. Die 34-Jährige war so frustriert von den Reaktionen ihrer Freund:innen, wenn sie ihnen von ihrer langwierigen Jobsuche erzählte, dass sie ihre Bewerbungen im Freundeskreis irgendwann gar nicht mehr erwähnte. „Wann immer ich mal wieder keinen Erfolg gehabt hatte, sagten sie mir Sachen wie: ‚Da kommt noch ein viel besser Job, wart’s ab‘, oder: ‚Verglichen mit anderen Problemen in der Welt ist doch das gar kein großes Drama.‘ Manchmal hasste ich meinen bestehenden Job aber so sehr, dass ich morgens gar nicht aufstehen wollte. Und dann bekam ich Sprüche wie ‚Ach, schlimmer geht immer‘ oder ‚Wenn du einfach positiv bleibst, kriegst du den neuen Job!‘ zu hören. Aber so funktioniert das eben nicht, und es fühlte sich irgendwie unehrlich von ihnen an. Danach ging es mir noch schlechter und irgendwann grauste ich mich so sehr vor ihren Antworten, dass ich einfach alles für mich behielt. Dabei hätte ich mir so sehr gewünscht, dass mir einfach irgendjemand mal sagt: ‚Weißt du was, du hast Recht, das ist wirklich beschissen.‘“
Ähnlich ging es auch der 38-jährigen Clara, deren Sohn mit nur neun Monaten eine Krebsdiagnose bekam. „Heute geht es ihm gut, aber wir durchlebten sechs Monate der Chemotherapie und Operationen. Das war traumatisch“, erzählt sie. „Ich schrieb währenddessen einen Blog und sprach auch viel darüber. Ganz viele sagten mir dann: ‚Es wird alles gut‘, ‚Behalte dein Lächeln‘ oder ‚Du bist eine Inspiration‘ – dabei konnte ich mit nichts davon wirklich was anfangen. Die Worte fühlten sich leer an, waren nicht hilfreich, und stattdessen fühlte ich mich irgendwann schlecht dafür, dass ich mich schlecht fühlte. Solche Reaktionen geben dir dann das Gefühl, du müsstest dich dafür rechtfertigen, dass du traurig bist – und dann streitest du dich quasi mit anderen darüber, warum und ob du traurig sein solltest.“
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Diese toxische Positivität trifft man übrigens nicht nur im privaten Bereich, sondern auch in der akademischen Welt; Fatima, 33, kann davon ein Lied singen. Laut ihr nimmt das fast schon die Form eines „merkwürdigen Kults“ an, der sich ihrer Meinung nach negativ auf die ohnehin schon große psychische Belastung der akademischen Arbeit auswirken kann. „Ganz viele Leute blenden alle negativen und emotional belastenden Seiten einer akademischen Karriere einfach aus und konzentrieren sich stattdessen nur darauf, dass das Ganze ja auf was Gutes hinführt“, meint sie. „Da kommt dann sowas wie: ‚Sobald du deine Doktorarbeit fertig hast, bist du bereit für deine Zukunft‘, oder: ‚Um die Fördermittel gibt’s eben viel Konkurrenz, bewirb dich einfach weiter und irgendwann kriegst du bestimmt ein Stipendium.‘ Dadurch habe ich das Gefühl, ich habe mich für den falschen Karriereweg entschieden – ich bin ja scheinbar nicht so entspannt wie andere. Dabei ist der Druck echt groß, und oft fühlst du dich dabei sehr allein.“
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Du kannst unglückliche Menschen nicht glücklich machen, indem du ihnen sagst: „Konzentrier dich einfach mal aufs Gute!“, oder: „Kopf hoch!“
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Dabei ist die Wahrheit ja ganz simpel: Du kannst unglückliche Menschen nicht glücklich machen, indem du ihnen sagst: „Konzentrier dich einfach mal aufs Gute!“, oder: „Kopf hoch!“ Du nimmst ihnen nicht die Angst oder Sorgen, indem du sie via WhatsApp mit süßen Tiervideos bombardierst – auch, wenn es ihnen kurzfristig vielleicht ein Lächeln entlockt. Wenn dir jemand von seinen oder ihren Gefühlen erzählt, wünscht sich diese Person vermutlich nichts sehnlicher, als dass du diese Gefühle anerkennst, diese Sorgen ernst nimmst und einfach zuhörst.
Das betont auch der Psychotherapeut Noel McDermott. „Wir sind emotional sehr einfach gestrickt: Entweder haben wir Gefühle – oder nicht. Dabei können wir uns diese Gefühle nicht aussuchen“, sagt er. „Wenn wir versuchen, eine Art von Gefühlen loszuwerden, werden wir sie alle los und stumpfen ab, auch gegenüber positiven Emotionen. Das schadet unserem Inneren.“ Er erklärt weiter: „Ein gutes Beispiel für Menschen, die versuchen, nur Schönes zu fühlen, sind Drogenabhängige. Der Effekt des Drogenmissbrauchs ist ein vorübergehendes Glücksgefühl, aus dem dann ganz schnell emotionales Elend wird.“ Noch dazu brauchen wir unsere Gefühle – die guten wie die schlechten, sagt McDermott. Schließlich verraten sie uns viel darüber, ob eine Situation für uns sicher ist oder wir uns lieber daraus zurückziehen sollten.
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Anstatt Negatives also zu ignorieren, sollten wir unsere Erfahrungen nutzen, um uns widerstandsfähiger zu machen, um in Zukunft besser mit ähnlichen Situationen umgehen zu können. „Wenn du Gefühlen aus dem Weg gehst, die dir unangenehm sind – und auch anderen dazu rätst –, schränkst du selbst die Bandbreite der Beziehungen und Lebenserfahrungen ein, die dir noch offen stehen. „Wir sind soziale Wesen und funktionieren am besten, wenn wir uns mit einer Gruppe Menschen umgeben, zu denen wir tiefe Verbindungen haben. Je mehr wir diese Verbindungen einschränken, desto schlechter geht es uns.“
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Wir flüchten uns durch diesen guten Zuspruch in unsere eigene Positivität, anstatt mitzufühlen.
Dr. Daria Kuss
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Noch dazu tut es uns (und unseren Beziehungen) nachweislich gut, die eigenen negativen Gefühle von anderen widergespiegelt zu bekommen – so seltsam sich das auch anhört. Die Psychologieprofessorin Dr. Daria Kuss erklärt, wieso das so ist. „Trauer und Unglück zu erwidern, zu spiegeln, hilft unserem Gegenüber dabei, sich verstanden und unterstützt zu fühlen“, sagt sie. „Wenn du jemandem helfen möchtest, ist das Wichtigste nicht, das Problem zu lösen, sondern aufmerksam zuzuhören und Gefühle widerzuspiegeln. Geht es deinem Gegenüber schlecht, heißt das für dich: Tu diese Gefühle nicht ab, sondern schenke der Person deine ungeteilte Aufmerksamkeit und vermittle ihr den Eindruck, ernst genommen zu werden.“
Aber warum werfen wir denn überhaupt mit diesen leeren, positiven Sprüchen um uns, anstatt uns auf einen sinnvollen Dialog einzulassen? Dabei spielt laut Dr. Kuss vermutlich unsere eigene Angst vor Negativität eine Rolle. „Wir haben diese Sprüche erlernt, weil sie einen einfachen Ausweg bieten und uns ersparen, das Unglück der anderen Person spiegeln zu müssen. Wir flüchten uns durch diesen guten Zuspruch in unsere eigene Positivität, anstatt mitzufühlen.“
Und wenn du mal ganz ehrlich bist, ist es auch irgendwie beängstigend, Verantwortung für jemanden zu übernehmen, dem oder der es gerade schlecht geht. „Viele Leute fühlen sich dadurch überfordert“, meint McDermott. „Dabei könntest du sogar eine große Hilfe sein. Sei empathisch – höre zu, ohne zu verurteilen oder das Problem selbst in die Hand nehmen zu wollen. Stattdessen solltest du über eigene, ähnliche Erfahrungen und Gefühle sprechen.“ In seinem Job bemerkt er selbst jeden Tag, wie sehr das hilft: „Die meisten meiner Patient:innen brauchen einfach nur mal ein offenes Ohr und jemanden, der oder die ihnen nicht das Gefühl gibt, ihre Trauer sei unberechtigt.“
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