Warum hat eigentlich noch niemand eine raffinierte App erfunden; so wie Tinder, nur mit Elternhäusern anstelle von Sexdates? Man könnte sich in diesem Falle während der sich proportional in ihrer Nervigkeit zuspitzenden Wochen vor Weihnachten einfach entspannt zurücklehnen und die Angebote für die Weihnachtsfeier auf dem Smartphone nach links oder rechts swipen. Natürlich ohne Geschlechtsverkehr. Jedes Elternhaus könnte sich dann kurz mit ein paar aussagekräftigen Worten und Fotos vorstellen, um damit um potentielle Kindsbesuche zu werben.
„Hallo, wir sind Familie Koch aus Remagen. Pensionierter Geschäftsführer und Lehrer-Mutter. Schuhe müssen drinnen bitte (!) ausgezogen werden. 1,90m Nordmanntanne. Sechs Kilo Gans mit Apfelfüllsel. Christbaumschmuck aus Naturprodukten. Holzlastige Dekoration. Hausbar. Echte Kerzen. Geschenke aus dem Bereich Technikgadgets und zeitgenössische Literatur im Gegenwert von zweihundert Euro pro Familienmitglied. Dies ist ein Foto unseres Hundes Oscar. Wir gehen zeitig ins Bett. Kinderzimmer ist mit Fernsehgerät ausgestattet. Gästetoilette und gemeinsames Frühstück.”
So ließe sich entspannt ein passendes Match finden, das garantiert zur Vermeidung von ökologisch ohnehin höchst fragwürdigen Mobilitätsentscheidungen beitragen könnte. Für zwei Tage mit dem Auto quer durch die Republik zu einem Date fahren, an dessen Ende man sich eh nur anschreit und alle zwei Stunden auf Klo muss, weil alles „so voll” ist? Oder gar die Bahn für einen dreistelligen Betrag nehmen und mit etwas Pech fünf Stunden in einem Zug eingepfercht sein, in dem kein einziger Waggon von Weihnachtsmarktbesuchern verschont bleibt? Geruch und Lautstärke!
Liegt es an den zu hohen Erwartungen, die von niemandem besser enttäuscht werden als von den Menschen, die man vorgeblich am besten zu kennen glaubt?
Neben der brutalistischen Anfahrt zu den Eltern gibt es noch unzählige weitere Hürden, die gnadenlos dafür sorgen, dass sich der erhoffte Entspannungszustand unglücklicherweise erst nach der Heimkehr in die eigenen vier Wände wieder einstellt. Selbstredend natürlich erst dann, wenn man die vernachlässigten Topfpflanzen weggeworfen, den Schimmel aus dem Kühlschrank entfernt und den Wasserschaden durch die vergessene, laufende Spülmaschine beseitigt hat. Doch woher kommt dieser irre Stress eigentlich? Liegt es an den zu hohen Erwartungen, die von niemandem besser enttäuscht werden als von den Menschen, die man vorgeblich am besten zu kennen glaubt? Wenn wir ehrlich sind, kennen wir uns ab dem Zeitpunkt des Auszugs kaum mehr und glauben dennoch, Lebensentscheidungen kommentieren und mitbestimmen zu müssen, die nur auf den Informationen beruhen, die wir ein Mal wöchentlich für zehn Minuten am Festnetz austauschen? Und dann wären dann da noch die alten Wunden der vergangenen Konflikte, die nirgendwo schmerz- und wirkungsvoller aufreißen als unter geschmückten Tannen bei einem aufheiternden Gläschen Hochprozentigem. War es nicht immer schon so?
Kein Braten ist jemals weggeschmissen worden, weil eine Person weniger kommt. Nur so zur Information.
Meine Theorie lautet: Eltern sind einfach nicht dafür geschaffen erwachsene Kinder zu haben. Das System bekommt irgendwo eine Schlagseite, die durch nichts ausgeglichen werden kann, außer durch eigene Enkel, die schlussendlich die Waage der Aufmerksamkeit wieder ins Gleichgewicht bringen. Hoffentlich! Wieso also nicht mal daheim bleiben? Muss ja keine Entscheidung für alle Ewigkeit sein. Denn nichts ist einfacher als das, zumindest wenn man ein seelen- und charakterloser Egoist ist (glaubt man), der nicht durch die bittstellenden Anrufe im Vorfeld schon weich gekocht wird. Kein Braten ist jemals weggeschmissen worden, weil eine Person weniger kommt. Nur so zur Information. Wer daheim bleibt, muss also zusehen, dass aus dem vermeintlichen Vorteil kein Nachteil wird. Profis empfehlen daher, rechtzeitig in die Planungsphase zu gehen. Absagen üben, ohne dabei gleichgültig zu wirken. Ein schönes Paket mit individuellen Geschenken für die Eltern zusammenstellen, das ohne große Worte zeigt, dass man sich Gedanken macht. Am Festtag mehrmals anrufen und vielleicht ein bisschen was Weihnachtliches auf der Ukulele vorspielen. Ja schade, dass man nicht kommt, sagen. Die Lüge vollendet das Gesamtwerk auf wundersame Art und Weise. Übung macht den Meister.
Laut pupsen und Lakritzeis essen, ohne gefragt zu werden ob man schwanger sei.
Auch wenn alles gelingt, am Ende sitzt man dann doch mutterseelenalleine in der eigenen Wohnung und muss die gewonnene Freiheit erstmal nutzen. Schade, dass keiner zum Streiten anwesend ist. Die Leere muss erstmal gefüllt werden. Hier ist Planung natürlich die halbe Miete. Eine schöne Netflix-Watchlist. Ein paar gute Restaurants, die auch über die Feiertage liefern. Dresscode Jogginghose. Statt Weihnachtsbraten endlich mal etwas Veganes kochen. Laut pupsen und Lakritzeis essen, ohne gefragt zu werden ob man schwanger sei. Das alles bleibt aus und man kann sich ein bisschen wie Kevin allein zu Haus fühlen. Allerdings ist man kein achtjähriger Junge mit Rentiermotivpullover, dessen größter Traum ein paar freie Stunden auf Pornhub und eine Käsepizza sind, sondern eine 30-jährige Person mit leichten Depressionen, und die Einbrecher, gegen die Kevin sich im Film verteidigen muss, kommen in unserem Fall meist von Innen. In Form von Schuldgefühlen. Am besten also gleich damit abfinden und daran denken, dass die Eltern bestimmt auch mal daheim geblieben sind. Nächstes Jahr kann man ja wieder hinfahren.