Sie gelten als die schönste Zeit des Jahres: die Feiertage im Dezember. Ist das wirklich so – oder wollen wir das nur glauben? In dieser Reihe erzählen Mütter und Töchter aus kleinen und großen Familien von Traditionen, Wünschen und Erwartungen – alle Jahre wieder.
Es ist Mitte November, als ich meine Mutter über das Wochenende besuche. Doch als sie die Wohnungstür aufschließt, muss ich mich ernsthaft fragen, ob wir nicht einen Zeitsprung gemacht haben – oder ob sie den Weihnachtsmann als Geisel festhält. Alles leuchtet und glitzert, schimmert und funkelt. Es ist gerade so, als hätten hundert Weihnachtswichtel sich in der Wohnung übergeben. Ein Wunder, dass die Katzen nicht gezwungen werden, kleine Rentiergeweihe zu tragen (aber ich bin mir sicher, dass sie es versucht hat). Ich muss schmunzeln, doch sage nichts. Es ist die Art meiner Mutter, ihre Liebe zu zeigen. Sie baut ein Nest für Ihre Kinder und bringt den Weihnachtszauber zurück, den man zuletzt in der dritten Klasse gespürt hat – kurz bevor man erfuhr, dass das Christkind gar nicht wirklich die Geschenke bringt und auch Weihnachten nicht vom Kapitalismus verschont bleibt.
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Weihnachten ist die Zeit des Jahres, in der ich mich am liebsten dreiteilen möchte. Einmal, um in die Heimat zu meinem Vater zu fahren, an Heiligabend im alten Kinderzimmer zu liegen und an die Decke starrend darüber zu reflektieren, wie schnell dieses Jahr doch wieder vergangen ist. Einmal, um zu Hause zu bleiben, mich auf der Couch einzurollen und nach drei Tassen Glühwein anzufangen, Weihnachtsklassiker mitzujaulen. Ein weiteres Mal, um Zeit mit meiner Mutter zu verbringen und ihre Hand zu halten. Die Weihnachtszeit ist nicht für jede*n die schönste Zeit des Jahres. Für zerrüttete Familien ist sie oft auch die einsamste.
Psychische Krankheiten haben keine Betriebsferien. Man kann sie nicht mit Lametta behängen und auch nicht anzünden wie eine Feuerzangenbowle. Man kann sie nicht einschließen in der Plätzchendose, geschweige denn schön verpackt unter den geschmückten Tannenbaum legen. Ihre dumpfen Schritte im Schnee klingen unheilvoll laut. Psychische Krankheiten kommen nicht durch den Schornstein, sie sind bereits in der betroffenen Person und fressen sich hungrig ihren Weg durch alle Glieder, jedes Organ und durch die Seele.
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Die Weihnachtszeit ist nicht für jede*n die schönste Zeit des Jahres. Für zerrüttete Familien ist sie oft auch die einsamste. Psychische Krankheiten haben keine Betriebsferien.
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Meine Mutter hat eine lange Vorgeschichte mit Depressionen – zu lange, um an diese Stelle ausschweifend auszuholen. Wir sahen gemeinsam Abgründe und mehr als einmal zerrte ich sie von der Klippe weg. Der leere Platz an der gedeckten Tafel neben mir erinnerte mich zu jung daran, dass wir alle zerbrechlich sind. Dass auch unsere Eltern nicht die starken Löwen und Zauberer sind, für die wir sie als Kinder gehalten haben. Dass irgendwann der Punkt kommt, an dem Kinder auf ihre Eltern aufpassen – und oft kommt dieser Punkt viel zu früh.
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Es ist 2009, der Abend vor Weihnachten und ich sitze in meinem Auto auf dem Krankenhausparkplatz und schluchze, bebe vor Angst und bete zu einem Gott, dem ich vor Jahren längst abgeschworen habe – so dachte ich zumindest. Ich weiß nicht, an wen ich mich sonst klammern kann. Vor meinen Augen tanzen Bilder aus der Notaufnahme, ein Mistelzweig unter fahlem Neonlicht, die gedämpften Weihnachtslieder aus dem Radio im Schwesternzimmer, der kräftige Händedruck der Ärztin und ihre harsche Frage nach den Namen der Medikamenten meiner Mutter. Im Augenwinkel sehe ich sie, angeschlossen an piepende und blinkende Maschinen, der Mund leicht offen und die Augen leer. Sie starrt durch mich hindurch. Ich bin der Geist der Weihnacht.
Rückblickend fühlt sich dieser Moment an, als wäre ich schlagartig erwachsen geworden. Ich kam mit flehendem Herzen und Resten von Weihnachtszauber im Haar und ging mit der Bürde des Wissens um die eigene Vergänglichkeit, um die meiner Eltern und eines jeden Menschen. Auch an Weihnachten. In dieser Nacht schlafe ich nicht, aus Angst, nicht da zu sein, wenn sie mich braucht.
Einige Tage später wird meine Mutter wieder entlassen. Ich hole sie ab und lasse ihre Hand den ganzen Weg von der Zimmertür zum Auto nicht los, wie könnte ich auch? Wir sagen nichts, denn für das, was passiert ist, gibt es noch keine Worte. Sie wirkt kleiner als sonst in ihrem Satin-Pyjama und dem langen Schal, in den ich sie eingewickelt habe.
„All I want for Christmas is you“, singt Mariah Carey, als ich den Wagen starte und plötzlich müssen wir beide lachen. Was für ein furchtbares Jahr. Aber wir haben es geschafft.