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Die Magie ist weg: Warum sich Weihnachten als Erwachsene seltsam anfühlt

Foto: Natalia Mantini
Sie gelten als die schönste Zeit des Jahres: die Feiertage im Dezember. Ist das wirklich so – oder wollen wir das nur glauben? In dieser Reihe erzählen Mütter und Töchter aus kleinen und großen Familien von Traditionen, Wünschen und Erwartungen – alle Jahre wieder.
Während ich am Flughafen in Berlin-Tegel festsitze und auf eine wetterverschuldete Umbuchung warte, geht mir eine Frage nicht aus dem Kopf: Wann ist diese Sache mit Weihnachten so kompliziert geworden? Seit meinem Umzug von Wien nach Berlin? Seit meinem 25. Geburtstag? Dem Ende des Studiums? Während ich die Schlagzeilen auf meinem Smartphone auf Wichtigkeit scanne, wird mir klar, dass vermutlich gar nicht Weihnachten an sich kompliziert geworden ist, sondern die Welt, in der wir uns bewegen – und damit auch die Prioritäten der Menschen, die das Fest regelmäßig gemeinsam feiern wollten.
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Bis vor wenigen Jahren haben wir es ausnahmslos geschafft, uns alle zumindest am 25. Dezember zu versammeln. Warum wohnen meine Verwandten heute alle in anderen Städten als ich? Zugegeben: ein bisschen war das schon immer so. Einige meiner slowakischen Verwandten haben sich noch vor dem Fall des eisernen Vorhangs auf die umliegenden Nachbarländer verteilt. Jetzt ist zum Dreiländerchaos Schweiz – Österreich – Slowakei neben Arbeitsmigration auch noch die Erwachsenen-Komponente dazugekommen: das i-Tüpfelchen der Unvereinbarkeit des Familienkalenders.
Als ich klein war, habe ich die gemeinsam verbrachten Feiertage als Selbstverständlichkeit wahrgenommen. Wenn mich Schulfreunde fragten, wo ich Weihnachten verbringe, war die Antwort: „In der Slowakei, wo sonst?“. Ich kannte es gar nicht anders. Durch das Organisationsgeschick meiner Mutter, meiner Tante und meiner Babka war es garantiert, dass wir uns zu elft treffen und nach der überbrückten mehrmonatigen Distanz im Hauseingang um den Hals fallen würden. Heimat war trotz der bis zu 1000 Kilometer auseinanderliegenden Wohnorte immer noch ein Punkt, der extern bestimmt wurde; ausgelagert, an einen beinahe künstlichen Ort, zu dem wir abseits dieser einen Straße und den umliegenden Krämerläden keinerlei Bezug hatten. Ein Haus in irgendeiner Straße also, das uns von Zeit zu Zeit ermöglichte, ein halbwegs normales Familienleben zu führen.

Für uns Kinder war das Haus der Großeltern ein Kompromisshaus, das vorrangig gebaut wurde, um Erinnerungen zu schenken.

Nicht in Wien und nicht in Zürich, dafür in der Heimat unserer Eltern: Bratislava – dem verschmähten, kleineren Bruder Wiens, mit seinen an Plattenbauten grenzenden Einkaufszentren und immer noch nicht überall entfernten Stacheldrähten. Für uns Kinder war das Haus der gemeinsamen Großeltern ein Kompromisshaus, das vorrangig gebaut wurde, um Erinnerungen zu schenken. Es war das Haus, in dem wir im Wohnzimmer stundenlang Zelte aus Bettdecken und Stühlen bauten, um uns darunter zu verstecken, kleine Tanzeinlagen zu den neuesten Bravo Hits einstudierten und damit bis zum Schlafengehen alle nervten. Das Haus, in dem wir russische Märchen sahen und erfundene Lieder auf Kassetten sangen. Es war unser Haus – zu diesem Zeitpunkt. Niemand konnte ahnen, dass sich das bald ändern würde.
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Irgendwann Ende der 00er-Jahre gab es erste Anzeichen des Verfalls. Mit jedem Zentimeter, dem wir unseren Eltern über den Kopf wuchsen, wurde es unwahrscheinlicher, dass wir alle zur gleichen Zeit im Kompromisshaus eintreffen würden. Florence-and-the-Machine-Konzerte hier, Matheprüfung da. Es gab Verpflichtungen von der anderen Familienseite und nicht zu unterschätzende Teenagergelüste. Der Teenager-Wille wollte das Weihnachtsessen bei den Eltern des Freundes in der einst so heiligen Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr durchsetzen und auch einmal alleine mit den Schulfreunden in den Snowboardurlaub fahren.
Natürlich wussten wir damals nicht, wie besonders die Zeit war und dass sie nie wieder kommen würde – weil das Dinge sind, die ältere Menschen sagen. Wir hatten keine Ahnung, was uns nach der Schule erwarten würde, die unser aller Leben auf den kleinsten gemeinsamen Nenner namens Ferien reduzierte und damit an gewisse Zeitfenster und Jahreszeiten band. Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Wir hatten keine Ahnung, wie sehr wir die Nähe jener Abende vermissen würden, an denen wir mit vollem Halušky-Bauch zu dritt aneinander gekuschelt auf der Couch einschliefen.
Während ich weiterhin in Wien wohnte, fing meine Cousine zwei Stunden von zu Hause entfernt ein arbeitsintensives Physikstudium an, das sie exakt zur Weihnachtszeit mit der schlimmsten Lernepisode des Semesters strafte. Meine Klausuren standen dagegen erst Ende des Monats an. Meine Mutter wechselte ihren Job und auch mein Onkel bekam nicht mehr zehn Tage am Stück Urlaub, wodurch es sich gelohnt hätte, überhaupt nach Bratislava zu fahren. Statt sich also auf die vier Tage rund um Weihnachten verlassen zu können, die für mich eine Institution familiären Zusammenhalts darstellten, eine nach Keksen und Fett duftende Periode ohne Anfang oder Ende, in der wir dem Alltag automatisch entflohen, galt es nun, abzuwarten und geduldig zu sein. Jedes Mal, wenn ich Anfang Dezember mit einem „Wir wissen es noch nicht“ vertröstet wurde, hatte ich weniger Lust, hinzufahren.
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Natürlich wussten wir damals nicht, wie besonders die Zeit war und dass sie nie wieder kommen würde.

Heute ist die Einfachheit dem vollen Terminkalender einer berufstätigen Mittzwanzigerin gewichen. Jeder Besuch ist mit Aufwand verbunden, den ich mir finanziell und zeitlich erlauben muss. Die Male, in denen ich meine Großeltern alleine besuchte, häuften sich – und sie fühlten sich wie ein Verrat aller Nichterschienenen an, den ich verteidigen musste.
Das Haus klang ohne unser natürliches Familiengeschrei grauenhaft leer. Fast so, als sei jemand unabsichtlich beim Versteckspielen gestorben. Es fehlte die Atmosphäre einer Mittelgroßfamilie, die sich nicht nur in Form von zu viel dreckigem Geschirr in der Spüle stapelte. Sie manifestierte sich auch in Events wie dem allweihnachtlichen Fernsehmarathon, in der mein Dedko das Programm strenger kontrollierte als so manche staatliche Regulierungsbehörde.
Eine Kulisse aus Gesprächsfetzen, Fernsehgeräuschen und schmatzenden Mündern versüßte jeden Feiertag. Erst nachdem wir uns zwei Stunden Karel Gott auf vollster Lautstärke gönnten, durften meine Cousine und ich ab 20:15 Uhr auch mal einen schlecht synchronisierten, kitschigen Hollywood-Film mit Matthew McConaughey, vorhersehbaren Pointen und schlechten Dialogen wählen. Zu Weihnachten machte mir all das, was mich sonst störte, nichts aus. Das Groteske war: Ich musste mich nicht einmal zusammenreißen, um einen schönen Abend zu haben. Ich trank das, was mir geboten wurde und schaute, was alle guckten. Ich beugte mich den kleindiktatorischen Familienstrukturen, die jedem eine Rolle zuschrieben, noch bevor er oder sie geboren war und fühlte mich glücklich wie sonst nur selten.
Inzwischen sind wir Kinder aus dem Kompromisshaus rausgewachsen. Wir haben es durchgespielt, mit seinem Wintergarten und den Kirschbäumen. Wie eine einvernehmliche Trennung ist der Prozess schleichend vonstatten gegangen, weil wir den Zustand, so wie er einst war, nicht mehr wiederherstellen konnten. Vergangenes Weihnachten war das Letzte, das wir in der altbekannten Konstellation feierten und schon damals spürten wir es kommen: dass jetzt – nach etwas mehr als einem Vierteljahrhundert zu elft – die Zeit gekommen war, endgültig abzureisen.
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Wir kommen noch, jedes Jahr, aber nicht immer gemeinsam, und nicht mehr so oft. Nach 25 Jahren in diesem Haus ist anderswo eine neue Ära angebrochen.

Ich habe lange gebraucht, noch um einiges länger als meine jüngeren Verwandten, um zu erkennen, dass es vorbei ist. Dass die Zeit der Mittelgroßfamilie, der klassischen Konstellation Großeltern, Eltern, Kinder, so wie wir sie von klein auf kannten, mit keinem vier Monate im Voraus geplanten Besuch, keinem Zug- oder Flugticket der Welt wiederkommen würde. Egal, wie oft ich frage. Nicht nur wir Kinder, auch unsere Großeltern sind nicht mehr dieselben. Selbst wenn wir sie in bester Verfassung im Gedächtnis behalten: Zu glauben, dass 25 Jahre einfach so an ihnen vorbeigehen würden, war ein genauso großer Irrtum wie anzunehmen, dass wir für immer 13 Jahre alt bleiben könnten.
Das Kompromisshaus hat Jahr für Jahr seinen Reiz verloren, weil die Betten zu klein und die Räume zu kalt wurden. Es war kein Ort mehr, an dem Kinderaugen vor dem Weihnachtsbaum glänzten, sondern ein Ort der Vergangenheit mit verstaubtem Porzellangeschirr in Glasvitrinen. Keiner hat Schuld. Wir kommen noch, jedes Jahr, aber nicht immer gemeinsam, und nicht mehr so oft. Nach 25 Jahren in diesem Haus ist anderswo eine neue Ära angebrochen.
Wir haben unsere gemeinsame Heimat verloren wie man die meisten Dinge im Leben verliert, die selbstverständlich scheinen: sehr, sehr langsam und genauso konstant. Im Wissen darüber, unfähig zu sein, etwas daran zu ändern.
Selbst wenn wir irgendwann jeder für sich wieder eine eigene kleine oder auch große Familie haben, in der die Rollen neu verteilt und eingenommen werden können: Ich glaube nicht, dass wir jemals wieder ein Haus finden werden, das die alte Lücke Heimat füllt.
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