Dieser Artikel erschien zuerst bei im gegenteil!
Heute besucht uns der 18-jährige angelboytommy in der Redaktion, denn er will mit mir über Gender Roles reden, oder besser gesagt, warum Gender Roles ihn richtig hart nerven. Als ich Tomis buffaloeske schwarze Plateau-Schuhe erblicke, frage ich ihn, ob die nicht unfassbar schwer sind. Er gibt lächelnd zu, dass die Schuhe zwar leichter seien, als sie aussähen – aber auch schrecklich unbequem. Auf meine Frage, warum er sie dann trage, antwortet Tomi mit einem Satz, von dem ich hoffe, er ist weniger wahr, als ich denke: „Wer anders sein will, muss leiden.“
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Im Prinzip stört mich am meisten, dass es eine Rollenverteilung gibt
Dieser Satz schwebt während des gesamten Interviews in meinem Kopf herum und ich versuche zumindest ansatzweise zu begreifen, wie schlimm Anderssein sich manchmal anfühlen kann. Tomi will mir heute beim Verständnis helfen.
Als ich Tomi die Frage stelle, wo genau sein persönliches Problem mit den Gender Roles anfängt, antwortet er bereits sehr bestimmt: „Zunächst einmal stört es mich, dass es diese krasse Rollenverteilung überhaupt geben muss. Und wenn man sich nicht so kleidet, wie es sich ‚gehört‘, sich als Mann schminkt oder auch als Frau in einem ‚Männerberuf‘ arbeiten will, bekommt man sofort zu spüren: ‚Du bist nicht normal‘. Das ereignet sich in Form sehr aufdringlicher Blicke oder unangebrachten Bemerkungen. Ich finde das unnötig und verletzend.“
In jedem Fall seien es meist negativ aufgeladene Reaktionen, die einem das Gefühl gäben, man entspräche nicht der gewünschten Norm. Darunter leiden viele Menschen, die sich eben nicht in eine Schublade stecken lassen möchten, sondern Schubladen auch öfter mal offen stehen lassen, um zwischen mehreren hin und her zu springen. So wie Tomi. Und warum auch nicht?
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Erst später merkte Tomi, dass er mit dem, was er lebt und gut findet, in irgendeiner Form aus einem vorgegebenen Raster fällt.
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Tomi ist 18 Jahre jung und hat sich immer losgelöst von den klassischen Genderrollen bewegt. Das sei schon im Kindergartenalter so gewesen. Er war als Junge immer kreativ, hatte viele Spielsachen aus allen möglichen Bereichen. Die Puppe lag sozusagen neben den „Jungs“-Spielsachen, für ihn war das eben völlig normal. Erst später merkte er, dass er mit dem, was er lebt und gut findet, in irgendeiner Form aus einem vorgegebenen Raster fällt.
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Sprich: Er interessierte sich genauso sehr für „Mädchenkram“ wie für Jungsangelegenheiten, fand die Mädchensachen oft sogar interessanter.
„Es wird ja schon gesellschaftlich von dir – je nachdem, mit welchem Geschlecht du zur Welt kommst – erwartet, dass du dich bestimmten ‚Klischees‘ anpasst. Typisch männlich, typisch weiblich. Das wird einfach so vorausgesetzt. Und wenn du das dann nicht erfüllen kannst oder willst, sind viele Menschen oft auch einfach überfordert. Aus Überforderung wird dann nicht selten leider Feindseligkeit.“
Lass die Menschen doch einfach sein dürfen, wie sie sein möchten
Familiär habe er da zum Glück nie etwas zu spüren bekommen. Da habe Tomi immer er selbst sein können. Das sei ein starker Faktor gewesen, der ihn heute dazu ermutige, seinen Stil auszuleben. Aber spätestens ab dem Moment, da er ein eigenes Modebewusstsein entwickelt hat und damit aufgefallen ist, kamen die ersten störenden Blicke und Kommentare. Nicht im Umfeld der Familie, aber eben von außen.
„Beleidigt worden bin ich auch deswegen schon. Jeden Tag, wenn ich mich ausgehfertig mache, muss ich damit rechnen, dass sich jemand an meinem Aussehen stört. Und das wiederum stört mich. Ich finde mich ganz normal, nur die Gesellschaft sieht das anders.“
Natürlich gebe es vermutlich in der großen Mehrheit Menschen, die mit ihrer „zugewiesenen“ Genderrolle im Reinen seien. Das sei ja auch schön und gut so, sagt Tomi. Allerdings sollte nicht nur die Mehrheit der Menschen sich mit dem, was sie tut, wohlfühlen dürfen – sondern jeder Mensch.
„Niemand sollte in eine Form gepresst werden, die nicht zu ihm passt.“ Daher wäre ihm ein liberalerer Umgang mit Genderrollen, eine offenere Haltung gegenüber Grauzonen grundsätzlich erst einmal wichtiger. Denn eine komplette Auflösung von Gender Roles sei wahrscheinlich erstens nicht möglich und zweitens auch nicht ganz richtig.
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Ich finde einfach, man sollte diese ganzen Gender-Aufteilungen nicht so verbissen und ernst sehen.
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„Ich finde einfach, man sollte diese ganzen Gender-Aufteilungen nicht so verbissen und ernst sehen. Lass eine Frau doch einen ‚typischen Männerberuf‘ wählen, wenn sie da Bock drauf hat. Oder Jungs mit Puppen spielen, Röcke tragen oder sich schminken, wenn sie das wollen. Das ist doch kein Weltuntergang. Es sollte normal sein, dass man für sich das von beiden Seiten rauspickt, was am besten zu einem selbst passt – ohne dafür beleidigt oder feindselig behandelt zu werden.“
Dazu bewege sich ja gerade auch viel, sagt Tomi weiterhin, das sei eine gute Entwicklung. Die Anerkennung eines dritten, diversen Geschlechts sei ein wichtiger und längst überfälliger Schritt gewesen. Recht hat er. Es müsse da aber dennoch viel passieren. Toleranz sei da einfach das A und O.
„Ich habe Glück gehabt, dass ich mir bewusst oder unbewusst schon recht früh ein Umfeld geschaffen habe, in dem ich ganz ich selbst sein konnte, losgelöst von den Gender Roles und für mich unpassenden Konventionen. Aber das haben eben nicht alle und vor allem in kleinen Städten und Dörfern ist das nach wie vor eine richtig schwierige Angelegenheit – da kennt man sowas halt nicht unbedingt – Diversität.“
Wann ist ein Mann ein Mann?
In der Gesellschaft würde vor allem viel zu sehr an klassischen Männlichkeitsidealen festgehalten – und das würde auch sehr auf Kleidung und Aussehen oder auch Hobbys reduziert. „Kann es nicht auch genauso gut ein Hinweis auf ‚Männlichkeit‘ sein, wenn man einfach das tut, was einem selbst gefällt? Wenn man das macht, was man machen möchte, ohne dabei immer im Blick haben zu müssen, dass das auch in die gesellschaftliche Genderaufteilung reinpasst?“
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Denn trotz seines extravaganten Modestils fühlt Tomi sich auch wie ein ganz normaler Junge. Er habe nun einmal einfach einen anderen Geschmack, was Mode, Auftreten und Interessen betrifft. Das sei für ihn nicht weniger normal als ein gleichaltriger Junge, der in seiner Freizeit an seinem Auto herumschraube. Warum nicht beides gehe, beides von der Gesellschaft akzeptiert werden könne, sei ihm persönlich ein Rätsel.
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Warum ist dann ein Mann, der mal einen Rock trägt, so anstößig für manche Leute? Es ist doch nur ein Stück Stoff.
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„Frauen tragen doch auch schon spätestens seit den späten Sechzigern Hosen. Warum ist dann ein Mann, der mal einen Rock trägt, so anstößig für manche Leute? Es ist doch nur ein Stück Stoff.“ Der einzige Unterschied zwischen dem einen und dem anderen Stück Stoff sei der, dass der Rock den Mann/Jungen vielleicht glücklicher macht als eine Hose. Wirkliche Männlichkeit habe für ihn ohnehin gar nichts mit Kleidung oder Schminke zu tun.
Deswegen hat Tomi sich gerade für ein Mode-Design-Studium eingeschrieben. Selbst in einer Zeit, in der die Modebranche nach wie vor hauptsächlich durch männliche Designer geprägt ist, ist das für ihn dennoch eine Art Ausbruch aus dem klassischen Männlichkeitsideal und eine Art Befreiungsschlag.
„Jetzt, wo ich tun kann, was ich möchte, fühle ich mich noch ein Stückchen mehr wie ich selbst. Ich habe mich nie komplett verstellt, aber in der Schule schon ein wenig gebremst. Die Modebranche ist gegenüber genderfluiden Personen viel toleranter. Das würde ich mir aber auch von anderen Bereichen wünschen. Da muss noch einiges mehr passieren in unserer Gesellschaft, damit nicht jeder, der auch nur einen Hauch vom konventionellen Weg abweicht, Ausgrenzung erfahren muss.
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Das Gegenteil von Sex
Zum Schluss unseres Gesprächs frage ich Tomi ganz plakativ: „Haben Gender Roles deiner Meinung nach etwas mit sexueller Orientierung zu tun?“ Er verneint das. „Nur weil ein Mann sich schminkt oder einen eher femininen Look wählt, ist er nicht automatisch homosexuell. Genauso wenig muss ein besonders maskulin anmutender Mann unbedingt hetero sein und eine Frau mit kurzen Haaren ist ja auch nicht zwangsläufig lesbisch. Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Auch das verstehen viele Menschen nicht.“
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Nur weil ein Mann sich schminkt oder einen eher femininen Look wählt, ist er nicht automatisch homosexuell.
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Ich gebe zu, die Antwort auf meine letzte Frage ist mir natürlich nicht neu, aber ich fand es wichtig, diese Frage trotzdem zu stellen. Alleine um Tomis Antwort hier abzutippen. Damit Leute, die das ganze „Gender-Gedöns“ weniger gut durchblicken als Tomi, es schwarz auf weiß haben.
Ich jedenfalls habe das Gespräch mit Tomi sehr genossen. Für mich als klassische weiße Cis-Gender-Frau ist es im normalen Alltag nicht unbedingt präsent, wie sehr andere Menschen aufgrund der Gender-Zuschreibung, die die Gesellschaft ihnen auferlegt, leiden – und dann nochmal deswegen leiden, weil sie sich der Mehrheit nicht anpassen wollen und können. Das sollte so nicht sein.
Wir bei im gegenteil sind der festen Überzeugung, dass jeder Mensch so sein können sollte, wie er sich am wohlsten fühlt. Mit oder ohne Schminke, mit oder ohne Haare (an den Beinen/Achseln/Zähnen) – aber 100 Prozent gleichberechtigter Mensch. Not Girl, not Boy – Human!
Mehr von angelboytommy findest du auf seinem Instagram-Kanal.
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