Ziemlich genau eine Woche nach Beginn des Lockdowns schaltete ich meinen Laptop ein und stieg zusammen mit ihm in mein Bett für meine wöchentliche Therapiesitzung. Es war das zweite Mal, dass die Session via Zoom stattfand. Ich hatte mich also schon ein wenig daran gewöhnt, meine innersten Gefühle und Gedanken mit meinem Bildschirm zu teilen, statt mit einem echten Menschen, während mich die kleine digitale Uhr am rechten oberen Bildrand daran erinnert, wie viel Zeit schon vergangen ist. In jedem zweiten Artikel, Podcast und Insta-Post wurde ich daran erinnert – nein: eindrücklich davor gewarnt –, nicht vom Bett aus zu arbeiten, weil das nicht gut für die Psyche ist. Aber niemand hatte gesagt, dass die Videotelefonie ebenso verboten war.
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Als die Sitzung vorbei war, war es draußen schon dunkel. Nachdem ich einmal zu oft „Tschüss!“ gesagt hatte, klickte ich auf “Meeting verlassen“ und kroch unter meine Bettdecke. Meine Stirn fühlte sich super verspannt an und ich wusste, es war nur eine Frage der Zeit, bis die Kopfschmerzen einsetzen würden. Dann klingelte mein Handy. „Ich wäre dann soweit!“, hatte mir eine Freundin geschrieben. Shit. Ich hatte unser Houseparty-Date vergessen. Seit wir nicht mehr wie sonst aller zwei Wochen gemeinsam Burger essen gehen konnten, trafen wir uns online. Normalerweise blieben wir so lange im Restaurant sitzen und quatschten, bis man uns praktisch raustragen musste. Aber eine Stunde nachdem wir unseren Video-Call begonnen hatten, befand ich mich bereits in der Horizontalen. Meine Kontaktlinsen fühlten sich an wie Rosinen und meine Schläfen pulsierten vor Schmerzen. Ich legte auf, machte das Licht aus und schlief ganze 12 Stunden.
Die Frage ist, warum hat mich dieses einstündige Gespräch mit einer meiner besten Freundinnen so fertig gemacht? Schließlich bin ich doch sonst diejenige, die nach fünf Stunden immer noch nicht genug hat und vorschlägt, weiterzuziehen!
Wie es aussieht leide ich am sogenannten Zoom Fatigue. Das ist ein spezielles Ermüdungssyndrom, das durch zu viele (oder auch zu langwierige) berufliche und private digitale Interaktionen entstehen kann. Was irgendwie ironisch ist, denn die Expert*innen ermutigen uns ja dazu, Kontakt zu halten, damit wir nicht vereinsamen. Aber anscheinend ist es auch nicht gut, wenn wir zu viele Video-Calls führen…
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Bernie Hogan vom Internet Institute der Oxford University geht es ähnlich wie mir. Als ich ihm von meinem Abend berichtete, antwortete er: „Ich war am Wochenende auf einem Zoom-Rave. Es hat Spaß gemacht, aber es war irgendwie auch echt anstrengend“. Bernie meint, Video-Calls sind eine besondere Herausforderung, weil du dich nicht nur gut darauf vorbereiten musst, sondern auch währenddessen einiges beachten musst. Sollst du dich beim Videotelefonieren an den Esstisch oder aufs Sofa setzen? Wo ist das Licht am besten? Ist es in Ordnung, wenn man im Hintergrund Familienfotos an der Wand siehst? Sollst du dich vor dem Call extra umziehen und schminken? Was, wenn dein Kind mitten in einem wichtigen Business-Meeting ins Zimmer gerannt kommt? Oder der Paketbote klingelt? Oder dich deine Mutter anruft? Wie reagierst du dann? Sowohl für private als auch für berufliche Video-Calls ergeben sich ganz neue Herausforderungen. Und weil die ganze Situation immer noch relativ neu für uns ist, gibt es auch noch keine klaren (gesellschaftlichen) Regeln dafür. Im Vergleich zu echten Treffen musst du jetzt viel mehr Entscheidungen treffen und das kann einen ganz schön unter Druck setzen und stressen. Dinge, die früher für uns entschieden wurden – also zum Beispiel in welchem Setting ein Meeting stattfindet, wie der Konferenzraum eingerichtet und beleuchtet ist, welche Getränke es gibt etc. – liegen jetzt in unserer Hand. Also machen wir uns vor und während des Video-Calls viele Gedanken. Aber wir müssen ja auch zuhören und aktiv teilnehmen. Das alles gleichzeitig zu tun, ist natürlich ermüdend, so Hogan.
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Natalie ist 27 Jahre alt und arbeitet als Assistant Manager bei einer Touristenattraktion. Sie versteht sich sehr gut ihren Kolleg*innen und hat zu Beginn der Selbst-Isolation per Zoom-Call zusammen mit ihnen Mittag gegessen. „In den ersten beiden Wochen haben wir das praktisch jeden Tag gemacht“, erzählt sie. „Aber dann wurde es mit der Zeit immer seltener, weil es allen irgendwie schwerfiel.“ Obwohl sie und ihr Team es gewöhnt sind, gemeinsam 14-Stunden-Schichten zu stemmen, lief es bei den Calls nicht so richtig rund. Die Unterhaltung stockte ständig und dann gibt es wieder Zeiten, in denen alle gleichzeitig sprachen, so Natalie.
Kein Wunder, denn gefühlt bricht aller fünf Minuten die Verbindung ab oder das Bild ist so verpixelt, dass du die Gesichter kaum erkennst – geschweige denn ihren Ausdruck. Woher sollst du also wissen, wann du reden kannst und wann besser nicht? Und weil du praktisch permanent versuchst, zwischen den Zeilen zu lesen oder die wenigen Informationen, die dir zur Verfügung stehen, zu interpretieren, ist dein Gehirn die ganze Zeit hart am Arbeiten. Und das ist natürlich extrem ermüdend. Durch die räumliche Distanz ist auch die Körpersprache eingeschränkt. Oft sehen wir nur Kopf, Hals und Schultern, aber was macht dein Gegenüber mit den Armen? Sind sie verschränkt, weil er oder sie genervt oder angespannt ist? Und die Hände? Sind sie verschwitzt, weil er oder sie nervös ist? Wackelt dein*e Gesprächspartner*in vor lauter Unruhe vielleicht mit den Beinen? All diese Dinge bekommen wir nicht mit und so fehlen uns wichtige Infos, um die Situation richtig einschätzen zu können.
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Die Intensität der Gespräche hat bei der 22-jährigen Charlotte dafür gesorgt, Video-Calls wann immer möglich zu vermeiden – und das, obwohl sie vor Corona ein sehr geselliger Typ war und sich fast jeden Abend mit Leuten traf. „Zu Beginn der Selbst-Isolation habe ich täglich fünf oder sechs Leute angerufen. Jetzt spreche ich maximal mit einer Person“, erzählt sie und gesteht, dass es manchmal auch „sehr deprimierend ist, jemanden zu sehen, aber nicht wirklich bei ihm oder ihr sein zu können“. Und auch die Gesprächsthemen sind oft alles andere als aufmunternd, denn spätestens nach ein paar Minuten kommen wir oft auf Corona zurück. Was logisch ist, denn die Pandemie spielt nun mal eine große Rolle in unserem Leben. Aber diese Unterhaltungen können natürlich auch Ängste triggern – und die sorgen wiederum für Stress.
Bei Charlotte kommt noch hinzu, dass sie sich bei Calls immer extrem ihrer Selbst bewusst ist – sprich: Sie macht sich Gedanken über ihr Aussehen, ihre Gesten und ihre Mimik. All diese Dinge waren im echten Leben nie wirklich ein Thema, denn sie hat sich beim Gespräch mit anderen ja nicht ständig selbst gesehen. Und irgendwie hat sie sich vor der Pandemie auch nie wirklich darum geschert, ob sie übermüdet oder fertig aussah, wenn sie mit ihren Kolleg*innen gesprochen hat. Jetzt aber schon.
Tatsächlich geht es vielen Menschen so wie ihr, denn erstens kannst du dich die ganze Zeit selbst in einem kleinen Fenster sehen und zweitens weißt du nie genau, ob dich dein Gegenüber gerade anschaut oder nicht. „Zwar würde ich auch bei persönlichen Interaktionen immer davon ausgehen, dass du mich anschaust, aber ich hätte nicht das Gefühl, das du mich pausenlos anstarrst“, sagt Roger McIntyre, ein Professor der Psychiatrie an der University of Toronto. Logisch, denn wenn du zum Beispiel eine Freundin in einem Café triffst, werdet ihr beide auch mal in der Gegend herumschauen – zum Kellner, zum Nachbartisch oder auf die Getränkekarte. „Bei der Videotelefonie hast du dagegen permanent das Gefühl, alle schauen dich an – aber du weißt nie, wer dich wirklich anschaut.“ Und deswegen driften deine Gedanken wahrscheinlich immer mal wieder ab und du fragst dich Sachen wie Sieht mein Kinn komisch aus, wenn ich so dasitze? oder Sehen meine Haare irgendwie kraftlos und ungesund aus?
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Was du tun kannst, wenn du an Zoom Fatigue leidest
Als Erstes solltest du versuchen, deinen Kalender etwas auszudünnen: Plane weniger Video-Calls ein und achte darauf, dass sie jeweils maximal 30 Minuten andauern, sagt Vaile Wright von der American Psychological Association. Diese kurzen Gespräche sind super, um mit Freund*innen, Kolleg*innen und Familienmitgliedern in Kontakt zu bleiben und dich gleichzeitig nicht kaputt zu machen. Aber wie beendet man ein Gespräch eigentlich (vorzeitig), ohne dabei jemanden zu verletzen?
Ich würde dir raten, einfach ehrlich zu sein und zu sagen, wenn du müde und erschöpft bist und eine Zoom-Pause brauchst. Und wenn es dir wirklich unangenehm ist, kannst du laut Wright ja noch ein Kompliment hinterherschicken – sowas wie „Hat Spaß gemacht mit dir zu reden“ oder „Schön, dich mal wieder gesehen zu haben“. Wenn du willst, kannst du auch direkt ein neues Date vorschlagen und offen kommunizieren, dass du lieber häufiger und dafür kürzer telefonieren willst.
Eine andere Möglichkeit, der Zoom Fatigue zu entgehen und trotzdem Kontakt mit deinen Lieben zu halten ist, beim Video-Call nicht nur zu reden, sondern gemeinsam einer Aktivität nachzugehen, rät Wright. Du kannst zum Beispiel virtuell mit Freund*innen kochen, einen Film schauen (Hallo, Netflix-Party) oder etwas spielen. Das senkt den Druck, eine Konversation führen zu müssen und lenkt den Fokus von deinem Gesicht weg. Außerdem habt ihr so gleich einen natürlichen Endpunkt: Wenn der Film zu Ende ist, legt ihr auf. Und der Call hat – ähnlich wie ein virtuelles Arbeitsmeeting – einen Sinn und ist dadurch “ertragreicher“. Ihr schwimmt dann nicht so und seid auch nicht permanent auf der Suche nach Gesprächsthemen.
Last, but not least ist es auch vollkommen okay, mal nicht videotelefonieren zu wollen! Niemand wird es dir übelnehmen, wenn du deine Kamera mal nicht anschaltest oder einen Avatar für dich sprechen lässt. Oder aber du fragst direkt, ob ihr das Gespräch komplett verschieben könnt und schlägst aktiv einen neuen Termin vor.
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