Das Streben nach Glück ist ein fester Bestandteil unseres modernen Lebens – vor allem, seit die Pandemie viele von uns dazu gezwungen hat, mal genau darüber nachzudenken, was uns wirklich wichtig ist. Wohingegen uns früher ein ziemlich linearer Weg zum Glück verkauft wurde – Such dir deinen Traumjob! Heirate! Setz Kinder in die Welt! –, stehen wir heute vor schier unendlichen Optionen. Und obwohl es natürlich prinzipiell toll ist, die Wahl zu haben, war der Druck, uns ein zufriedenstellendes Leben zu erschaffen, nie größer.
Auf psychologischer und evolutionärer Ebene wirft sich dabei aber eine Frage auf: Was, wenn wir in Wahrheit nie zufrieden bleiben sollen? Wie der Autor und Dozent Nir Eyal in Psychology Today schreibt, ist Unzufriedenheit nicht bloß völlig normal, sondern unvermeidbar – und sogar dringend nötig für unser allgemeines Wohlbefinden. Wenn wir uns also unser eigenes Glück anschauen, sollten wir dabei weniger hinterfragen, was uns eigentlich unglücklich macht, und stattdessen eher überlegen, warum unsere Zufriedenheit immer nur so kurz anhält.
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Wie Eyal betont, ist langwierige Zufriedenheit für uns als Spezies gar nicht gut, weil sie uns davon abhalten würde, uns selbst zu verbessern oder wachsam zu bleiben. Genau deswegen haben wir die natürliche Veranlagung dazu, uns eigene Probleme zu suchen. Laut Eyal tragen wir selbst vor allem durch vier verschiedene Dinge dazu bei, dass unsere Zufriedenheit nur kurz währt:
Langeweile
Bei einer Studie von 2014 aus dem Magazin Science wurden Teilnehmer:innen aufgefordert, 15 Minuten am Stück allein in einem Zimmer zu sitzen und nachzudenken. In dem ansonsten leeren Raum stand ein Gerät, mit dem sich die Teilnehmer:innen selbst schwache elektrische Schläge verpassen könnten. Als sie vorher danach gefragt wurden, gaben alle an, sie würden auch Geld dazu zahlen, einen Schock zu vermeiden. Und trotzdem: Als sie allein in dem Zimmer saßen und nichts anderes zu tun hatten, schockten sich 67 Prozent der Männer und 25 Prozent der Frauen selbst – mehrmals. Diese Studie demonstriert laut Eyal, dass wir Menschen nicht so gern allein mit unseren Gedanken sind und so einiges tun würden, um ihnen aus dem Weg zu gehen – selbst, wenn wir uns damit wortwörtlich selbst Schaden zufügen.
Der Haken an Zufriedenheit ist nämlich, dass sie ziemlich langweilig sein kann. Überleg einfach mal, was du lieber schauen würdest: Eine Reality-Show über freundliche Menschen, die sich alle super verstehen und nie miteinander streiten? Oder pures Drama à la Netflix’ Love Is Blind (Liebe macht blind)?
Weil wir denkende Wesen sind, versuchen wir instinktiv, unsere eigene Situation zu verbessern. Wenn wir also das Gefühl haben, auf der Stelle zu treten, setzt irgendwann Unruhe ein und überzeugt uns davon, wir bräuchten Stimulation – die sprichwörtlichen Elektroschocks, durch die wir uns lebendiger fühlen.
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Dabei ist natürlich nicht immer gesund, sich dauernd neue Stimulation zu wünschen. Vielleicht sollten wir Langeweile daher nicht immer in so einem negativen Licht betrachten, denn womöglich ist sie bloß ein Anzeichen dafür, dass es uns ansonsten eigentlich ziemlich gut geht.
Negativitätsbias
Wohingegen der „Positivitätsbias“ die Überzeugung ist, die Zukunft würde definitiv besser als die Gegenwart, beschreibt der Negativitätsbias das Phänomen, bei dem negative Erfahrungen in unseren Köpfen mehr Raum einnehmen und mehr Aufmerksamkeit bekommen als neutrale oder sogar positive Erlebnisse.
„Forschende glauben außerdem, dass es uns tendenziell leichter fällt, uns an schlechte Erfahrungen zu erinnern, als an gute“, schreibt Eyal. „Studien haben ergeben, dass sich Menschen eher an unglückliche Momente in ihrer Kindheit erinnern können, selbst wenn sie ihre Kindheit prinzipiell als schön empfinden.“
Dabei ist es aber auch ganz natürlich, mehr durch Schwierigkeiten als durch schöne Erlebnisse beeinflusst zu werden. Als Bewohner:innen einer unsicheren Welt ist das unsere Art, uns auf potenzielle Bedrohungen einzustellen. „Gute Dinge sind nett, aber schlechte Dinge können dich töten“, schreibt Eyal. Deswegen erinnerst du dich vermutlich auch stärker an Erfahrungen wie Ablehnungen oder Konflikte als an schöne Erlebnisse.
Selbstverständlich tun negative Erfahrungen durch dieses Wissen nicht weniger weh. Zu verstehen, dass dieser Schmerz aber eine ganz natürliche Reaktion ist, kann dabei helfen, den Druck daraus zu nehmen.
Grübeln
Wenn du nachts von negativen Gedanken über längst Vergangenes oder noch Bevorstehendes wachgehalten wirst, bist du damit nicht allein. Diese Grübeleien können zu einer wahren Besessenheit heranwachsen – und dieses Gefühl kennen die meisten von uns. Dabei ist das total normal. Problematisch wird es erst, wenn wir all unsere Energie in die Selbstkritik stecken, uns mit anderen vergleichen oder unsere Leben daran messen, was uns fehlt.
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Womöglich kannst du dich nicht selbst davon abhalten, darüber nachzudenken, was du in der Vergangenheit hättest (besser) machen sollen. Versuche aber, diese unschönen Erfahrungen als Lektion, nicht als persönliches Versagen zu betrachten: etwas, woran du wachsen und woraus du lernen kannst.
Und wenn du selbst zum Grübeln neigst, kannst du diese negativen Gedanken ein bisschen produktiver nutzen, indem du dir selbst „Anti-Ziele“ definierst: Überlege dir, was du willst, indem du festlegst, was du nicht willst – anstatt dich dafür fertig zu machen, was du nicht hast.
Hedonistische Tretmühle
Der Begriff, der in den 1970ern von den Psychologen Philip Brickman und Donald T. Campbell geprägt wurde, beschreibt die menschlich Tendenz, trotz starker positiver oder negativer Erfahrungen zu einem relativ stabilen Zufriedenheitspegel zurückzukehren. Laut dieser Theorie folgen unsere Wünsche immer demselben Kreislauf aus Anstreben, Erringen und dann mehr Wünschen. In anderen Worten: Wir sind davon überzeugt, manche Ziele oder Meilensteine würden uns glücklich machen – obwohl wir, wenn wir sie dann erreichen, nur wieder neue Ziele ins Auge fassen. Es ist ein ewiger Marathon.
Obwohl es natürlich ein ziemlich bedrückender Gedanke sein kann, keines unserer Ziele könne uns jemals wirklich glücklich machen, geht es darum gar nicht wirklich. Ziele sind nichts Schlechtes; sie verleihen uns Ehrgeiz und treiben uns an. Was aber nicht hilft, ist, dich auf eine Errungenschaft zu konzentrieren, weil sie dir angeblich lebenslanges Glück beschert. Schließlich wird es immer etwas Neues geben, worauf wir hinarbeiten können. Die richtige Perspektive ist entscheidend: Während wir versuchen, irgendein Ziel zu erreichen, ergeben sich nämlich links und rechts weitere Ziele.
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Eyals Message ist klar und positiv: Unzufriedenheit ist kein Versagen. Das Leben muss kein endloser Staffellauf aus Errungenschaften sein, um lebenswert und schön zu sein, sondern sollte daran gemessen werden, wie sehr wir unseren Alltag genießen – ganz egal, wie weit entfernt deine Ziele auch gerade zu sein scheinen.
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