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Warum wir das klassische Vorstellungsgespräch radikal überdenken sollten

Das klassische Vorstellungsgespräch entstand im Amerika der 1920er Jahre – ein weiterer Geistesblitz von Thomas Edison. Ein Jahrhundert später hat das Verfahren einen weiten Weg zurückgelegt, sich aber nicht allzu sehr verändert.
Berichten zufolge bestand Edisons Konzept aus einem Eignungstest, der heutigen Vorstellungsgesprächen ähnelte, in denen Fragen wie „Auf welche berufliche Leistung sind Sie besonders stolze?“ und „Wie würden Sie dieses Produkt pitchen“ erwartet werden können.
Offenbar ließ Edison seine Kandidat:innen auch vor ihm Suppe essen. „Der berühmte Erfinder wollte sehen, ob die Bewerber:innen Salz und Pfeffer hinzufügen würden, bevor sie die Mahlzeit kosteten, oder ob sie warten würden, bis sie sie probiert hatten, bevor sie mit dem Würzen fortfuhren“, schreibt der Historiker Andrew Martin. „Edison lehnte die voreiligen ‚Würzer:innen‘ sofort ab, da er keine Mitarbeiter:innen wollte, die sich auf Vermutungen verließen.“ Da ich meine Speisen immer würze, bevor ich sie koste, hätte ich mich damals mit diesem Verhalten sofort disqualifiziert.
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Was in den 1920er Jahren funktionierte – große Überraschung –, funktioniert in den 2020er Jahren für gewöhnlich nicht mehr. Die 5-Tage-Woche wurde ebenfalls in den 1920er Jahren in Amerika bei der Ford Motor Company eingeführt. In Ländern wie Island und Spanien wurden bereits Arbeitsmodelle entwickelt, die eine 4-Tage-Woche ermöglichen. Auch in Deutschland haben bereits erste Firmen damit begonnen, dasselbe zu tun. Durch die Corona-bedingte Home-Office-Zeit sind zahlreiche Unternehmen nun digital gut aufgestellt, was ihnen auch dabei zugutekommen könnte, eine 4-Tage Woche zu etablieren. Auch die Lage im Büro erfährt eine längst überfällige Überarbeitung, denn Unternehmen überlegen, wie sie Arbeit flexibler machen können. Warum sollten wir dann das klassische Vorstellungsgespräch nicht auch auf den Prüfstand stellen? An seinem 100. Geburtstag sollten wir diese allgegenwärtige Methode hinterfragen – zusammen mit ihren impliziten Vorurteilen, Machtungleichgewichten und letztlich ihrer Effektivität.
Seit Edisons Zeit gab es technologische Fortschritte – von Vorstellungsgesprächen am Telefon Mitte des 20. Jahrhunderts über Online-Selektion-Tools in den 1990er-Jahren und der Einführung von LinkedIn im Jahr 2003 bis hin zum unvermeidlichen Anstieg von Bewerbungsgesprächen über Zoom. Trotzdem bleibt die Dynamik zwischen der Person, die die Fragen stellt und dem:der Befragten, der:die sich bemüht, selbstbewusst rüberzukommen, ohne dabei sein:ihr Glas Wasser umzustoßen, bestehen. Aber es hat sich auch gezeigt, dass dieses Machtgefälle viel Raum für Verbesserung lässt.
„Wir wissen, dass Vorstellungsgespräche allein nicht wirklich genug darüber aussagen, wie die Leistung von Bewerber:innen aussehen wird, sobald sie den Job haben“, erklärt Gemma Dale, Dozentin in den Bereichen HR und Business an der Liverpool John Moores University, gegenüber R29. „Sie sind subjektiv und wir bekommen nur einen kleinen Teil davon, was Kandidat:innen mitbringen, zu sehen. Bei vielen der eher klassischen Bewerbungsgespräche ist es außerdem einfach, Antworten im Vorhinein zu üben und auswendig zu lernen, anstatt sich auf ein echtes Kennenlernen und einen Dialog einzulassen.“
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Unternehmensaktivistin Belinda Parmar OBE stimmt dem zu. „Bei Vorstellungsgesprächen spielt Selbstsicherheit eine wichtigere Rolle als Kompetenz“, sagt sie gegenüber R29. Dadurch sind viele Menschen sofort im Nachteil – wie z.B. introvertierte Personen. Anna* kann dazu aus Erfahrung sprechen: „Ich bin ein sehr schüchterner Mensch. Zum Glück hat meine Arbeit nicht wirklich mit anderen Menschen zu tun. Deshalb sind Vorstellungsgespräche tatsächlich der einzige Moment, in dem meine Schüchternheit ein Problem darstellt. Ich hatte in der Vergangenheit schon einige Bewerbungsgespräche, bei denen ich wusste, dass ich sie vermasselt hatte, weil ich mich einfach nicht so zeigen konnte, wie ich es wollte: Meine Handflächen waren verschwitzt und ich versprach mich ständig aus Nervosität – ein totaler Albtraum.“ Auch wenn du perfekt für die Stelle bist, kann das seltsame Gefühl, das wir alle aus Vorstellungsgesprächen kennen, selbst die souveränste Person ins Schwitzen bringen. Diejenigen, denen es gelingt, einen kühlen Kopf zu bewahren, lügen oft in Bezug auf ihre Qualifikation oder ihre Eignung, was anscheinend 81 Prozent von uns in solchen Situationen tun.
Vorstellungsgespräche sind außerdem sehr zeitintensiv. Das ist vor allem dann ein Problem, wenn man den Job am Ende nicht bekommt. Außerdem können sie kostspielig sein. Kosten, die im Laufe des Bewerbungsprozesses entstehen, sind ein Thema, das von Arbeitgeber:innen oft diskutiert wird. Vorstellungsgespräche stellen aber auch eine finanzielle Belastung für Arbeitsuchende da – und können für manche in bestimmten Fällen sogar unerschwinglich sein. Immerhin sind manchmal Reisekosten, ein neues Outfit und gelegentlich auch eine Unterkunft zu bezahlen. Nur wenige Arbeitgeber:innen bieten finanzielle Unterstützung für die Kosten an, die bei Vorstellungsgesprächen anfallen, und wenn, dann oft auch nur dann, wenn der:die Bewerber:in zum Schluss angestellt wird (In einem kürzlich erschienenen Artikel von R29 gingen wir der Frage nach, ob wir für das Erledige von zeitraubenden Aufgaben während des Bewerbungsprozesses bezahlt werden sollten. Die Antwort lautet: ja.)
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Bei vielen Vorstellungsgesprächen sind Kandidat:innen der Laune der Befrager:innen ausgeliefert, und natürlich sind einige davon besser im Fragenstellen als andere. (Da fällt mir die Geschichte eines Arbeitssuchenden ein, der bei einem Vorstellungsgespräch dazu aufgefordert wurde, zu tanzen). Aber gut durchdachte und geführte Bewerbungsgespräche können sehr befähigend sein. Tamara Toothill ist Senior Content Executive bei Sanderson, eine Rolle, für die sie sich Mitte 2021 bewarb. „Alle meine bisherigen Vorstellungsgespräche waren sehr positive Erfahrungen. Ich weiß aber, dass das alles andere als gang und gäbe ist“, erzählt sie R29. „Ich erhielt immer alle Informationen zum Vorstellungsgespräch im Voraus, sodass ich mich gut vorbereiten konnte. Am Ende der Unterhaltung wurde mir auch immer die Gelegenheit gegeben, alle meine Fragen zu stellen.“
Schwierige Fragen während eines Vorstellungsgesprächs zu stellen, kann sich entmutigend anfühlen, wenn du gerade dabei bist, dich als begeisterter Teamplayer darzustellen. Du solltest aber auf jeden Fall alles fragen können, was du wissen willst, um sicherzustellen, dass die Stelle auch tatsächlich gut zu dir passt. Tamara betont, wie wichtig es ist, die Gelegenheit zu haben, Fragen zu stellen und Antworten zu all deinen Fragen zu bekommen. „Bei einem Vorstellungsgespräch stellen Arbeitgeber:innen den Großteil aller Fragen. Solch eine Unterhaltung sollte aber als ein Dialog gesehen werden, in dem Bewerber:innen genauso viel Zeit/genauso viele Gelegenheiten haben sollten, Fragen zu stellen, die ihnen auf der Zunge brennen.“ Belinda zufolge gibt es 2022 vor allem Fragen rund um hybrides Arbeiten und die Unternehmenskultur vonseiten der Arbeitssuchenden. „Heutzutage wollen sich Kandidat:innen der Generation Z wertgeschätzt, sichtbar und umsorgt fühlen. Sie wollen gehört werden“, sagt sie. „Jüngere Generationen betreten die Arbeitswelt mit der Einstellung, dass sie sich nicht mit dem abfinden werden, was sich andere bisher gefallen haben lassen. Wenn sie sich einen Monat freinehmen wollen, dann tun sie das auch. Wenn sie etwas stört, dann teilen sie das ihren Vorgesetzten auch mit. Ich denke, dass das eine wirklich positive Veränderung darstellt.“
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Früher hatten Befrager:innen – mit dem Versprechen auf ein Gehalt und Erwerbstätigkeit – das Sagen. Da sich der Arbeitsmarkt aber immer mehr zugunsten der Arbeitssuchenden verändert, ist das jetzt nicht mehr immer unbedingt der Fall. „Der Arbeitsmarkt beruht derzeit besonders stark auf Wettbewerb. Deshalb müssen Unternehmen innovativ sein, wenn es darum geht, die besten Mitarbeiter:innen an Land zu ziehen“, sagt Charlotte Davies, Karriereexpertin bei LinkedIn. „Es gibt z.B. Firmen, die es bevorzugen, Kandidat:innen in einem weniger formellen Setting kennenzulernen, wie bei z.B. einem Bowling-Abend, an dem Arbeitssuchende teilnehmen und die Abteilungsleiter:innen treffen können, um sich über die Stellenangebote und die Unternehmenskultur zu unterhalten. Ein Vorstellungsgespräch in einer Bowlingbahn… was für eine tolle Idee!“
Das mag sich für manche wie eine noch schlechtere Lösung anhören, aber zumindest wird hier offensichtlich versucht, das Machtgefälle auszugleichen, das wir aus der traditionellen Struktur zwischen Befrager:innen und Befragten kennen. Es gibt aber auch noch andere Alternativen. Virtuelle Bewerbungsgespräche sind bereits groß im Kommen. Berichten zufolge nutzt PwC bereits einen „Virtual Park“, um Veranstaltungen für Hochschulabsolvent:innen zu veranstalten, die Mitarbeiter:innen aus der ganzen Welt „ohne geografische Barriere“ anziehen sollen (Voraussetzung: Du besitzt ein funktionierendes VR-Headset). „In persönlichen Gesprächen mit Bewerber:innen meinten diese, dass sie sich im Virtual Park wohler fühlen, da es sich um neutrales digitales Terrain handelt und sie sich durch einen digitalen Avatar präsentieren können, den sie nach ihren Wünschen gestalten können“, erklärt Jeremy Dalton, Leiter der erweiterten Realität (XR) bei PwC UK, in HR Magazine. Nicht alle, räumt er ein, war aber dieser Meinung. Siebenundsiebzig Prozent der Befragten einer vom HR-Magazin durchgeführten Umfrage verwiesen auf die Kostspieligkeit eines solchen Bewerbungsprozesses (Stell dir das mal vor.)
Um das Machtgefälle beim Bewerbungsprozess auszugleichen, ist aber nicht unbedingt eine umfassende Strukturreform vonnöten. Für Tamara würde schon eine einfache Beschleunigung des Prozesses unermesslich helfen. (Laut einer Studie von Glassdoor dauert der Einstellungsprozess im Durchschnitt 23 Tage). „Ein langwieriges Bewerbungsverfahren kann sich negativ auf die Erfahrung von Bewerber:innen auswirken“, sagt sie. „Es kann dafür sorgen, dass sich die Einstellung potenzieller Kandidat:innen mit Hinblick auf das Unternehmen zum Negativen verändert oder sie eine andere Stelle annehmen.“

Ein guter erster Schritt in die richtige Richtung wäre es, veraltete und unangenehme Fragen aus dem Vorstellungsgespräch zu streichen und die Unterhaltung mehr zu einer „Kennenlern-Übung“ zu machen, bei der genügend Raum für Fragen vonseiten der Bewerber:innen bleibt – und nicht nur fünf Minuten zum Schluss, wenn die meisten schon am Ende ihrer Kräfte sind. Unternehmen sind mehr denn je darauf bedacht, qualifizierte Kandidat:innen an Land zu ziehen; jetzt ist es an der Zeit, eine Lanze für uns selbst zu brechen, mehr Fragen zu stellen und bessere Antworten zu erwarten.

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