Es leben rund 7,9 Millionen be_hinderte Menschen in Deutschland, aber angesichts der mangelnden Repräsentation in der Arbeitswelt und in den Medien, sind diese Menschen in unserer Gesellschaft kaum sichtbar. Dieses Problem besteht nicht nur in Deutschland. Auch in den USA, wo jede*r vierte Bürger*in eine Be_hinderung hat, scheinen die Stimmen nicht wahrgenommen zu werden. Mit der neuen Rubrik Voices of Disability macht Refinery29 diese Stimmen laut und die Menschen sichtbar. Wir zelebrieren die echten Storys – nicht die Stigmas und Stereotypen – dieser Community. Dieser Artikel gibt einen Einblick in das Leben und die Gedanken der Künstlerin Lindsay Adams.
be_hindert: Adjektiv. Infolge einer körperlichen, geistigen oder psychischen Schädigung beeinträchtigt.
WerbungWERBUNG
schwarz: Adjektiv. Von [sehr] dunkler Hautfarbe.
Frau, die: Substantiv. Erwachsene Person weiblichen Geschlechts.
(Quelle: Duden)
Mein Name ist Lindsay Adams. Ich bin ein be_hinderte, Schwarze Frau, eine Künstlerin, eine Strategin, eine Kämpferin und eine Freundin. Jetzt, da ich in meinen 30ern bin, kann ich so in ein Gespräch einsteigen. Mittlerweile fühle ich mich wohl in meiner Haut – und mit all den Herausforderungen und Eigenheiten, die zu meinem Leben gehören. Ich wertschätze mein Leben und sehe es als etwas sehr Kostbares an.
Mit der Zeit habe ich realisiert, dass meine Identität facettenreich und intersektional ist – die einzelnen Puzzleteile, die mich ausmachen, hängen alle zusammen und ich kann sie nicht voneinander trennen. Jedes Teil bringt seine eigenen Schwierigkeiten mit sich, aber das Gute gewinnt immer.
Durch meine Be_hinderung habe ich gelernt, wie stark und belastbar ich sein kann. Gleichzeitig erinnert sie mich daran, wie wichtig Freundlichkeit ist. Als Schwarze Frau habe ich gelernt, tapfer, fokussiert und mutig zu sein. Dieser Teil von mir hat mir die Liebe der Schwesternschaft und tiefgründige Beziehungen gebracht. Weil ich eine be_hinderte, Schwarze Frau bin, habe ich gelernt, geduldig und beharrlich zu sein. Es zwingt mich dazu, mir meine Hartnäckigkeit und meine Kraft zu Nutze zu machen – selbst in Zeiten, die besonders herausfordernd sind.
Ich leide seit meiner Geburt – ich kam zwei Monate zu früh auf die Welt und wog 1247 Gramm – an Zerebralparese (häufig abgekürzt mit “CP“, für Cerebralparese). Das ist keine Krankheit, sondern Symptome, die aufkommen, wenn in der Schwangerschaft, bei der Geburt oder kurz nach der Entbindung die Teile des Gehirns beschädigt werden, die für die Muskelbewegungen zuständig sind. Mit zunehmendem Alter können sich die Symptome verändern.
WerbungWERBUNG
Zwar ist CP ein Teil von mir, doch für andere ist es nicht direkt sichtbar. In meinem Fall sorgt es für eine semi-schwerwiegende Sprachbe_hinderung. Ich sage semi-schwerwiegend, weil es darauf ankommt, wen du fragst und wie viel Stress ich in dem Moment habe. An manchen Tagen, klingt meine Stimme glockenklar, an anderen ist es eine Herausforderung. Ich habe Probleme in Sachen Feinmotorik und selbst einfach scheinende Tätigkeiten, wie Schmuck anlegen und meine Haare frisieren, funktionieren nicht immer so gut (was sehr frustrierend sein kann, wenn du versuchst, einen Look zusammenzustellen). Ich habe Wege gefunden, mich anzupassen – hauptsächlich, weil ich es musste. Je älter ich wurde, desto mehr hab ich über meine besonderen Bedürfnisse und Herausforderungen gelernt. Aber als ich noch jünger war, tat ich alles dafür, meine Be_hinderung zu vertuschen. Ich dachte, sie wäre etwas, das ich verstecken könnte, aber dem war nicht so.
Ich war schlau, kreativ und sympathisch. Ich glaube ich habe erst realisiert, wie stark CP meine Lebensperspektive beeinflusst, als ich in der Schule ein Essays darüber schrieb. Ich dachte über all meine Stolperer, meine blauen Flecken und meine Stürze nach. Ich erinnerte mich daran, wie oft ich mich wiederholen oder Wörter buchstabieren musste, weil mich jemand nicht verstanden hatte. Mir wurde bewusst, welche Angst ich spürte, jedes Mal wenn ich mich in einer Situation befand, in der ich mich vorstellen oder etwas erzählen musste. Ich befürchtete, alle würden mich anstarren und sich fragen, warum ich so klang, wie ich klang. Heute weiß ich, das alles gehört zu mir.
WerbungWERBUNG
Obwohl ich CP schon mein ganzes Leben lang habe, sprach ich es erst mit Anfang 20 laut aus. Ich glaube, mir war gar nicht bewusst, dass ich das Thema beiseite geschoben hatte – bis ich mit Menschen sprach, die mich eigentlich gut kannten, aber trotzdem nicht von meiner Zerebralparese wussten.
Als ich nach dem Schulabschluss anfangen wollte, zu arbeiten, wusste ich nicht, welche Auswirkungen meine Be_hinderung auf meine berufliche Zukunft haben würde. Mir war nicht immer klar, welche Unterstützungen und Anpassungen ich brauchte. Ich begann, mich selbst zu entdecken und meine persönlichen Herausforderungen zu erkennen. Gleichzeitig wurde ich mir auch meiner Privilegien bewusst. Ich wusste, dass man mir meine Be_hinderung nicht ansieht. Ich konnte selbst entscheiden, ob ich meine CP aktiv thematisiere oder meine Probleme beim Sprechen einfach nur auf die Frühgeburt schiebe, wenn mich jemand darauf anspricht. Ich dachte, es würde die Dinge manchmal leichter machen, mich nicht immer erklären zu müssen. Doch dem war nicht so, wie ich schnell feststellen musste. Ich verletzte mich selbst, in dem ich Teile von mir nicht anerkannte. Ich setzte mich selbst unter Druck und trug viele innere Kämpfe aus, weil ich mir selbst nicht genug Raum gab, mein vollständiges und authentisches Ich zu sein. Ableismus, Ängste und Depressionen waren die Folge.
Ich weiß, dass ich niemandem eine Erklärung darüber schulde, warum ich so bin, wie ich bin. Aber ich empfinde es als befreiend, meine Geschichte zu teilen. Ich lerne so viel dabei und kann gleichzeitig andere ermutigen. Die Be_hinderung, die ich nie haben wollte, beschert mir Geschenke, die größer sind als alles, was ich mir je hätte vorstellen können. Meine be_hinderten Hände kreieren die mitreißendsten visuellen Geschichten. Meine Stimme, so dumpf sie auch klingen mag, erlaubt es mir, mich nicht nur für mich einzusetzen, sondern auch für die Community, von der ich ein Teil bin.
WerbungWERBUNG
Seit ich denken kann, ist die Kunst eine Form der Therapie für mich, eine Ausdrucksform, eine Konstante in meinem Leben. Immer, wenn ich mich missverstanden oder allein fühlte, habe ich mich an die Leinwand gesetzt. Es gibt nicht nur eine Art der Kommunikation; ich denke, ich kann mich durch verschiedene Medien effektiv ausdrücken. Ich fühlte mich schon sehr früh zum Malen und Zeichnen hingezogen und immer, wenn ich die Chance dazu hatte, ging ich einen Schritt weiter und probierte etwas Neues aus. In einigen meiner dunkelsten, einsamsten Momente, fand ich Trost in meinen Skizzenbüchern. Das war der Bereich meines Lebens, den ich komplett unter Kontrolle hatte.
Ich hatte Talent, arbeitete aber auch fleißig an mir. Kunst war immer ein wichtiger Bestandteil meines Lebens – auch, als ich beschloss, International Studies an der University of Richmond zu studieren. Ich belegte Kunst im Nebenfach und als ich ein Auslandssemester in Spanien absolvierte, hielt ich die Landschaften, die Menschen und meine Erfahrungen in meinen Skizzenbüchern fest. Als ich nach dem Studium im Bereich Consulting zu arbeiten begann, wurde mir schnell bewusst, wie sehr ich die Kunst immer noch brauchte.
Das Erwachsenenleben hat seine ganz eigenen Struggles mit sich gebracht – Rückschläge, Liebeskummer, Triumphe – und meine Kunst war immer an meiner Seite. Manchmal versuchte ich, der Kunst den Rücken zuzukehren und sie während einiger Phasen in meinem Leben zu ignorieren. Doch sie fand mich immer irgendwann wieder. Sie kümmert sich um mich, wie ich mich um sie kümmere. Meine Kunst ist ein Symbol des Friedens, aber auch des Protests. Sie erdet mich und richtet mich moralisch auf. Sie ist meine Stimme und mein Laster.
WerbungWERBUNG
Einige befreiende Momente begannen mit der Skizze einer Blume. Dass jemand wie ich, eine Person mit feinmotorischen Problemen, den Pinsel überhaupt so schwingen kann, ist pures Glück. Ich bin unglaublich dankbar, diese Gabe zu haben und sie mit anderen teilen zu können.
Die Dinge, die uns voneinander unterscheiden bringen uns näher zusammen. Sie geben uns Raum, zu lernen, zu wachsen und zu besseren Versionen unserer Selbst zu werden. Wenn ich mein jüngeres Ich treffen könnte, würde ich es umarmen und sagen: Es wird schwerer, bevor es leichter wird, eine Schwarze Frau zu sein. Als be_hinderte Schwarze Frau wirst du mit viel Mist konfrontiert werden. Bleib dir selbst treu, sei geduldig und nett zu dir selbst und zu anderen.
Mit der Zeit habe ich realisiert, wie jeder Aspekt meines Lebens mir letztendlich dabei geholfen hat, meine ganz eigene Definition zu kreieren:
Lindsay: Mensch. Komplex, vielseitig, fähig, anpassungsfähig, selten und begabt.
(Quelle: ich)
Auf ihrer Website Lindsay-Adams.com findest du weitere großartige Kunstwerke von Lindsay.
Voices of Disability wird von Kelly Dawson herausgegeben, einer Aktivistin für Rechte von Be_hinderten. Sie selbst wurde mit Zerebralparese geboren. Sie hat über ihre Be_hinderung in dem beliebten Podcast Call Your Girlfriend gesprochen und zu diesem Thema für Vox, AFAR, Gay Mag und andere geschrieben. Ihre Arbeit findest du auf kellymdawson.com.
WerbungWERBUNG